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ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
BEIM WEIHNACHTSEMPFANG FÜR DAS KARDINALSKOLLEGIUM UND DIE MITGLIEDER DER RÖMISCHEN KURIE
SOWIE DES GOVERNATORATS

"Sala Regia", Apostolischer Palast
Montag
, 20. Dezember 2010

 

 

Meine Herrn Kardinäle,
verehrte Mitbrüder im bischöflichen und priesterlichen Dienst,
liebe Brüder und Schwestern!

Mit großer Freude komme ich zu dieser traditionellen Begegnung mit Ihnen, liebe Mitglieder des Kardinalskollegiums und Vertreter der Römischen Kurie und des Governatorats. Von Herzen begrüße ich jeden einzelnen, angefangen bei Kardinal Angelo Sodano, dem ich für die Worte der Ergebenheit und der Verbundenheit sowie für die freundlichen Glückwünsche danke, die er im Namen aller an mich gerichtet hat. Prope est jam Dominus, venite, adoremus! Wie eine einzige Familie betrachten wir das Geheimnis des Immanuel, des Gott-mit-uns, wie der Kardinal Dekan gesagt hat. Gerne erwidere ich die Glückwünsche und möchte allen, einschließlich der Vertreter des Heiligen Stuhls in aller Welt, aufrichtig danken für den kompetenten und großherzigen Beitrag, den ein jeder für den Vicarius Christi und für die Kirche leistet.

Excita, Domine, potentiam tuam, et veni” – so und mit ähnlichen Worten betet die Liturgie der Kirche wiederholt in den Tagen des Advents. Es sind Gebete, die wohl in der Zeit des untergehenden Römischen Reiches formuliert worden sind. Die Auflösung der tragenden Ordnungen des Rechts und der moralischen Grundhaltungen, die ihnen Kraft gaben, ließ die Dämme zerbrechen, die bisher das friedliche Miteinander der Menschen geschützt hatten. Eine Welt war im Untergang begriffen. Häufige Naturkatastrophen verstärkten noch diese Erfahrung der Ungeborgenheit. Es war keine Macht in Sicht, die dem hätte Einhalt gebieten können. Um so dringender war der Ruf nach Gottes eigener Macht: daß er komme und die Menschen gegen all diese Drohungen schütze.

Excita, Domine, potentiam tuam, et veni.” Auch heute haben wir vielfältigen Anlaß, in dieses adventliche Beten der Kirche einzustimmen. Die Welt ist mit all ihren neuen Hoffnungen und Möglichkeiten doch zugleich bedrängt von dem Gefühl, daß der moralische Konsens zerfällt, ohne den die rechtlichen und politischen Strukturen nicht funktionieren, so daß die Kräfte, die zu ihrer Verteidigung aufgeboten werden, zum Mißerfolg verurteilt scheinen.

Excita – das Gebet erinnert an den Ruf zum Herrn, der im sturmgeschüttelten und dem Untergang nahen Boot der Jünger schlief. Als sein Machtwort den Sturm gestillt hatte, tadelte er die Jünger, daß sie so wenig Glauben hatten (Mt 8, 26 par.). Er wollte sagen: In euch selbst hat der Glaube geschlafen. Dasselbe wird er auch zu uns sagen. Auch in uns schläft der Glaube so oft. So bitten wir ihn, daß er uns aus dem Schlaf eines müde gewordenen Glaubens aufwecke und dem Glauben wieder Macht gebe, Berge zu versetzen – das heißt den Dingen der Welt ihre rechte Ordnung zu geben.

Excita, Domine, potentiam tuam, et veni”: Dieses Adventsgebet ist mir in den großen Bedrängnissen, denen wir im vergangenen Jahr ausgesetzt waren, immer wieder in die Gedanken und auf die Lippen gekommen. Wir hatten mit großer Freude das Jahr des Priestertums begonnen, und wir durften es auch gottlob mit großer Dankbarkeit beenden, obwohl es so ganz anders verlaufen ist, als wir erwartet hatten. Es ist uns Priestern und den Laien, gerade auch jungen Menschen, wieder bewußt geworden, welches Geschenk das Priestertum der katholischen Kirche darstellt, das uns vom Herrn anvertraut worden ist. So ist uns wieder bewußt geworden, wie schön es ist, daß Menschen im Namen Gottes und mit Vollmacht das Wort der Vergebung aussprechen dürfen und so die Welt, das Leben ändern können. Wie schön es ist, daß Menschen das Wort der Verwandlung sprechen dürfen, mit dem der Herr ein Stück Welt in sich hineinzieht und sie so an einer Stelle in ihrer Substanz umwandelt. Wie schön es ist, Menschen vom Herrn her in ihren Freuden und Leiden, in den großen wie in den dunklen Stunden des Lebens beistehen zu dürfen. Wie schön es ist, im Leben nicht dies oder jenes zum Auftrag zu haben, sondern einfach das Menschsein selbst – das Helfen dazu, daß es auf Gott hin offen werde und von Gott her gelebt. Um so mehr waren wir erschüttert, gerade in diesem Jahr in einem Umfang, den wir uns nicht hatten vorstellen können, Fälle von Mißbrauch Minderjähriger durch Priester kennenzulernen, die das Sakrament in sein Gegenteil verkehren, den Menschen in seiner Kindheit – unter dem Deckmantel des Heiligen – zuinnerst verletzen und Schaden für das ganze Leben zufügen.

Mir ist dabei eine Vision der heiligen Hildegard von Bingen in den Sinn gekommen, die in erschütternder Weise das beschreibt, was wir in diesem Jahr erfahren haben. „Im Jahre 1170 nach Christi Geburt lag ich lange krank danieder. Da schaute ich, wach an Körper und Geist, eine Frau von solcher Schönheit, daß Menschengeist es nicht zu fassen vermochte. Ihre Gestalt ragte von der Erde bis zum Himmel. Ihr Antlitz leuchtete von höchstem Glanz. Ihr Auge blickte zum Himmel. Bekleidet war sie mit einem strahlendhellen Gewand aus weißer Seide und einem Mantel, besetzt mit kostbaren Steinen. An den Füßen trug sie Schuhe aus Onyx. Aber ihr Antlitz war mit Staub bestreut, ihr Gewand war an der rechten Seite zerrissen. Auch hatte der Mantel seine erlesene Schönheit verloren, und ihre Schuhe waren von oben her beschmutzt. Mit lauter, klagender Stimme schrie sie zum hohen Himmel hinauf: Horch auf, Himmel; mein Antlitz ist besudelt! Trauere, Erde: mein Kleid ist zerrissen! Erzittere, Abgrund: meine Schuhe sind beschmutzt!

Und weiter sprach sie: Im Herzen des Vaters war ich verborgen, bis der Menschensohn, in Jungfräulichkeit empfangen und geboren, sein Blut vergoß. Mit diesem Blut, als seiner Mitgift, hat er mich sich vermählt.

Die Wundmale meines Bräutigams bleiben frisch und offen, solange die Sündenwunden der Menschen offen sind. Eben dieses Offenbleiben der Wunden Christi ist die Schuld der Priester. Mein Gewand zerreißen sie dadurch, daß sie Übertreter des Gesetzes, des Evangeliums und ihrer Priesterpflicht sind. Meinem Mantel nehmen sie den Glanz, da sie die ihnen auferlegten Vorschriften in allem vernachlässigen. Sie beschmutzen meine Schuhe, da sie die geraden, das heißt die harten und rauhen Wege der Gerechtigkeit nicht einhalten und auch ihren Untergebenen kein gutes Beispiel geben. Dennoch finde ich bei einigen das Leuchten der Wahrheit.

Und ich hörte eine Stimme vom Himmel, die sprach: Dieses Bild stellt die Kirche dar. Deshalb, o Mensch, der du das schaust und die Klageworte hörst, künde es den Priestern, die zur Leitung und Belehrung des Gottesvolkes bestellt sind und denen gleich den Aposteln gesagt wurde: ‚Geht hinaus in die Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!’ (Mk 16, 15)“ (Brief an Werner von Kirchheim und an seine Priestergemeinschaft: PL 197, 269ff).

Das Gesicht der Kirche ist in der Vision der heiligen Hildegard mit Staub bedeckt, und so haben wir es gesehen. Ihr Gewand ist zerrissen - durch die Schuld der Priester. So, wie sie es gesehen und gesagt hat, haben wir es in diesem Jahr erlebt. Wir müssen diese Demütigung als einen Anruf zur Wahrheit und als einen Ruf zur Erneuerung annehmen. Nur die Wahrheit rettet. Wir müssen fragen, was wir tun können, um geschehenes Unrecht so weit wie möglich gutzumachen. Wir müssen fragen, was in unserer Verkündigung, in unserer ganzen Weise, das Christsein zu gestalten, falsch war, daß solches geschehen konnte. Wir müssen zu einer neuen Entschiedenheit des Glaubens und des Guten finden. Wir müssen zur Buße fähig sein. Wir müssen uns mühen, in der Vorbereitung zum Priestertum alles zu versuchen, damit solches nicht wieder geschehen kann. Es ist dies auch der Ort, all denen von Herzen zu danken, die sich einsetzen, den Opfern zu helfen und ihnen das Vertrauen zur Kirche, die Fähigkeit, ihrer Botschaft zu glauben, wiederzuschenken. Bei meinen Begegnungen mit Opfern dieser Sünde habe ich immer auch Menschen getroffen, die mit großer Hingabe den Leidenden und Geschädigten zur Seite stehen. Es ist Anlaß, dabei auch den vielen guten Priestern zu danken, die die Güte des Herrn in Demut und Treue weitertragen und mitten in den Zerstörungen Zeugen sind für die unverlorene Schönheit des Priestertums.

Der besonderen Schwere dieser Sünde von Priestern und unserer entsprechenden Verantwortung sind wir uns bewußt. Aber wir können auch nicht schweigen über den Kontext unserer Zeit, in dem diese Vorgänge zu sehen sind. Es gibt einen Markt der Kinderpornographie, der irgendwie von der Gesellschaft immer mehr als etwas Selbstverständliches angesehen zu werden scheint. Die seelische Zerstörung der Kinder, in der Menschen zum Marktartikel gemacht werden, ist ein erschreckendes Zeichen der Zeit. Von Bischöfen aus den Ländern der Dritten Welt höre ich immer wieder, wie der Sextourismus eine ganze Generation bedroht und sie in ihrer Freiheit und Menschenwürde beschädigt. Die Apokalypse des heiligen Johannes rechnet es unter die großen Sünden Babylons, das heißt der gottlosen Riesenstädte der Welt, daß sie mit Leibern und mit Seelen Handel treiben und sie zur Ware machen (Apk 18, 13). In diesem Zusammenhang steht auch das Problem der Droge, die mit wachsender Gewalt ihre Polypenarme um den Erdball streckt – sichtbarer Ausdruck der Diktatur des Mammons, der den Menschen pervertiert. Alle Lust wird zu wenig, und die Übersteigerung in der Lüge des Rausches wird zur Gewalt, die ganze Regionen zerfleischt und dies im Namen eines fatalen Mißverständnisses von Freiheit, bei dem gerade die Freiheit des Menschen untergraben und schließlich vollends aufgelöst wird.

Um diesen Mächten entgegenzutreten, müssen wir einen Blick auf ihre ideologischen Grundlagen werfen. In den 70er Jahren wurde Pädophilie als etwas durchaus dem Menschen und auch dem Kind Gemäßes theoretisiert. Dies aber war Teil einer grundlegenden Perversion des Konzepts von Ethos. Es wurde – auch bis in die katholische Theologie hinein – behauptet, das in sich Böse gebe es so wenig, wie es das an sich Gute gebe. Es gebe nur „besser als“ und „schlechter als“. Nichts sei in sich gut oder schlecht. Alles hänge von den Umständen und von der Zwecksetzung ab. Je nach den Zwecken und Umständen könne alles gut oder auch schlecht sein. Moral wird durch ein Kalkül der Folgen ersetzt und hört damit auf, als solche zu bestehen. Die Folgen dieser Theorien sind heute offenkundig. Ihnen gegenüber hat Papst Johannes Paul II. 1993 in seiner Enzyklika Veritatis Splendor mit prophetischer Kraft in der großen rationalen Tradition des christlichen Ethos die wesentlichen und bleibenden Grundlagen moralischen Handelns herausgestellt. Dieser Text muß heute als Weg der Gewissensbildung neu ins Zentrum gerückt werden. Es ist unsere Verantwortung, in der Menschheit diese Maßstäbe als Wege der wahren Humanität neu hörbar und verstehbar zu machen in der Sorge um den Menschen, in die wir hineingeworfen sind.

An zweiter Stelle möchte ich ein Wort über die Synode der Kirchen des Nahen Ostens sagen. Sie begann mit meiner Reise nach Zypern, wo ich den dort hingekommenen Bischöfen dieser Länder das Arbeitsinstrument für die Synode übergeben konnte. Unvergessen bleibt die Gastfreundschaft der orthodoxen Kirche, die wir mit großem Dank erfahren durften. Auch wenn uns die volle Kommuniongemeinschaft noch nicht geschenkt ist, haben wir doch freudig erlebt, daß uns die Grundform der alten Kirche – das sakramentale Bischofsamt als Träger der apostolischen Überlieferung, die Lektüre der Schrift unter der Hermeneutik der Glaubensregel, das Verstehen der Schrift in der durch Gottes Inspiration gewachsenen vielfältigen Einheit mit Christus und schließlich der Glaube an die Zentralität der Eucharistie im Leben der Kirche - tief miteinander verbindet. So ist uns der Reichtum der altkirchlichen Riten auch innerhalb der katholischen Kirche lebendig begegnet. Wir haben an Gottesdiensten mit Maroniten und Melkiten teilgenommen, im lateinischen Ritus gefeiert und uns zum ökumenischen Gebet mit den Orthodoxen zusammengefunden, und wir haben die reiche christliche Kultur des christlichen Orients in beeindruckenden Veranstaltungen erleben dürfen. Aber wir haben auch das Problem des geteilten Landes erlebt. Schuld der Vergangenheit und tiefgehende Verletzungen wurden sichtbar, aber auch die Sehnsucht nach Frieden und Gemeinschaft, wie sie früher bestanden hatten. Allen ist bewußt, daß Gewalt nicht weiterführt – sie hat ja den jetzigen Zustand geschaffen. Nur im Kompromiß und im gegenseitigen Verstehen kann Einheit wiederhergestellt werden. Die Menschen für diese Haltung des Friedens zu bereiten, ist eine wesentliche Aufgabe der Seelsorge.

Bei der Synode hat sich dann der Blick auf den ganzen Vorderen Orient geweitet, wo Gläubige zusammenleben, die verschiedenen Religionen wie auch vielfältigen Traditionen und unterschiedlichen Riten angehören. Was die Christen betrifft, so gibt es die vorchalkedonischen und die chalkedonischen Kirchen; Kirchen in Gemeinschaft mit Rom und solche, die außerhalb dieser Gemeinschaft stehen, und in beiden stehen vielfältige Riten nebeneinander. In den Umwälzungen der letzten Jahre ist die Geschichte des Miteinander erschüttert worden, die Spannungen und die Spaltungen sind gewachsen, so daß wir immer wieder erschrocken Zeugen von Gewalttätigkeiten werden, in denen nicht mehr geachtet wird, was dem anderen heilig ist, ja, in denen die elementarsten Regeln der Menschlichkeit zusammenbrechen. In der gegenwärtigen Situation sind die Christen die am meisten bedrängte und gequälte Minderheit. Sie haben über Jahrhunderte hin mit ihren jüdischen und muslimischen Nachbarn friedlich zusammengelebt. In der Synode haben wir weise Worte des Beraters des Mufti der Republik Libanon gegen die Gewalttaten den Christen gegenüber gehört. Er sagte: Mit der Verletzung der Christen werden wir selbst verletzt. Aber leider sind diese und ähnliche Stimmen der Vernunft, für die wir zutiefst dankbar sind, zu schwach. Auch hier ist das Hindernis die Verbindung von Gewinnsucht und ideologischer Verblendung. Die Synode hat aus dem Geist des Glaubens und seiner Vernunft heraus ein großes Konzept des Dialogs, des Vergebens und des Sich-Annehmens entwickelt, das wir nun in die Welt hineinrufen wollen. Der Mensch ist nur einer, und die Menschheit ist eine. Was irgendwo Menschen angetan wird, verletzt letztlich alle. So sollen die Worte und Gedanken der Synode ein lauter Ruf an alle Menschen mit politischer oder religiöser Verantwortung sein, der Christianophobie Einhalt zu gebieten; aufzustehen, um die Vertriebenen und die Leidenden zu verteidigen und den Geist der Versöhnung neu zu beleben. Letztlich kann die Heilung nur aus einem tiefen Glauben an die versöhnende Liebe Gottes kommen. Diesem Glauben Kraft zu geben, ihn zu nähren und ihn leuchten zu lassen, ist die Hauptaufgabe der Kirche in dieser Stunde.

Gern würde ich ausführlich über die unvergeßliche Reise ins Vereinigte Königreich sprechen, möchte mich aber auf zwei Punkte beschränken, die dem Thema der Verantwortung der Christen in dieser Zeit und dem Auftrag der Kirche zur Verkündigung des Evangeliums zugeordnet sind. Da ist zuerst die Begegnung mit der Welt der Kultur in der Westminster Hall, in der das Bewußtsein für die gemeinsame Verantwortung dieser historischen Stunde eine große Aufmerksamkeit schuf, die letztlich der Frage nach der Wahrheit und dem Glauben selber galt. Daß in diesem Ringen die Kirche mitsprechen muß, war allen offenkundig. Alexis de Tocqueville hatte seinerzeit festgestellt, daß die Demokratie in Amerika möglich wurde und funktionierte, weil es einen über die einzelnen Denominationen hinüberreichenden moralischen Grundkonsens gab, der alle verband. Nur wenn es einen solchen Konsens im Wesentlichen gibt, können Verfassungen und Recht funktionieren. Dieser aus dem christlichen Erbe gekommene Grundkonsens ist da gefährdet, wo an seine Stelle, an die Stelle der moralischen Vernunft die bloße Zweckrationalität tritt, von der ich vorhin gesprochen hatte. Dies ist in Wirklichkeit eine Erblindung der Vernunft für das Eigentliche. Gegen diese Erblindung der Vernunft anzukämpfen und ihr die Sehfähigkeit für das Wesentliche, für Gott und den Menschen, für das Gute und das Wahre zu erhalten, ist das gemeinsame Anliegen, das alle Menschen guten Willens verbinden muß. Es geht um die Zukunft der Welt.

Schließlich möchte ich noch an die Seligsprechung von John Henry Kardinal Newman erinnern. Warum wurde er seliggesprochen? Was hat er uns zu sagen? Auf diese Fragen gibt es viele Antworten, die im Umkreis der Seligsprechung entfaltet worden sind. Ich möchte daraus nur zwei Aspekte hervorheben, die eng zusammengehören und im letzten dasselbe ausdrücken. Das erste ist, daß wir von den drei Bekehrungen Newmans zu lernen haben, weil sie Schritte eines geistigen Weges sind, der uns alle angeht. Herausheben möchte ich hier nur die erste Bekehrung: die zum Glauben an den lebendigen Gott. Bis dahin dachte Newman wie der Durchschnitt der Menschen seiner Zeit und wie auch der Durchschnitt der Menschen von heute, die Gottes Existenz nicht einfach ausschließen, aber sie doch als etwas Unsicheres ansehen, das im eigenen Leben keine wesentliche Rolle spielt. Als das eigentlich Reale erschien ihm wie den Menschen seiner und unserer Zeit das Empirische, das materiell Faßbare. Dies ist die „Realität“, an der man sich orientiert. Das „Reale“ ist das Greifbare, sind die Dinge, die man berechnen und in die Hand nehmen kann. In seiner Bekehrung erkennt Newman, daß es genau umgekehrt ist: daß Gott und die Seele, das geistige Selbstsein des Menschen, das eigentlich Wirkliche sind, worauf es ankommt. Daß sie viel wirklicher sind als die faßbaren Gegenstände. Diese Bekehrung bedeutet eine kopernikanische Wende. Was bisher unwirklich und unwesentlich erschien, erweist sich als das eigentlich Entscheidende. Wo eine solche Bekehrung geschieht, ändert sich nicht eine Theorie, sondern die Grundgestalt des Lebens wird anders. Dieser Bekehrung bedürfen wir alle immer wieder: Dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Die treibende Kraft hinter dem Weg der Bekehrung war bei Newman das Gewissen. Was aber ist damit gemeint? Im modernen Denken bedeutet das Wort Gewissen, daß in Sachen Moral und Religion das Subjektive, das Individuum die letzte Entscheidungsinstanz darstellt. Die Welt wird in die Bereiche des Objektiven und des Subjektiven geschieden. Das Objektive sind die Dinge, die man berechnen und im Experiment überprüfen kann. Religion und Moral entziehen sich diesen Methoden und gelten daher als der Bereich des Subjektiven. Da gebe es letztlich keine objektiven Maßstäbe. Die letzte Instanz, die hier entscheiden kann, sei daher nur das Subjekt, und mit dem Wort „Gewissen“ wird dann eben dies ausgesagt: In diesem Bereich kann nur der einzelne, das Individuum mit seinen Einsichten und Erfahrungen entscheiden. Newmans Auffassung von Gewissen ist dem diametral entgegengesetzt. „Gewissen“ bedeutet für ihn die Wahrheitsfähigkeit des Menschen: die Fähigkeit, gerade in den entscheidenden Bereichen seiner Existenz – Religion und Moral – Wahrheit, die Wahrheit zu erkennen. Das Gewissen, die Fähigkeit des Menschen zum Erkennen der Wahrheit legt ihm damit zugleich die Verpflichtung auf, sich auf den Weg zur Wahrheit zu begeben, nach ihr zu suchen und sich ihr zu unterwerfen, wo er ihr begegnet. Gewissen ist Fähigkeit zur Wahrheit und Gehorsam gegenüber der Wahrheit, die sich dem offenen Herzens suchenden Menschen zeigt. Der Weg der Bekehrungen Newmans ist ein Weg des Gewissens – nicht der sich behauptenden Subjektivität, sondern gerade umgekehrt des Gehorsams gegenüber der Wahrheit, die sich ihm Schritt um Schritt öffnete. Seine dritte Bekehrung, die Konversion zum Katholizismus, verlangte von ihm, fast alles aufzugeben, was ihm lieb und teuer war: Besitz und Beruf, seinen akademischen Rang, Familienbande und viele Freunde. Der Verzicht, den ihm der Gehorsam gegenüber der Wahrheit, sein Gewissen, abverlangte, ging noch weiter. Newman hatte immer gewußt, daß er eine Sendung für England habe. Aber in der katholischen Theologie seiner Zeit konnte seine Stimme kaum gehört werden. Sie war zu fremd gegenüber der herrschenden Form des theologischen Denkens und auch der Frömmigkeit. Im Januar 1863 schrieb er in sein Tagebuch die erschütternden Sätze: „Als Protestant empfand ich meine Religion kümmerlich, aber nicht mein Leben. Und nun, als Katholik, ist mein Leben kümmerlich, aber nicht meine Religion.“ Die Stunde seiner Wirksamkeit war noch nicht da. Er mußte in der Demut und im Dunkel des Gehorsams warten, bis seine Botschaft gebraucht und verstanden wurde. Um Newmans Gewissensbegriff mit dem modernen subjektiven Verständnis des Gewissens identifizieren zu können, verweist man gern auf sein Wort, daß er - falls es angebracht wäre, einen Trinkspruch auszubringen - zuerst auf das Gewissen und dann auf den Papst anstoßen werde. Aber in dieser Aussage bedeutet das Gewissen nicht die letzte Verbindlichkeit des subjektiven Empfindens. Es ist Ausdruck für die Zugänglichkeit und für die verpflichtende Kraft der Wahrheit: Darin ist sein Primat begründet. Dem Papst kann der zweite Trinkspruch gelten, weil es sein Auftrag ist, den Gehorsam gegenüber der Wahrheit einzufordern.

Ich muß es mir versagen, über die eindrucksvollen Reisen nach Malta, nach Portugal und nach Spanien zu sprechen. In ihnen ist wieder neu sichtbar geworden, daß Glaube nicht eine Sache der Vergangenheit, sondern Begegnung mit dem jetzt lebenden und handelnden Gott ist. Daß er uns fordert und unserer Bequemlichkeit entgegensteht, aber uns gerade so den Weg zur wirklichen Freude öffnet.

Excita, Domine, potentiam tuam, et veni!“ Von der Bitte um die Gegenwart von Gottes Macht in unserer Zeit und von der Erfahrung seiner scheinbaren Abwesenheit sind wir ausgegangen. Wenn wir unsere Augen auftun, kann uns gerade im Rückblick auf das vergangene Jahr sichtbar werden, daß Gottes Macht und Güte auch heute auf vielfältige Weise gegenwärtig sind. So haben wir alle Grund, Ihm zu danken. Mit dem Dank an den Herrn bekräftige ich meinen Dank an alle Mitarbeiter. Möge Gott uns allen gesegnete Weihnachten und sein gutes Geleit im kommenden Jahr schenken.

Diese Wünsche vertraue ich der Fürbitte der Heiligen Jungfrau, der Mutter des Erlösers an und erteile Ihnen allen sowie der großen Familie der Römischen Kurie den Apostolischen Segen. Frohe Weihnachten!

 

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