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ERÖFFNUNGSGOTTESDIENST DES "MEETINGS FÜR DIE FREUNDSCHAFT
UNTER DEN VÖLKERN" 2007 IN RIMINI

PREDIGT VON KARDINALSTAATSSEKRETÄR TARCISIO BERTONE

Rimini
Sonntag, 19. August 2007

 

Hochwürdigste Eminenz,
Hochwürdigste Exzellenz,
liebe Priester,
liebe Brüder und Schwestern!

Von Herzen danke ich für die Einladung, dieser Eucharistiefeier vorzustehen, mit der die diesjährige Veranstaltung des »Meetings für die Freundschaft unter den Völkern« eröffnet wird. Ich grüße herzlich die Förderer und Organisatoren des Meetings, die Verantwortlichen und Mitglieder von »Comunione e Liberazione«, die Autoritäten, die geladenen Gäste und alle Anwesenden. Mit Freude erfülle ich die angenehme Aufgabe, Ihnen den Segensgruß und die Glückwünsche des Heiligen Vaters Benedikt XVI. zu überbringen, der mich gebeten hat, Sie seiner geistlichen Nähe zu versichern, verbunden mit dem Wunsch für einen vollen Erfolg dieser wohlverdienten Initiative, die er gut kennt und seit langem wertschätzt.

Vor allem bei den letzten Treffen hat sich das Meeting in der Gewichtung verschiedener Perspektiven und Gesichtspunkte mit der Frage auseinandergesetzt über die Wirklichkeit des Menschen und der konstitutiven Dimensionen seiner Persönlichkeit, sowie seines Verlangens danach, das Glück zu erkennen und es zu erlangen. Das hat Sie in mehreren Anläufen zu einer vertieften Reflexion über all das geführt, was den Menschen an seine Bestimmung und an seine ununterdrückbare Begierde nach dem Unendlichen bindet. Bei der diesjährigen Veranstaltung betrifft die Grundfrage, die zu stellen Sie sich vorgenommen haben, die Wahrheit, wie es in dem besonders beredten Thema heißt, das gewählt wurde: »Die Wahrheit ist die Bestimmung, für die wir geschaffen sind

Der Durst nach Wahrheit bildet von jeher ein tiefes Streben und eine anspruchsvolle Herausforderung für jeden Menschen. Der Mensch ist nämlich von Natur aus »neugierig«, das heißt er neigt dazu, auf die vielen »Warum?« des Lebens Antwort zu geben, die Wahrheit zu suchen. Papst Johannes Paul II. seligen Angedenkens drückt sich diesbezüglich in seiner meisterhaften Enzyklika Fides et ratio so aus: »Der Mensch sucht von Natur aus nach der Wahrheit. Diese Suche ist nicht allein zur Aneignung von partiellen, faktischen oder wissenschaftlichen Wahrheiten bestimmt… Seine Suche strebt nach einer jenseitigen Wahrheit, die in der Lage sein soll, den Sinn des Lebens zu erklären; es handelt sich daher um eine Suche, die nur im Absoluten Antwort finden kann« (Nr. 33). Und kurz davor definiert er auf einfache, aber extrem wirksame Weise den Menschen als den, »der nach der Wahrheit sucht« (Nr. 28).

Im aktuellen soziokulturellen Kontext verliert leider die Wahrheit nicht selten ihren universalen Wert, um ein »relativer« Bezugspunkt zu werden. Tatsächlich wird der Begriff der Wahrheit oft mit dem der Meinung gleichgestellt und so notwendig in der Pluralform dekliniert: So gibt es dann viele Wahrheiten, das heißt viele voneinander oft abweichende Meinungen. Manchmal hat man den Eindruck, daß man in der Atmosphäre des Relativismus und des Skeptizismus, welche unsere Zivilisation durchdringt, sogar dazu kommt, ein radikales Mißtrauen zu proklamieren gegenüber der Möglichkeit, die Wahrheit zu erkennen. Ist es vielleicht nicht wahr, daß wir in dieser modernen Haltung gegenüber der Wahrheit auf eindringlichste Weise den ganzen hintergründigen Skeptizismus wahrnehmen, der in der beunruhigenden Frage des Pilatus vor Christus enthalten ist: »Was ist die Wahrheit?« (Joh 18,38).

In einem schönen, vor einigen Jahren geschriebenen Essay griff der damalige Kardinal Ratzinger auf ein erfolgreiches Buch des Schriftstellers und Philosophen C. S. Lewis zurück, Dienstanweisung für einen Unterteufel (The Screwtape Letters; 1942), in dem ein höherer Teufel – der Screwtape hieß – an seinen Neffen Wormwood 31 Briefe mit den Anweisungen richtet, wie man sich beim Werk der Verführung des Menschen zu verhalten habe – ein Buch, von dem ich weiß, daß es auch unter Ihnen sehr beliebt ist! Kardinal Ratzinger, sagte ich, merkt an, »wie unmodern es heute ist, nach der Wahrheit zu fragen. … Der kleine Dämon hatte seinem Vorgesetzten gegenüber Sorge darüber geäußert, daß gerade besonders intelligente Menschen die Weisheitsbücher der Alten läsen und damit auf die Spur der Wahrheit kommen könnten. Screwtape beruhigt ihn mit dem Hinweis, der historische Standpunkt, zu welchem die Gelehrten der westlichen Welt durch die höllischen Geister glücklicherweise überredet worden seien, bedeute eben dies, ›daß die einzige Frage, die man mit Sicherheit niemals stellen werde, die nach der Wahrheit des Gelesenen sei; stattdessen frage man nach Beeinflussungen und Abhängigkeiten, nach der Entwicklung des betreffenden Schriftstellers, nach seiner Wirkungsgeschichte und so fort‹ … Eine solcher Art betriebene Wissenschaftlichkeit wird zur Immunisierung gegenüber der Frage der Wahrheit« (Glaube – Wahrheit – Toleranz, Freiburg im Breisgau 2003, S. 149f.)

Dasselbe Thema aufnehmend, sagte Joseph Ratzinger, der nunmehr Benedikt XVI. geworden war, während einer Begegnung mit den Studenten der Lateranuniversität: »Wenn man nämlich die Frage nach der Wahrheit fallen läßt sowie die konkrete Möglichkeit für jeden Menschen, sie erreichen zu können, wird das Leben am Ende auf eine Reihe von Hypothesen ohne sichere Bezugspunkte reduziert« (Besuch der Päpstlichen Lateranuniversität, 21. Oktober 2006; O.R. dt. Nr. 44, 3.11.2006, S. 9). Nicht nur: in einer derartigen Perspektive wird das Leben, das jeglicher Sicherheiten beraubt ist, matt, sinnlos und ist letztlich jeder möglichen Form der Gewalt und des Machtmißbrauchs ausgesetzt, wie uns die Chronik aller Tage leider festzustellen zwingt.

Das Wort Gottes an diesem 20. Sonntag im Jahreskreis hilft uns, eine nützliche Betrachtung gerade dieser Thematiken anzustellen. Die Stelle der ersten Lesung aus dem Buch des Propheten Jeremias (38,4–6.8–10) erzählt von der Erfahrung dieses Propheten, der sich in Jerusalem während der Belagerung seitens der Babylonier aufhielt. Er sagt, daß es keine Möglichkeit des Widerstandes bis aufs äußerste gebe, da dieser nur zu schlimmeren Folgen führen könnte, und so rät er dazu, mit Nebukadnezzar zu verhandeln. Die Leute aber, und besonders ihre Anführer, sind nicht einverstanden, sie wollen einen Widerstand bis aufs äußerste und sind bereit, der Belagerung bis ins letzte standzuhalten. Im Gegenteil, sie sehen in Jeremias einen Defätisten und entfesseln ihren Zorn gegen ihn. König Zidkija wagt es nicht, sich den Anführern zu widersetzen, die entschlossen sind, über den Propheten eine sehr harte Strafe zu verhängen, und er läßt sie es tun. Jeremias wird also gefaßt und in eine Zisterne geworfen. In welch schreckliche und sogar paradoxe Situation ist doch der Prophet geraten! Er spricht im Namen Gottes, erleidet aber die Feindseligkeit der Seinen; es scheint sogar, als schütze ihn selbst der Herr nicht, als überlasse er ihn den Händen der Feinde.

Der Prophet verkündet keine bequeme Kompromißwahrheit, keine opportunistische Wahrheit, sondern die Wahrheit in ihrer Ganzheit, eine Wahrheit, die dem genauen Willen Gottes entspricht, auch wenn sie unbequem ist. Wer ihn hört, hört Gott, wer gegen ihn ist, stellt sich gegen Gott. Der in der Zisterne eingesperrte Jeremias läßt an Jesus denken, der für die Wahrheit Zeugnis geleistet hat und deshalb getötet werden und die Finsternis des Grabes kennenlernen wird, aber Christus wird so, wie der Prophet aus der Zisterne herausgezogen werden wird, vom Tode auferstehen und das Grab siegreich verlassen.

Wer dazu entschlossen ist, der Wahrheit zu dienen, wer Gott treu bleiben will, muß sich darauf vorbereiten, am eigenen Leib die Situation des Jeremias zu erfahren, dasselbe Schicksal Christi. Raimund von Peñafort schreibt: Wer voll und ganz in Christus leben will, erleidet Verfolgung. Wenn der Christ aber, so der Kommentar des hl. Gregor des Großen, von der wahren Weisheit erleuchtet ist, erschrickt er nicht über die Verlachungen und den ungerechten Tadel, denen er ausgesetzt ist, und Theodoret von Kyrrhos fügt hinzu, daß die Kraft, mit der Christus dem Tod entgegentrat, uns zum Anreiz gereichen soll, um mutig den Prüfungen des Lebens entgegenzutreten. Wenn es den Anschein hat, als hätte uns selbst Gott verlassen, so ist es gerade in diesem Moment notwendig, im Gebet zu verharren; und so machen wir uns die Anrufung des Antwortpsalms zu eigen und wiederholen voller Vertrauen: »O Gott, komm mir zu Hilfe, Herr, eile, mir zu helfen«, in der Sicherheit, erhört zu werden. Wie nämlich Gott dem Jeremias zu Hilfe eilte, indem er das Eingreifen des Ebed-Melech zu dessen Rettung veranlaßte, so wird er mit seiner vorsehenden Hilfe neben denen gegenwärtig werden, die leiden und aufgrund der Wahrheit und der Gerechtigkeit Ablehnung finden.

Auch der Abschnitt aus dem Evangelium, den wir soeben gehört haben, übergibt uns eine wichtige Botschaft: er fordert uns auf, nicht Kompromissen nachzugeben, wenn die Wahrheit unserer Beziehung zu Gott auf dem Spiel steht. Jesus sagt: »Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen? Nein, sage ich euch, nicht Frieden, sondern Spaltung« (Lk 12,51). Ist Jesus also gekommen, um das Feuer der Zwietracht unter den Menschen und sogar in den Familien zu entzünden? Wie aber ist das möglich, wenn Gott der Gott des Friedens und der Liebe ist, und wenn Christus unser Frieden ist (vgl. Eph 2,14)? Ist Jesus nicht am Kreuz gestorben, um in seinem Leib alle Feindschaften zu zerstören (vgl. Eph 2,14–18)? Und ist es nicht Er, der uns befohlen hat, sogar die Feinde zu lieben (vgl. Mt 5,44; Lk 6,27–35)? Wird sich sein Reich nicht ganz mit der Errichtung der Einheit und des Friedens verwirklichen (vgl. 1 Kor 15,28)? In Wirklichkeit stehen gerade die Verteidigung des Friedens, der Liebe, der Wahrheit und des Guten am Ursprung eines grenzenlosen Kampfes zwischen dem Allmächtigen und Satan, seinem wahren Gegner, dessen Ziel in der Zerstörung des Werkes Gottes und in der Abkehr des Menschen von seiner Freundschaft besteht. Seit den Anfängen der Menschheit, seit dem tragischen Ereignis der Ursünde ist Satan gegen Ihn und möchte Ihn – wäre es ihm möglich – sogar vernichten, um sein Reich des Chaos, des Hasses und des Unglückes zu errichten. Sein Ziel ist es, den Menschen an sich zu ziehen und ihn sich zu unterwerfen. Um das zu tun, muß er ihn auf alle erdenkliche Weise von Gott trennen.

Die Geschichte zeigt, daß von jeher leider viele Menschen dem Satan in die Netze gehen; sie machen sich vor, den Fortschritt zu erbauen und das Glück zu erreichen, indem sie den trügerischen Ratschlüssen des Bösen folgen, der den Menschen dazu drängt, sich selbst aus sich selbst heraus zu verwirklichen, unter Ausschluß Gottes oder gar gegen Gott. Das Ergebnis aber sind der Mißerfolg und die Verderbnis, das Unglück und der Tod. Jesus ist gekommen, die listige und geschickte Strategie des Teufels zu entlarven. Er hat allen Satan als den einzigen wahren Feind Gottes und des Menschen gezeigt und hat gegen ihn den großen Kampf des Heils entfacht. Das Feuer, das auf die Erde zu bringen er gekommen ist, ist somit das Feuer der Abspaltung vom Teufel; das Feuer der Wahrheit, das das wahre Gesicht Satans als des Vaters der Lüge erhellt; das Feuer, das klar das Gute vom Bösen, die Wahrheit vom Irrtum unterscheiden läßt. Ein Feuer mithin der »heiligen« Zwietracht, das einen jeden von uns in die Pflicht nimmt, Stellung zu beziehen, klar zu entscheiden, ob man mit Gott oder gegen Ihn ist. Die Wahrheit erkennen und wählen heißt mit Christus sein.

Die Wahrheit – wie das Thema des Meetings hervorhebt – ist die Bestimmung, für die wir geschaffen sind. Wie aktuell ist doch heute das Wort Christi, das wir immer in uns als ständige Provokation widerhallen hören: »Ich bin die Wahrheit« (Joh 14,6)! Christus ist der einzige, der die Wahrheit als Person verkörpern kann; Er ist die Person gewordene Wahrheit, die Mensch gewordene Wahrheit, und wer ihn sucht und ihm nachfolgt, verwirklicht voll sich selbst: »Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien« (Joh 8,31–32).

In der zitierten Enzyklika Fides et ratio schrieb Papst Johannes Paul II.: »Wer für die Wahrheit lebt, strebt nach einer Erkenntnisform, die immer mehr von Liebe zu dem entbrennt, was er erkennt« (Nr. 42). Und so fragen wir zusammen mit dem hl. Augustinus: »Quid fortius desiderat homo quam veritatem? – Was anderes kann der Mensch glühender ersehnen als die Wahrheit?« Die ganze Existenz des Menschen ist von dieser Frage durchzogen, die ihre volle Antwort in der Begegnung mit Christus findet.

Das Meeting möge unserer Gesellschaft helfen zu verstehen, daß »die Wahrheit die Bestimmung ist, für die wir geschaffen sind«. Maria, die »Mater veritatis«, erreiche es für uns, daß wir unermüdliche Sucher der Wahrheit sind, die Christus ist.

 

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