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KONGRESS DER "CHRISTLICHEN UNION DER UNTERNEHMER"(UCID)
IN TURIN AUS ANLASS IHRES 60-JÄHRIGEN BESTEHENS

ANSPRACHE VON KARDINAL TARCISIO BERTONE

Turin
Samstag, 6. Oktober 2007

"Verantwortung und Kreativität als Verpflichtung des Christen;
die Soziallehre der Kirche;
die Eingebung von Kardinal Siri bei der Gründung der UCID"

 

Meine Herren Kardinäle,
verehrte Obrigkeiten,
Herr Präsident
und liebe Freunde der UCID!

1. Ein Kongreß zu dringenden und aktuellen Thematiken

Dies ist nicht meine erste Begegnung mit euch, liebe Freunde der UCID. Ich kenne eure Tätigkeit sehr gut und danke euch für die Einladung – die ich sehr gerne angenommen habe –, einen Beitrag zu leisten zu diesem Kongreß, der sich einem Thema von dringender Aktualität widmet. Vielen Dank für euren freundlichen Willkommensgruß. Gestattet mir vor allem, euch alle sehr herzlich zu begrüßen. Zunächst begrüße ich den Erzbischof dieser Stadt, die den Kongreß beherbergt, Kardinal Severino Poletto, sowie den Erzbischof von Florenz, Kardinal Ennio Antonelli, den kirchlichen Assistenten der UCID. Mein Gruß gilt des weiteren den anwesenden Obrigkeiten und Persönlichkeiten, den Förderern und Veranstaltern des Kongresses, dem Präsidenten und den Mitgliedern eurer so tatkräftigen Christlichen Union der Unternehmer. 60 Jahre nach ihrer Gründung fragt sich die UCID, wie sie ihre Arbeit noch fruchtbarer machen und dabei stets ein konsequentes und prophetisches Zeugnis für das Evangelium geben kann. »Verantwortung und Kreativität als Verpflichtung des Christen; die Soziallehre der Kirche; die Eingebung von Kardinal Siri bei der Gründung der UCID«: Dieses Thema habt ihr mir anvertraut, und ich werde bei der Abhandlung auch auf meine persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen zurückgreifen, die aus früheren Begegnungen mit euch stammen, aus meiner Zeit als Erzbischof von Genua, der Stadt, deren Hirt der unvergeßliche Kardinal Siri war. Ich werde im folgenden noch Gelegenheit haben, auf diese große Gestalt der Kirche und der italienischen Gesellschaft zurückzukommen. Er war ein mutiger und erleuchteter Leiter des Gottesvolkes und hatte großen Anteil an der Gründung eures Verbandes.

2. Der Gruß des Heiligen Vaters

An diesem Punkt möchte ich gern den Gruß übermitteln, den Seine Heiligkeit Benedikt XVI. euch allen sendet, zusammen mit seiner Ermutigung, die Aktivitäten fortzusetzen, denen die UCID seit 60 Jahren innerhalb der weiten und komplexen italienischen Unternehmenslandschaft nachkommt. Ebenso wie bei der Audienz, die er euch am 4. März letzten Jahres gewährte, fordert er euch auch heute auf, »nach einer Ethik zu trachten, die über eine rein vom Pflichtbewußtsein bestimmte Berufsethik hinausgeht« (Ansprache an die italienische Christliche Union der Unternehmer, in O.R. dt., Nr. 12, 24.3.2007, S. 9). Diese Aufforderung des Papstes ist der Ausgangspunkt für meine Abschlußansprache, die auch von folgenden Worten aus dem ersten Punkt der Vorbemerkung des Berichtes der UCID für 2007 inspiriert ist: »Die ›Kultur des Angebots‹ ist die Ausdrucksebene desjenigen, der als Christ auf den Ruf Gottes antwortet (›Ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, daß ihr … Frucht bringt‹ (Joh 15,16), um im Leben den Glauben zu bezeugen«. Diese Worte zeigen, welche Auffassung und welches Bild ihr von eurer Arbeit habt. Eure unternehmerische Tätigkeit ist demnach ein Dienst, der zwar der Logik und den Gesetzen des Marktes, den Regeln des Profits und der Geschäftswelt folgt, der vor allem aber eine Antwort sein möchte auf den »Ruf« Christi, ihm zu folgen und seine wahren Jünger zu sein, indem ihr auf eure Weise am Schöpfungs- und Erlösungswerk Gottes mitwirkt. Für euch wiederum bedeutet dies, daß ihr ein starkes Verantwortungsbewußtsein und einen prophetischen und kreativen Geist ausbilden müßt.

3. Verantwortung und Kreativität

Die »Kultur des Angebots« ist eine Grundausrichtung, die das ganze Leben des Christen umfassen und leiten sollte. Wenn sie mit menschlicher und christlicher Reife bewußt angenommen wird, dann spornt diese Ausrichtung die Gläubigen dazu an, mit dem Schöpfer zusammenzuarbeiten, um auf die Erwartungen und Nöte der anderen zu antworten, auf verantwortungsbewußte und kreative Weise, durch Strukturen und Beiträge, die den verschiedenen Notwendigkeiten angepaßt sind. »Mein Vater ist noch immer am Werk, und auch ich bin am Werk« (Joh 5,17), gibt Jesus im Evangelium den Juden zur Antwort, die ihm Vorwürfe machten, weil er am Sabbat Wunder wirkte. Indem er dem Beispiel Christi folgt, hält jeder Christ in seinem Handeln stets das Bewußtsein aufrecht, dazu berufen zu sein, durch seine Arbeit an der Verwirklichung von Gottes Plan in der Welt mitzuwirken. Jeder von uns ist ein lebenswichtiger Teil eines lebendigen Organismus, der von der Liebe genährt wird, die den Vater dazu bewegt hat, seinen eingeborenen Sohn am Kreuz zu opfern, damit auch wir uns in der Liebe verwirklichen, die unsere totale Selbsthingabe an ihn und großherziger Dienst am Nächsten ist. Diese evangeliumsgemäße Haltung, die die ganze Existenz des Christen erhellen sollte, wird durch Handlungsentscheidungen in den verschiedenen Bereichen der menschlichen Tätigkeit umgesetzt. Dann betrachtet man – und so sollte es sein – die Errungenschaften der Forschung, die Fortschritte der Technik und die Erkenntnisse des menschlichen Geistes als Ergebnis eines geheimnisvollen und äußerst fruchtbaren Zusammenwirkens zwischen Gott, der immer am Werk ist, und dem fügsamen Menschen, seinem treuen Mitarbeiter. Der Glaube hilft uns, in diesem Bewußtsein zu wachsen; er macht uns einfühlsam gegenüber den Nöten der anderen und erlaubt es uns, ihnen verantwortungsbewußt und kreativ entgegenzukommen. In diesem Zusammenhang sagt das Zweite Vatikanische Konzil in der pastoralen Konstitution Gaudium et spes: »Den Christen liegt es deshalb fern, zu glauben, daß die von des Menschen Geist und Kraft geschaffenen Werke einen Gegensatz zu Gottes Macht bilden oder daß das mit Vernunft begabte Geschöpf sozusagen als Rivale dem Schöpfer gegenübertrete. Im Gegenteil, sie sind überzeugt, daß die Siege der Menschheit ein Zeichen der Größe Gottes und die Frucht seines unergründlichen Ratschlusses sind. Je mehr aber die Macht der Menschen wächst, desto mehr weitet sich ihre Verantwortung, sowohl die der Einzelnen wie die der Gemeinschaften«. Weiter sagt der Konzilstext, »daß die christliche Botschaft die Menschen nicht vom Aufbau der Welt ablenkt noch zur Vernachlässigung des Wohls ihrer Mitmenschen hintreibt, sondern sie vielmehr strenger zur Bewältigung dieser Aufgaben verpflichtet«.(1)

4. Die Soziallehre der Kirche

Die Kirche hat in ihrer Lehre stets hervorgehoben, daß der Mensch durch seine Arbeit nicht nur am Schöpfungswerk, sondern auch an der Erlösung der Welt teilhat. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Arbeit als Mittel zur Heiligung und zur Beseelung der irdischen Gegebenheiten gelebt und verstanden,(2) Ausdruck der vollen Menschlichkeit des Menschen. Durch sein freies und verantwortliches Handeln macht der Mensch die enge Beziehung sichtbar, die ihn an den Schöpfer bindet. Diese anthropologische Sichtweise, die von der Soziallehre der Kirche vorgeschlagen wird, öffnet einen neuen Sinnhorizont, der auf einem Verständnis der ganzen Wahrheit des Menschen aufbaut. Sie ist also die Anthropologie des von Gott, dem Schöpfer und Vater, geliebten Geschöpfes.

Eben deshalb kann die Kirche nicht schweigen, wenn vermassende und verkürzende Menschenbilder und die Verhaltensweisen, die sich an ihnen orientieren, die Wahrheit über den Menschen verdunkeln und mit ihr in Konflikt geraten. Die Kirche hütet diese Wahrheit als kostbaren Schatz, der ihr von Christus selbst anvertraut wurde. Die Soziallehre der Kirche macht in unserer heutigen Zeit das Bewußtsein um die Sendung der Kirche deutlich, die »in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« ist.(3)

Die offenkundige Instabilität und die alltäglichen Grenzen der Existenz entbinden den Menschen nicht von der ständigen Verpflichtung zur Arbeit, denn die Arbeit ist ein wesentlicher Teil seines irdischen Daseins. Und die Heilige Schrift erinnert mehrmals daran, daß der Christ, der einer brüderlichen Gemeinschaft angehört, deren Kennzeichen das hohe Gebot der Nächstenliebe ist, sich nicht berechtigt fühlen kann, nicht zu arbeiten und auf Kosten der anderen zu leben (2 Thess 3,6–12). Vielmehr ist jeder aufgerufen, es als eine Ehre und als eine sittliche Pflicht zu betrachten, sich durch seiner Hände Arbeit den rechtmäßigen Unterhalt zu verdienen, wie der Apostel Paulus die Thessalonicher ermahnt (vgl. 1 Thess 4,11–12), und auch materielle Solidarität zu üben gegenüber denjenigen, denen das zum Leben Notwendige fehlt und die sich in großer Not befinden.

Die Kirchenväter haben immer wieder hervorgehoben, daß der Mensch durch die Arbeit mit Gott zusammenwirkt in der Führung der Welt; gleichzeitig rufen sie in Erinnerung, wie sehr die menschliche Tätigkeit dem Leib und dem Geist nützt und wie negativ sich dagegen der Müßiggang auf das menschliche Sein auswirkt. Jeder Mensch ist also aufgerufen zu arbeiten, nicht nur, um sich Nahrung zu beschaffen, sondern auch, um sich um die Nöte der Armen zu kümmern. Der hl. Ambrosius sagt: »Jeder Arbeiter ist die Hand Christi, die weiter schöpft und Gutes tut«. (4)

Die konkreten Formen, in denen die menschliche Arbeit zum Ausdruck kommt, unterliegen Veränderungen. Nicht ändern dagegen können sich ihre bleibenden Anforderungen, die sich zusammenfassen lassen in den unveräußerlichen Rechten des Menschen auf Arbeit und in den Rechten des arbeitenden Menschen. Je einschneidender die Veränderungen sind, desto entschiedener müssen Intelligenz und Wille eingesetzt werden, um das Recht auf Arbeit, besonders das der jungen Menschen (man beachte hierzu die jüngsten Statistiken), und die Würde der Arbeit zu schützen, indem man die entsprechenden Einrichtungen auf den verschiedenen Ebenen stärkt.

5. Dringende und wichtige Verpflichtungen

Von seiten jeder christlichen Gemeinschaft ist heute eine verantwortungsbewußte Übernahme einiger Verpflichtungen notwendig. In erster Linie muß ein angemessener Bewußtwerdungsprozeß in bezug auf die Folgen stattfinden, die mit den gegenwärtigen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen verbunden sind. Die Zeit der Schwierigkeiten und der Unsicherheit, die auch Italien durchmacht, kann unter diesem Gesichtspunkt den Katholiken Gelegenheit zu einem neuen Aufschwung geben, wenn sie sich auf kultureller Ebene stärker rüsten und so den Reichtum der Soziallehre der Kirche sowohl im nationalen als auch im lokalen Kontext besser erschließen. Notwendiger denn je ist auch eine kulturelle Herangehensweise, die von einer entsprechenden Kritikfähigkeit getragen wird. Sie ist die wesentliche Voraussetzung, um der Erziehungs- und Bildungsarbeit Weite zu verleihen. Diese Arbeit zeichnete schon immer die italienische Kirche in ihren verschiedenen Realitäten aus, und in der heutigen Zeit läßt sich ihre ganze dringende Notwendigkeit wahrnehmen. Drittens wird der Nutzen immer deutlicher ersichtlich, den die Aneignung einer wettbewerbs- und marktfähigen Kompetenz und Professionalität durch das katholische Volontariat mit sich bringt, sowie die gemeinschaftliche Unterstützung unserer No- Profit-Unternehmen, die in verschiedenen Formen zum Ausdruck kommen kann. Das gemeinsame und konsequente Handeln der Katholiken auf politischer Ebene, unter dem Gesichtspunkt des Wachstums der Ethik der Verantwortlichkeit und der Wiedererlangung der sozialen Moralität, ist eine der wesentlichen Voraussetzungen, um die nationale Identität zu stärken und in unserem Land eine ganzheitliche und daher im europäischen und im globalen Kontext bedeutsame und wichtige Wirtschaftsentwicklung zu fördern.(5) Angesichts der Industriegesellschaften, die manchmal die sittlichen Werte aufgeben oder vergessen, ohne dabei in der Lage zu sein, sie zu ersetzen, obgleich sie sie für ihr eigenes Überleben brauchen, kann die Kirche nicht schweigen. Und jeder einzelne Christ, der im bürgerlichen und wirtschaftlichen Leben tätig ist, hat die Pflicht, die Sendung zu erfüllen, die ihm aus dem Evangelium erwächst, indem er sich aktiv mit Hilfe der Gnade Gottes an der Festigung der Grundwerte der Solidarität, der Verantwortlichkeit und der Unentgeltlichkeit im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kontext beteiligt.

6. Die Eingebung von Kardinal Siri bei der Gründung der UCID

An diesem Punkt ist es angebracht, einige Worte zur Person und zum Werk des Initiators der wichtigen Erfahrung zu sagen, durch die die UCID ins Leben gerufen wurde: zu Kardinal Giuseppe Siri, meinem verehrten Vorgänger in der Leitung der Erzdiözese Genua. Die Soziallehre dieses berühmten Purpurträgers füllt zwei dicke Bände der Gesamtausgabe seiner Werke. Sie enthalten unter anderem drei Pastoralbriefe, zwölf Ansprachen an die Nationalkongresse der UCID und 16 Vorträge über soziale Thematiken. Seine pastorale Aufmerksamkeit gegenüber den sozialen Problemen war konstant auf die Verwirklichung eines Zieles hin ausgerichtet, dem er alles andere unterordnete: die Evangelisierung der Welt der Arbeit durch die Katechese. Dieses Ziel trat in den Sozialjahren 1978–79 und 1979–80 an erste Stelle. Der Pastoralplan der Diözese war damals: »Die Katechese für die Welt der Arbeit.« Er wurde im Pastoralbrief, der genau diesen Titel trägt, dargelegt.(6) Der Purpurträger definierte die Welt der Arbeit hier als »die Gesamtheit der Arbeiter und der sie umgebenden Denkweisen, Reaktionen und Formen der Wahrnehmung und der Beurteilung«.(7) Im selben Dokument bezeichnete er den Arbeiter als »denjenigen, der seine physischen und geistigen Kräfte tätig einsetzt, um für seinen Lebensunterhalt und eventuell den seiner Familie zu sorgen«.(8)

Kardinal Siri maß der Ausbildung in der Welt der Arbeit eine so große Bedeutung zu, daß er selbst sich persönlich für die Gründung der UCID in Genua und für ihre nationale Beratung einsetzte. Es ist daher angebracht, im Rahmen dieser Veranstaltung zum Gedenken an den 60. Jahrestag ihrer Gründung die Anfänge noch einmal in Erinnerung zu rufen.

Die Idee zu diesem verdienstvollen Verband entstand noch vor dem Ende des letzten Krieges und reifte nach und nach heran, als man sah, welche Schrecken das Ende des Zweiten Weltkrieges mit sich brachte. Der damalige Msgr. Siri, der bereits 1943 von Kardinal Boetto beauftragt worden war, den Klerus von Genua auf die bevorstehende Notlage vorzubereiten, wurde im Mai 1944 zum Bischof ernannt und begann schon 1945, einige Unternehmer zu einem Verband zusammenzuschließen. Anlaß dazu war seine Überzeugung, daß »für eine Lösung und einen gerechten Ausgleich in der sozialen Frage die Führungsschicht dazu gebracht werden müsse, in christlichen und sittlichen Begriffen zu denken «. Er sagte: »Wir wußten sehr wohl: Um den Arbeitern das Leben zu erleichtern, mußte man unter anderem diejenigen, die leitende Positionen innehatten, ernstlich zum Nachdenken bringen. Ich hatte stets das Vorbild Scipios vor Augen, des größten Feldherrn der Geschichte. Um Rom zu befreien, als Hannibal vor den Toren stand, bestand er darauf, daß man den Ort der Handlung nach Karthago verlegen müsse. Seine Kühnheit grenzte an Unglaubwürdigkeit, aber der große Römer führte den Plan durch und setzte für immer einen Schlußstrich unter die karthagische Frage.« Für den jungen Bischof Siri war klar: »Ohne ein festgefügtes soziales Bewußtsein zu schaffen – und das kann man sich, so meine ich, außerhalb der christlichen Erleuchtung nicht erhoffen –, ohne dabei natürlich den Rest zu vernachlässigen, konnte man sich nicht um die Unternehmer kümmern«. Später schrieb er: »Die Förderung der UCID hat mir endlose Unannehmlichkeiten eingebracht. Ich wurde verleumdet, beleidigt, verachtet, als Arbeiterfeind bezeichnet; ich habe mich nie dagegen gewehrt, mich nie verteidigt… Die Wahrheit war, daß wir aus Liebe zu denjenigen handelten, die in sehr bescheidenen und unsicheren Verhältnissen lebten, die litten und warteten: nicht Demagogie, sondern Realität.«(9)

Kardinal Siri wollte, daß dieser Verband »eine klare und deutliche christliche Ausrichtung, eine festgefügte christliche Lehre auch im sozialen Bereich«(10) besitzen sollte. Und später stellte er fest, daß es ein Verdienst der UCID war, »wenn nach und nach ein sozialer Diskurs üblich wurde und sich durchsetzte, der zurückgeführt werden konnte in das Licht eines christlichen Ideals und einer christlichen Moral«. Für diesen erleuchteten Diener Gottes und der Kirche sollte die UCID »einen Geist, eine Denkweise, einen Glauben schaffen«. Und im Jahre 1977, 30 Jahre nach ihrer Gründung, schrieb er: »Viele Schwierigkeiten haben sich beinahe von selbst gelöst, die Luft wurde plötzlich reiner: einfach nur durch die Anwesenheit der UCID«. Und weiter: »Seit beinahe 30 Jahren bin ich Zeuge des Lebens in dieser Stadt. Niemals ist in dieser Zeit die kirchliche Autorität in Konflikt geraten mit den rechtmäßigen Obrigkeiten, und so hat sich stets eine Atmosphäre friedlichen Einvernehmens erhalten. Ich habe gespürt, daß Gründe dafür auch in der Anwesenheit der UCID zu suchen sind, worüber ich mich freue.«(11)

In Kardinal Siris Denken und seinen Ansichten zur sozialen Wirklichkeit gibt es keinen Zweifel: Wenn man die Wahl hat zwischen dem Menschen und den Dingen, muß man den Menschen retten. Daher analysierte er die komplexen sozialen und wirtschaftlichen Probleme seiner Zeit stets mit der festen Absicht, in ihnen die positiven und die widersprüchlichen Beweggründe des menschlichen Handelns zu erfassen, um den wahren zivilen Fortschritt, den Produktionseinsatz und die Verteilungskriterien nach klaren ethischen und moralischen Grundsätzen auszurichten. Er stellte den Menschen und seine Rechte in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit und nahm so ein Thema voraus, das dem Denken und der Verkündigung des Dieners Gottes Johannes Paul II. bereits in seiner ersten Enzyklika Redemptor hominis sehr am Herzen lag. Der Papst schrieb: »Auf dieser Straße, die von Christus zum Menschen führt … darf die Kirche sich von niemandem aufhalten lassen.«(12)

7. Schluß

Ein Abschnitt aus den Schriften von Kardinal Siri kann, so meine ich, als Zusammenfassung und Abschluß des bisher Gesagten und auch eurer Begegnung dienen. Er schreibt: »Da der unmittelbare Ausgangspunkt der christlichen Soziallehre die Achtung der Person ist, die erlöst wurde durch das Blut des Gottmenschen, bleibt sie ihrem Wesen nach menschlich. Darauf richtet sie ihre besondere Aufmerksamkeit. Sie weiß, daß der Mensch nicht nur Brot braucht, und deshalb kann sie ihm keine Dinge opfern, die größer sind als das Brot, damit er nur dieses hat. Die Freiheit und die Würde und die Möglichkeit, auf allen Ebenen unbegrenzt zu handeln und zu produzieren, ist ihm kostbar – nicht weniger kostbar als das Brot und vielleicht noch kostbarer als das Brot. Der Irrtum anderer Auffassungen besteht darin, daß sie Lösungen anbieten, die nicht menschlich sind, weil sie etwas vergessen, das im Menschen unbedingt gerettet werden muß. Wir wissen sehr gut: Wenn alle in ein System hineingepreßt werden, das die Menschen militärisch in Reih und Glied stellt, wird mehr produziert und werden schwere Probleme anfangs schneller gelöst. Aber in einem solchen System wird dem Menschen Gewalt angetan. Dann verzagt er, wird träge, unproduktiv und schließlich erschreckend passiv. An diesem Punkt ist es so als hätte er nichts getan und hätte seine Zeit verloren«.

Abschließend sagt Kardinal Siri: »Der Mensch, die Tatsache, daß er das Gesicht des Vaters und der Mutter, der Familie, der Weisheit und der Ehrlichkeit hat, erweckt bei einigen den Eindruck, daß die christliche Soziallehre langsamer sei. Sicher ist es einfacher, zehn Photographien mit auf die Reise zu nehmen als zehn Kinder. Würde man sich jedoch anmaßen, zehn Kinder ebenso leichtfertig mitzunehmen wie zehn Papierbilder, dann kann man sich vorstellen, was mit den Kindern geschähe und wie viele von ihnen unter die Räder kämen. Hier liegt der Unterschied: Wenn man menschlich vorgeht, kommt man an; wenn man unmenschlich vorgeht, glaubt man, voranzukommen, geht aber in Wirklichkeit rückwärts.«(13)

Die Erinnerung an Kardinal Siri ebenso wie seine Schriften mögen für euch, liebe Freunde, auch weiterhin ein klarer Bezugspunkt bleiben. Meinerseits wünsche ich, daß die UCID ihre Sendung in der Kirche und in der Gesellschaft mit derselben Begeisterung und demselben Mut fortsetzen möge, mit denen sie die ersten Schritte getan hat. Das Studium der Soziallehre der Kirche, die Aufmerksamkeit gegenüber den Veränderungen, die das soziale, politische und wirtschaftliche Leben Italiens und der Welt prägen, und vor allem die Treue zu Christus und zu seiner ewigen Botschaft der Wahrheit und der Liebe sind das unverzichtbare Gut, um auch den Herausforderungen unserer Zeit begegnen zu können. Die Eucharistiefeier, zu der wir uns gleich in der Kathedrale versammeln werden, wird ein günstiger Augenblick sein, um dem Herrn eure Zukunftspläne darzubieten und ihn um das Licht und die Hilfe zu bitten, um sie zur Erfüllung zu bringen. Mit Gottes Hilfe ist dem Menschen nichts unmöglich!
 


Anmerkungen

1) Nr. 34.

2) Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens, 27, in: AAS 73 (1981), 644–647.

3) Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution Lumen gentium, 1.

4) Ambrosius, De obitu Valentiniani consolatio, 62: PL 16, 1438.

5) Vgl. Atti della XLII Settimana Sociale dei Cattolici Italiani su »identità nazionale, democrazia e bene comune«, 28 settembre – 2 ottrobre 1993.

6) La catechesi per il mondo del lavoro, 25. September 1978, 230–235.

7) Ebd., 230.

8) Ebd.

9) La strada passa per Cristo, I, 236.

10) Ebd., 329–330.

11) Ebd., 330.

12) Nr. 13.

13) La strada passa per Cristo, I, 72–73.

      

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