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ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
AN FRAU CHITRA NARAYANAN,
NEUE BOTSCHAFTERIN INDIENS BEIM HL. STUHL*


Freitag, 29. Mai 2009

 

Frau Botschafterin!

Ich freue mich, Sie heute willkommen zu heißen und das Beglaubigungsschreiben entgegenzunehmen, durch das Sie als außerordentliche und bevollmächtigte Botschafterin der Republik Indien beim Heiligen Stuhl akkreditiert werden. Ich danke Ihnen für die freundlichen Worte, die Sie in Ihrem eigenen Namen und auch von seiten der Regierung an mich gerichtet haben, und möchte Sie bitten, Ihrer Exzellenz, Frau Staatspräsidentin Pratibha Patil, sowie dem wiedergewählten Premierminister, Seiner Exzellenz Herrn Manmohan Singh, auch meinerseits einen ehrerbietigen Gruß zu übermitteln und sie meines Gebets für ihr Wohlergehen und für das des ganzen indischen Volkes zu versichern.

Indien ist ein Land, in dem die antike Weisheit reiche Frucht trägt. Sein Volk, in dem viele verschiedene Religionen und Kulturen vertreten sind, ist empfänglich dafür, daß Selbsterkenntnis, Integrität und einträchtiges Zusammenleben mit dem Nächsten für das allgemeine persönliche und soziale Wohlergehen notwendig sind. Die immense Vielfalt in Ihrem Land öffnet eine Reihe von Möglichkeiten für den Dialog zwischen Philosophien und religiösen Traditionen, die darauf bedacht sind, den tiefsten Fragen des Lebens nachzugehen. Die Pflege dieses Dialogs bereichert nicht nur Ihre eigene Nation, sondern dient auch anderen Nationen in ganz Asien, ja in der ganzen Welt als Vorbild.

Trotz der finanziellen Schwierigkeiten, denen die ganze Weltgemeinschaft zur Zeit gegenübersteht, hat Indien in den letzten Jahren beachtliche wirtschaftliche Fortschritte gemacht. Fleiß, menschlicher Einfallsreichtum und Weitblick haben zum Wachstum Ihres Landes beigetragen und waren für andere Nationen eine Quelle der Inspiration. Größerer Wohlstand erfordert erhöhte Wachsamkeit, um die Armen sicher zu schützen vor der Ausbeutung durch ungehemmte Wirtschaftsmechanismen, aus denen oft nur eine kleine Elite Nutzen zieht. Das ist der Beweggrund für das ehrgeizige Projekt Ihres Landes, Arbeitsplätze auf dem Land zu schaffen. Es wurde entwickelt, um den Benachteiligten – besonders der armen Landbevölkerung – zu helfen, durch Beteiligung an Bauvorhaben und anderen kooperativen Maßnahmen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Solche Projekte zeigen, daß Arbeit niemals nur ein reines Erzeugnis ist, sondern eine spezifisch menschliche Aktivität. Die Projekte müssen daher so umgesetzt werden, daß die Menschenwürde gewahrt bleibt und jegliche Versuchung in Form von Begünstigungen, Bestechlichkeit oder Betrug zurückgewiesen wird.
Das Subsidiaritätsprinzip ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Eine Gesellschaft, die hierarchisch tiefer stehenden Gemeinschaften erlaubt, ihren eigenen Aktivitäten nachzugehen, ermutigt die Bürger, sich aktiv am Aufbau des Gemeinwohls zu beteiligen, indem sie sich in den Dienst der anderen stellen und sich zu einer gerechten und friedlichen Lösung von Konflikten verpflichtet.

Die Subsidiarität setzt individuelle Verantwortung voraus und fördert sie, da sie alle Glieder der Gesellschaft ermahnt, nach dem Wohl anderer wie nach ihrem eigenen Wohl zu streben. Bürokratische Strukturen sind zwar notwendig, man sollte jedoch stets im Auge behalten, daß die verschiedenen Regierungsebenen – die nationale, die regionale und die lokale Ebene – auf den Dienst an den Bürgern ausgerichtet sind und daß auch sie selbst von den Bürgern verwaltet werden.

Demokratische Regierungssysteme müssen durch umfassende soziale Beteiligung kontrolliert werden. Indien, das vor kurzem eine wichtige nationale Wahlrunde hinter sich gebracht hat, hat der Welt gezeigt, daß dieser entscheidende demokratische Prozeß nicht nur möglich ist, sondern in einer geordneten und friedlichen Atmosphäre vonstatten gehen kann. Die Neugewählten stehen jetzt den Herausforderungen gegenüber, die vor ihnen liegen, und ich bin zuversichtlich, daß stets ein Geist geduldiger Zusammenarbeit herrschen wird, der sie unterstützt in ihrer schwerwiegenden Verantwortung, Gesetze zu entwerfen und sozialpolitische Entscheidungen herbeizuführen. Mögen sie bereit sein, Teilinteressen unterzuordnen, indem sie sie in den größeren Kontext des Gemeinwohls hineinstellen, das eine der wesentlichen und unverzichtbaren Zielsetzungen der politischen Autorität darstellt (vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 409).

Frau Botschafterin, als oberster Hirte der katholischen Kirche schließe ich mich den Religionsführern und Regierungsträgern in der ganzen Welt an, die den gemeinsamen Wunsch haben, daß alle Mitglieder der Menschheitsfamilie die Freiheit genießen mögen, ihre Religion auszuüben und sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, ohne Angst vor negativen Auswirkungen wegen ihres Glaubens. Ich muß daher meine tiefe Besorgnis zum Ausdruck bringen um die Christen, die in einigen Gegenden Ihres Landes unter Gewaltausbrüchen leiden mußten. Heute habe ich Gelegenheit, meinen Dank auszusprechen für die Bemühungen Ihres Landes, den Betroffenen Schutz und Beistand, Hilfe und Heilung zu geben, und ebenso für die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um strafrechtliche Untersuchungen und faire Gerichtsverhandlungen zur Lösung dieser Probleme durchzuführen. Ich appelliere an alle, die Menschenwürde zu achten, indem sie Haß ablehnen und auf jede Form von Gewalt verzichten.

Die katholische Kirche in Ihrem Land wird ihrerseits auch weiterhin eine Rolle spielen in der Förderung von Frieden, Eintracht und Versöhnung zwischen den Anhängern aller Religionen, insbesondere durch Erziehung und Bildung in den Tugenden der Gerechtigkeit, der Toleranz und der Liebe. In der Tat ist dies das Ziel jeder wahren Form von Erziehung, denn diese ist – der Würde der menschlichen Person entsprechend und in Übereinstimmung der Berufung aller Männer und Frauen zu einem Leben in Gemeinschaft – darauf angelegt, sittliche Tugenden zu fördern und junge Menschen auf die Übernahme ihrer sozialen Verantwortung vorzubereiten, mit einem feinen Gespür für das Gute, das Gerechte und das Edle.

Frau Botschafterin, während Sie Ihre Verantwortungen innerhalb der beim Heiligen Stuhl akkreditierten diplomatischen Gemeinschaft übernehmen, entbiete ich Ihnen meine guten Wünsche für die erfolgreiche Erfüllung Ihrer hohen Mission. Ich versichere Ihnen, daß die verschiedenen Dikasterien und Ämter der Römischen Kurie stets bereit sein werden, Ihnen beizustehen. Auf Sie und das geliebte Volk von Indien rufe ich den überreichen göttlichen Segen herab.


*L'Osservatore Romano n. 25 p.10, 11.

 

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