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BEGEGNUNG MIT DEM KLERUS DER DIÖZESE ROM

"LECTIO DIVINA" VON BENEDIKT XVI.

Donnerstag, 18. Februar 2010

 

 

Eminenz,
liebe Mitbrüder im bischöflichen und priesterlichen Dienst!

Es ist für mich eine sehr freudvolle und auch wichtige Tradition, die Fastenzeit immer mit meinem Klerus, mit den Priestern von Rom beginnen zu können. So können wir als Ortskirche von Rom, aber auch als Weltkirche zusammen mit dem Herrn diesen grundlegenden Weg zur Passion, zum Kreuz aufnehmen: den österlichen Weg.

Dieses Jahr wollen wir über die soeben gelesenen Abschnitte aus dem Brief an die Hebräer nachdenken. Der Verfasser dieses Briefes hat einen neuen Weg eröffnet, um das Alte Testament als ein Buch zu verstehen, das von Christus spricht. Die vorhergehende Tradition hatte Christus vor allem und im wesentlichen in der Perspektive der davidischen Verheißung gesehen, der Verheißung des wahren David, des wahren Salomo, des wahren Königs Israels – des wahren Königs, da er Mensch und Gott ist. Und die Inschrift auf dem Kreuz hatte der Welt in der Tat diese Wirklichkeit verkündet: Jetzt ist der wahre König Israels da, der der König der Welt ist, der König der Juden hängt am Kreuz. Es handelt sich hierbei um die Verkündigung des Königtums Jesu, der Erfüllung der messianischen Erwartung des Alten Testaments, die im Tiefsten des Herzens eine Erwartung aller Menschen ist, die den wahren König erwarten, der Gerechtigkeit, Liebe und Brüderlichkeit schenkt.

Doch der Verfasser des Hebräerbriefs hat eine Schriftstelle entdeckt, die bis zu jenem Moment nicht bemerkt worden war, nämlich Psalm 110,4: »Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks.« Das bedeutet, daß Jesus nicht nur die davidische Verheißung erfüllt, die Erwartung des wahren Königs Israels und der Welt, sondern auch die Verheißung des wahren Priesters verwirklicht. In einem Teil des Alten Testaments, vor allem auch in Qumran, gibt es zwei voneinander getrennte Ebenen der Erwartung: der König und der Priester. Als der Verfasser des Hebräerbriefs diesen Vers entdeckt, erkennt er, daß die beiden Verheißungen in Christus vereint sind: Christus ist wahrer König, der Sohn Gottes – nach Psalm 2,7, den er zitiert –, doch er ist auch der wahre Priester.

So findet die gesamte Welt des Kultes, die gesamte Realität der Opfer, des Priestertums, die auf der Suche nach dem wahren Priestertum, dem wahren Opfer ist, in Christus ihren Schlüssel, ihre Erfüllung, und kann mit diesem Schlüssel des Alte Testament neu lesen und zeigen, wie sich gerade auch das kultische Gesetz, das nach der Zerstörung des Tempels aufgehoben war, in Wirklichkeit auf Christus zubewegte; somit ist es nicht einfach aufgehoben, sondern erneuert, verwandelt, da in Christus alles seinen Sinn findet. Das Priestertum tritt nun in seiner Reinheit und tiefen Wahrheit zutage.

Auf diese Weise stellt der Brief an die Hebräer das Thema des Priestertums Christi, den Priester Christus auf drei Ebenen vor: das Priestertum Aarons, das Priestertum des Tempels; Melchisedek; und Christus selbst als der wahre Priester. Auch das Priestertum Aarons – obwohl es sich vom Priestertum Christi unterscheidet, es sozusagen nur eine Suche ist, ein Unterwegssein hin zu Christus – ist dennoch ein »Weg« zu Christus, und bereits in diesem Priestertum zeichnen sich die wesentlichen Elemente ab. Dann Melchisedek – wir werden auf diesen Punkt zurückkommen –, der ein Heide ist. Die heidnische Welt tritt in das Alte Testament ein, sie tut dies in einer geheimnisvollen Gestalt, die keinen Vater und keine Mutter hat, sagt der Hebräerbrief. Sie erscheint einfach, in ihr tritt die wahre Verehrung des allerhöchsten Gottes zutage, des Schöpfers des Himmels und der Erde. So tritt auch aus der heidnischen Welt die Erwartung und die tiefe vorwegnehmende Ankündigung des Geheimnisses Christi hervor. In Christus selbst wird alles zusammengefaßt, gereinigt und zu seinem Ziel, zu seinem wahren Wesen geführt.

Betrachten wir nun, so weit dies möglich ist, die einzelnen Elemente, die das Priestertum betreffen. Aus dem Gesetz, aus dem Priestertum Aarons, lernen wir zwei Dinge, wie uns der Verfasser des Hebräerbriefs sagt: Um wirklich Mittler zwischen Gott und Mensch zu sein, muß ein Priester Mensch sein. Dies ist von grundlegender Bedeutung, und der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um Priester zu sein, um die Sendung des Priesters verwirklichen zu können. Er muß Mensch sein – wir werden auf diesen Punkt zurückkommen –, aber er kann sich nicht selbst zum Mittler gegenüber Gott machen. Der Priester bedarf einer Bevollmächtigung, einer göttlichen Einsetzung, und nur dadurch, daß er beiden Sphären zugehört – der Sphäre Gottes und der des Menschen –, kann er Mittler, kann er »Brücke« sein. Das ist die Sendung des Priesters: diese beiden anscheinend so scharf getrennten Wirklichkeiten, das heißt die Welt Gottes, die fern und dem Menschen oft unbekannt ist, und die menschliche Welt, zusammenzubringen, miteinander zu verbinden. Die Sendung des Priestertums besteht darin, Mittler zu sein, eine Brücke, die verbindet, und auf diese Weise den Menschen zu Gott zu führen, zu seiner Erlösung, zu seinem wahren Licht, zu seinem wahren Leben.

An erster Stelle muß der Priester also auf der Seite Gottes stehen, und allein in Christus ist dieses Bedürfnis, diese Bedingung für die Mittlerrolle voll verwirklicht. Daher war dieses Geheimnis notwendig: der Sohn Gottes wird Mensch, damit es die wahre Brücke, die wahre Vermittlung gibt. Die anderen müssen wenigstens eine Bevollmächtigung durch Gott oder, im Fall der Kirche, durch das Sakrament haben, das heißt: Es ist notwendig, unser Sein in das Sein Christi, in das göttliche Sein einzuführen. Nur durch das Sakrament, durch diesen göttlichen Akt, der uns zu Priestern in der Gemeinschaft mit Christus macht, können wir unsere Sendung erfüllen. Und dies scheint mir für uns ein erster Punkt der Betrachtung zu sein: die Bedeutung des Sakraments. Keiner wird zum Priester aus sich selbst heraus; allein Gott kann mich an sich ziehen, kann mich bevollmächtigen, kann mich in die Teilhabe am Geheimnis Christi hineinnehmen; allein Gott kann in mein Leben eintreten und mich bei der Hand nehmen. Dieser Aspekt des Geschenks, des göttlichen Vorrangs, des göttlichen Wirkens, den nicht wir verwirklichen können, diese unsere Passivität – auserwählt zu sein und von Gott bei der Hand genommen zu werden – ist ein grundlegender Aspekt, in den es einzutreten gilt. Wir müssen immer zum Sakrament zurückkehren, zu diesem Geschenk, in dem Gott mir das gibt, was ich nie geben könnte: die Teilhabe, die Gemeinschaft mit dem göttlichen Sein, mit dem Priestertum Christi.

Machen wir diese Wirklichkeit auch zu einer praktischen Größe unseres Lebens: Wenn dem so ist, dann muß ein Priester wirklich ein Mann Gottes sein, er muß Gott aus der Nähe kennen, und er kennt ihn in Gemeinschaft mit Christus. So müssen wir diese Gemeinschaft leben, und die Feier der heiligen Messe, das Gebet des Breviers, das gesamte persönliche Beten sind Elemente des Mit-Gott-Seins, der Tatsache, Männer Gottes zu sein. Unser Sein, unser Leben, unser Herz müssen in Gott festgemacht werden, in diesem Punkt, aus dem wir nicht herausgehen dürfen; und das verwirklicht und stärkt sich Tag um Tag auch durch kleine Gebete, mit denen wir uns an Gott rückbinden und immer mehr zu Männern Gottes werden, die in seiner Gemeinschaft leben und so von Gott sprechen und zu Gott führen können.

Das zweite Element besteht darin, daß der Priester Mensch sein muß. Mensch in jeder Hinsicht, das heißt er muß eine wahre Menschlichkeit leben, einen wahren Humanismus; er muß eine Erziehung besitzen, eine menschliche Bildung, menschliche Tugenden; er muß seine Intelligenz entfalten, seinen Willen, seine Gefühle, seine Affekte; er muß wirklich Mensch sein, ein Mensch nach dem Willen des Schöpfers, des Erlösers, denn wir wissen, daß das Sein des Menschen verwundet und die Frage »Was ist der Mensch?« von der Tatsache der Sünde verdunkelt ist, die die menschliche Natur bis hinein in ihre Tiefen verletzt hat. So sagt man: »Er hat gelogen«, »das ist doch menschlich«; »er hat gestohlen«, »das ist doch menschlich«; das ist aber nicht das wahre Menschsein. Menschlich sein heißt großherzig sein, gut sein, ein Mensch der Gerechtigkeit, der wahren Umsicht, der Weisheit sein. Mit der Hilfe Christi aus dieser Verfinsterung unserer Natur herauszutreten, um zum wahren Sein des Menschen nach dem Bild Gottes zu gelangen, ist ein lebenslanger Prozeß, der in der Priesterausbildung beginnen, sich dann aber verwirklichen und in unserem ganzen Dasein fortsetzen muß. Ich denke, daß die beiden Dinge grundlegend zusammengehören: Gott gehören und mit Gott sein sowie wahrhaft Mensch sein, im wahren Sinn, den der Schöpfer gewollt hat, da er dieses Geschöpf formte, das wir sind.

Mensch sein: der Brief an die Hebräer stellt unsere Menschlichkeit auf eine Art und Weise heraus, die uns überrascht, denn er sagt: Der Priester muß jemand sein, der fähig ist, »für die Unwissenden und Irrenden Verständnis aufzubringen, da auch er der Schwachheit unterworfen ist« (5,2), und dann in noch sehr viel stärkerer Weise: »Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden« (5,7). Für den Hebräerbrief ist das Mitleid, das Leiden mit den anderen, wesentliches Element unseres Menschseins: das ist die wahre Menschlichkeit. Nicht die Sünde ist dies, da die Sünde nie Solidarität, sondern immer Entsolidarisierung, eine Vereinnahmung des Lebens für sich selbst ist, statt es zu schenken. Die wahre Menschlichkeit besteht darin, wirklich am Leiden des Menschen teilzuhaben, das heißt ein Mensch des Mitleides zu sein – metriopathein sagt der griechische Text –, im Mittelpunkt des menschlichen Leidens stehen, wirklich zusammen mit den anderen ihre Leiden, die Versuchungen dieser Zeit zu tragen: »Gott – wo bist du in dieser Welt?«

Diese Menschlichkeit des Priesters entspricht nicht dem platonischen und aristotelischen Ideal, demzufolge der wahre Mensch der sei, der allein in der Kontemplation der Wahrheit lebt und so selig, glücklich ist, da er nur mit den schönen Dingen freundschaftlichen Umgang pflegt, mit der göttlichen Schönheit, die »Arbeiten« jedoch andere verrichten. Das ist eine Annahme, wohingegen hier davon ausgegangen wird, daß der Priester wie Christus in das menschliche Elend eintritt, es mit sich trägt, zu den leidenden Menschen geht, sich um sie kümmert und sie nicht allein äußerlich, sondern innerlich auf sich nimmt, in sich selbst die »Passion« seiner Zeit, seiner Pfarrei, der ihm anvertrauten Menschen auf sich nimmt. So hat Christus den wahren Humanismus gezeigt. Gewiß ist sein Herz immer in Gott verankert, er sieht immer Gott, er steht immer in einem innigen Gespräch mit ihm, aber gleichzeitig trägt er das ganze Sein, das ganze Leid des Menschen tritt in seine Passion ein. Während er spricht, die Menschen sieht, die klein und ohne Hirten sind, leidet er mit ihnen, und wir Priester dürfen uns nicht in ein »Elysium« zurückziehen, sondern wir sind in die Passion dieser Welt hineingetaucht und müssen mit der Hilfe Christi und in Gemeinschaft mit ihm versuchen, sie zu verwandeln, sie zu Gott zu bringen.

Gerade das muß mit dem folgenden, wirklich anregenden Text gesagt werden: »Er hat mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten… dargebracht« (Hebr 5,7). Damit wird nicht nur die Stunde der Angst auf dem Ölberg angedeutet, sondern die gesamte Leidensgeschichte zusammengefaßt, die das ganze Leben Jesu umfaßt. Tränen: Jesus weinte am Grab des Lazarus, er war wirklich zuinnerst vom Geheimnis des Todes, vom Schrecken angesichts des Todes berührt. Menschen verlieren wie in diesem Fall den Bruder, die Mutter, das Kind, den Freund: der ganze Schrecken des Todes, der die Liebe zerstört, der die Beziehungen zerstört, der ein Zeichen unserer Endlichkeit, unserer Armut ist, wird auf die Probe gestellt, und er tritt bis ins tiefste seiner Seele diesem Geheimnis entgegen, dieser Traurigkeit, die der Tod ist, und weint. Er weint über Jerusalem, da er die Zerstörung der schönen Stadt durch den Ungehorsam sieht; er weint, da er alle Zerstörungen in der Geschichte der Welt sieht; er weint, da er sieht, wie die Menschen sich selbst und ihre Städte in der Gewalt, im Ungehorsam zerstören.

Jesus weint, mit lautem Klagen. Wir wissen aus den Evangelien, daß Jesus vom Kreuz herab gerufen hat; er hat gerufen: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34; vgl. Mt 27,46), und daß er ein weiteres Mal am Ende laut aufgeschrien hat. Und dieser Schrei entspricht einer fundamentalen Dimension der Psalmen: in den schrecklichen Momenten des menschlichen Lebens sind viele Psalmen ein lauter Ruf zu Gott: »Hilf uns, erhöre uns!« Gerade heute haben wir im Brevier in diesem Sinn gebetet: Wo bist du, Gott? »Du gibst uns preis wie Schlachtvieh« (Ps 44,12). Ein Klageruf der leidenden Menschheit! Und Jesus, der das wahre Subjekt der Psalmen ist, bringt diesen Ruf der Menschheit wirklich vor Gott, vor die Ohren Gottes: »Hilf uns und erhöre uns!« Er verwandelt das ganze Leid des Menschen, indem er es auf sich nimmt, in einen Ruf vor Gottes Ohr.

Und so sehen wir, daß er gerade auf diese Weise das Priestertum verwirklicht, die Aufgabe des Mittlers, indem er das Leid und die Passion der Welt in sich trägt, sie in sich aufnimmt und sie in einen an Gott gerichteten Schrei verwandelt, sie vor die Augen und in die Hände Gottes bringt und sie so wirklich zum Augenblick der Erlösung führt.

Tatsächlich sagt der Hebräerbrief (5,7): »Er hat mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten… vorgebracht«. Dabei handelt es sich um eine richtige Übersetzung des Verbums prospherein, das ein im Kult gebrauchtes Wort ist und die Handlung der Aufopferung der menschlichen Gaben an Gott ausdrückt, gerade die Tat der Gabenbereitung, des Opfers. So zeigt er mit diesem kultischen Begriff, der auf die Gebete und Tränen Christi angewandt wird, daß die Tränen Christi, die Angst auf dem Ölberg, der Schrei am Kreuz, all sein Leiden nicht etwas sind, das neben seiner großen Sendung stünde. Gerade auf diese Weise bringt er das Opfer dar, ist er Priester. Der Hebräerbrief sagt uns mit diesem »er hat dargebracht«, prospherein: Das ist die Verwirklichung seines Priestertums, auf diese Weise bringt er die Menschheit zu Gott, so wird er zum Mittler, so wird er Priester.

Wir sagen zu Recht, daß Jesus Gott nicht etwas, sondern daß er sich selbst dargebracht hat, und diese Hingabe seiner selbst verwirklicht sich in dem Mitleiden, welches das Leid der Welt in Gebet und in einen Ruf zum Vater verwandelt. In diesem Sinn beschränkt sich auch unser Priestertum nicht auf die gottesdienstliche Handlung der heiligen Messe, in dem alles in die Hände Christi gelegt wird, sondern unser ganzes Mitleid gegenüber dem Leid dieser Welt, die so fern ist von Gott, ist ein priesterlicher Akt, ein prospherein, ein Aufopfern. In diesem Sinn scheint es mir, daß wir verstehen und lernen müssen, in tieferer Weise die Leiden des seelsorglichen Lebens zu akzeptieren, da eben dies priesterliches Wirken, Vermittlung, Eintreten in das Geheimnis Christi, Kommunikation mit dem Geheimnis Christi ist, was sehr wirklich und wesentlich, existentiell und dann sakramental ist.

In diesem Zusammenhang ist ein zweites Wort wichtig. Es heißt, daß Christus auf diese Weise – durch diesen Gehorsam – zur Vollendung gelangt ist, auf griechisch teleiotheis (vgl. Hebr 5,8–9). Wir wissen, daß das hier benutzte Wort teleion in der gesamten Thora, das heißt in der gesamten Gesetzgebung für den Kult, auf die Priesterweihe verweist. Der Hebräerbrief sagt uns also, daß Jesus gerade durch dieses Tun zum Priester bestellt wurde, daß durch dieses Tun sein Priestertum verwirklicht worden ist. Unsere sakramentale Priesterweihe muß existentiell, aber auch auf christologische Weise verwirklicht und konkretisiert werden, gerade dadurch, daß man die Welt mit Christus und zu Christus trägt, und mit Christus zu Gott: so werden wir wirklich Priester, teleiotheis. Das Priestertum ist somit nicht etwas, das nur auf wenige Stunden beschränkt wäre, sondern es verwirklicht sich im seelsorglichen Leben, in seinen Leiden und Schwächen, in seinen Traurigkeiten und natürlich auch in den Freuden. So werden wir immer mehr zu Priestern in Gemeinschaft mit Christus.

Der Hebräerbrief faßt schließlich dieses ganze Mitleid mit dem Wort hypakoe, »Gehorsam«, zusammen; all dies ist Gehorsam. Das ist ein Wort, das uns in unserer Zeit nicht gefällt. Gehorsam erscheint wie eine Entfremdung, eine unterwürfige Haltung. Man nutzt seine Freiheit nicht, man unterstellt seine Freiheit einem anderen Willen, also ist man nicht mehr frei, sondern von einem anderen bestimmt, wohingegen die Selbstbestimmung, die Emanzipation doch das wahre Menschsein ausmachen würden. Statt des Wortes »Gehorsam« wollen wir als anthropologisches Schlüsselwort die »Freiheit«. Doch betrachten wir dieses Problem aus der Nähe, so sehen wir, daß die beiden Dinge zutiefst miteinander verbunden sind: der Gehorsam Christi ist die Übereinstimmung seines Willens mit dem Willen des Vaters; durch seinen Gehorsam bringt er den menschlichen Willen zum göttlichen Willen, die Angleichung unseres Willens an den Willen Gottes.

In seiner Interpretation des Ölbergs, der gerade im Gebet Jesu zum Ausdruck kommenden Angst – »nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe« – hat der hl. Maximus Confessor diesen Prozeß beschrieben, den Christus in sich als wahrer Mensch, mit der menschlichen Natur, dem menschlichen Willen trägt; in diesem Tun – »nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe« – faßt Jesus den gesamten Prozeß seines Lebens zusammen, das heißt: den Prozeß, das natürliche, menschliche Leben zum göttlichen Leben zu führen und auf diese Weise den Menschen zu verwandeln: Vergöttlichung des Menschen und auf diese Weise Erlösung des Menschen, denn der Wille Gottes ist kein tyrannischer Wille, er ist kein Wille, der außerhalb unseres Seins steht, sondern er ist gerade der schöpferische Wille, er ist gerade der Ort, an dem wir unsere wahre Identität finden.

Gott hat uns geschaffen, und wir sind wir selbst, wenn wir seinem Willen entsprechen; nur so treten wir in die Wahrheit unseres Seins ein und sind nicht entfremdet. Im Gegenteil, die Entfremdung erfolgt gerade dadurch, daß wir aus dem Willen Gottes heraustreten, denn auf diese Weise treten wir aus dem Plan unseres Seins heraus, wir sind nicht mehr wir selbst, sondern stürzen ins Leere. In Wahrheit ist der Gehorsam gegenüber Gott – also die Übereinstimmung, die Wahrheit unseres Seins – die wahre Freiheit, da er Vergöttlichung bedeutet. Indem Jesus den Menschen, das Menschsein in sich und mit sich trägt, in der Übereinstimmung mit Gott, im vollkommenen Gehorsam, also in der vollkommenen Übereinstimmung der beiden Willen, hat er uns erlöst, und die Erlösung ist immer dieser Prozeß, den menschlichen Willen in die Gemeinschaft mit dem göttlichen Willen zu führen. Es handelt sich um einen Prozeß, für den wir jeden Tag beten: »Dein Wille geschehe.« Und wir wollen den Herrn wirklich bitten, daß er uns helfe, zuinnerst zu sehen, daß das die Freiheit ist, und so freudig in diesen Gehorsam einzutreten und den Menschen »aufzunehmen«, um ihn – durch unser Vorbild, durch unsere Demut, durch unser Gebet, durch unser seelsorgliches Handeln – in die Gemeinschaft mit Gott zu bringen.

Liest man weiter, so folgt ein Satz, der schwer zu interpretieren ist. Der Verfasser des Hebräerbriefs sagt, daß Jesus laut, mit Schreien und unter Tränen, Gebete und Bitten vor Gott gebracht hat, der ihn aus dem Tod retten konnte, und daß er aufgrund seiner völligen Hingabe erhört wurde (vgl. Hebr 5,7). Hier würden wir gerne sagen: »Nein, das stimmt nicht, er ist nicht erhört worden, er ist gestorben.« Jesus hat darum gebetet, vom Tod befreit zu werden, doch er ist nicht befreit worden, er ist auf sehr grausame Weise gestorben. Daher hat der große liberale Theologe Harnack gesagt: »Hier fehlt ein ›nicht‹«, es muß heißen: »Er ist nicht erhört worden«, und Bultmann hat diese Interpretation akzeptiert. Doch das ist eine Lösung, die keine Exegese mehr ist, sondern dem Text Gewalt antut. In keiner Handschrift findet sich dieses »nicht«, sondern »er wurde erhört«; wir müssen also verstehen lernen, was dieses »erhört werden« trotz des Kreuzes bedeutet.

Ich sehe drei Ebenen, um diesen Ausdruck zu verstehen. Auf einer ersten Ebene kann man den griechischen Text folgendermaßen übersetzen: »Er ist von seiner Angst erlöst worden«, und in diesem Sinn ist Jesus erhört worden. Es wäre also ein Hinweis auf das, was der hl. Lukas uns berichtet, daß »ihm ein Engel vom Himmel erschien und ihm [neue] Kraft gab« (vgl. Lk 22,43), so daß er nach dem Moment der Angst aufrichtig und furchtlos seiner Stunde entgegengehen konnte, wie uns dies die Evangelien, vor allem das des hl. Johannes, beschreiben. Es wäre die Erhörung in dem Sinne, daß Gott ihm die Kraft gibt, diese ganze Last zu tragen, und daß er so erhört wird. Doch mir scheint, daß diese Antwort nicht ganz ausreichend ist. Erhört werden in einem tieferen Sinne – Pater Vanhoye hat das hervorgehoben – besagt: »Er ist vom Tod erlöst worden«, doch nicht für den Augenblick, für jenen Augenblick, sondern für immer, in der Auferstehung: die wahre Antwort Gottes auf das Gebet, vom Tod erlöst zu werden, ist die Auferstehung, und die Menschheit wird gerade in der Auferstehung vom Tod erlöst, die die wahre Heilung unserer Leiden, des schrecklichen Geheimnisses des Todes ist.

Hier ist bereits eine dritte Verständnisebene gegeben: die Auferstehung Jesu ist nicht nur ein persönliches Ereignis. Mir scheint es hilfreich zu sein, sich den kurzen Text zu vergegenwärtigen, in dem der hl. Johannes im zwölften Kapitel seines Evangeliums stark zusammenfassend das Geschehen vom Ölberg darstellt und erzählt. Jesus sagt: »Jetzt ist meine Seele erschüttert« (Joh 12,27), und in der ganzen Angst auf dem Ölberg, was werde ich da sagen?: »Rette mich aus dieser Stunde, verherrliche deinen Namen« (vgl. Joh 12,27–28). Dasselbe Gebet finden wir bei den Synoptikern: »Wenn es möglich ist, dann rette mich, doch dein Wille geschehe« (vgl. Mt 26,42; Mk 14,36; Lk 22,42), was in der Sprache des Johannes lautet: »Rette mich, verherrliche«. Und Gott antwortet: »Ich habe dich schon verherrlicht und werde dich wieder verherrlichen« (vgl. Joh 12,28). Das ist die Antwort, das göttliche Erhören: ich werde das Kreuz verherrlichen; es ist dies die Gegenwart der göttlichen Herrlichkeit, da es der höchste Akt der Liebe ist. Am Kreuz wird Jesus über die ganze Erde erhöht und zieht die Erde an sich; am Kreuz erscheint jetzt das »Kabod«, die wahre göttliche Herrlichkeit des Gottes, der bis zum Kreuz liebt und so den Tod verwandelt und die Auferstehung schafft.

Das Gebet Jesu ist in dem Sinne erhört worden, daß sein Tod wirklich Leben wird, daß er der Ort wird, von dem aus er den Menschen erlöst, von wo aus er den Menschen an sich zieht. Wenn die göttliche Antwort bei Johannes lautet: »Ich werde dich verherrlichen«, dann bedeutet dies, daß diese Herrlichkeit die ganze Geschichte immer wieder von neuem übersteigt und durchdringt: Von seinem Kreuz aus, das in der Eucharistie gegenwärtig ist, verwandelt er den Tod in Herrlichkeit. Das ist die große Verheißung, die in der heiligen Eucharistie Wirklichkeit wird, die den Himmel immer wieder von neuem öffnet. Diener der Eucharistie zu sein, ist folglich die Tiefe des priesterlichen Mysteriums.

Ein kurzes Wort sei noch zu Melchisedek gesagt. Es handelt sich um eine geheimnisvolle Gestalt, die in Genesis 14 in die biblische Geschichte eintritt: Nach dem Sieg Abrahams über einige Könige erscheint der König von Salem, von Jerusalem, Melchisedek, und bringt Brot und Wein. Eine nicht kommentierte und ein wenig unverständliche Geschichte, die, wie bereits gesagt, erst in Psalm 110 wieder Erwähnung findet, doch man versteht, daß dann das Judentum, die Gnosis und das Christentum tief über dieses Wort nachdenken wollten und ihre Auslegungen hervorgebracht haben. Der Brief an die Hebräer bringt keine Spekulationen vor, sondern berichtet nur, was die Schrift sagt, und das sind verschiedene Elemente: Er ist König der Gerechtigkeit, er wohnt im Frieden, er ist König, von wo der Friede kommt, er verehrt den höchsten Gott und betet ihn an, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und er bringt Brot und Wein (vgl. Heb 7,1–3; Gen 14,18–20). Es wird nicht kommentiert, daß hier der Hohepriester des höchsten Gottes erscheint, König des Friedens, der mit Brot und Wein den Schöpfergott des Himmels und der Erde anbetet. Die Kirchenväter haben hervorgehoben, daß er einer der heiligen Heiden des Alten Testaments ist, und das zeigt, daß auch aus dem Heidentum ein Weg zu Christus führt, und die Kriterien dafür sind: den höchsten Gott, den Schöpfer anbeten, Gerechtigkeit und Frieden pflegen und Gott auf reine Weise verehren. Auf diese Weise, mit diesen grundlegenden Elementen, befindet sich auch das Heidentum auf dem Weg zu Christus, macht es, in gewisser Weise, das Licht Christi gegenwärtig.

Im Römischen Kanon folgt nach der Konsekration das Gebet »supra quae«, das einige vorauskündende Bilder Christi, seines Priestertums und seines Opfers erwähnt: Abel, den ersten Märtyrer, mit seinem Lamm; Abraham, der der Absicht gemäß seinen Sohn Isaak opfert, welcher durch das von Gott geschenkte Lamm ersetzt wird; und Melchisedek, Hoherpriester des höchsten Gottes, der Brot und Wein bringt. Das will besagen, daß Christus die absolute Neuheit Gottes ist und zugleich in der ganzen Geschichte gegenwärtig ist, durch die ganze Geschichte hindurch, und daß sich die Geschichte auf Christus zubewegt. Und nicht nur die Geschichte des auserwählten Volkes, das die wahre, von Gott gewollte Vorbereitung darstellt und in der sich das Geheimnis Christi offenbart, sondern auch vom Heidentum her wird das Geheimnis Christi vorbereitet, gibt es Wege zu Christus, der alles in sich trägt.

Das scheint mir wichtig bei der Feier der Eucharistie: Hier ist das ganze menschliche Gebet gebündelt, die ganze menschliche Sehnsucht, die ganze wahre menschliche Hingabe, die wahre Suche nach Gott, die in Christus endlich ihre Erfüllung findet. Schließlich muß gesagt werden, daß der Himmel jetzt offen ist, der Gottesdienst ist nicht mehr rätselhaft, er besteht nicht mehr aus relativen Zeichen, sondern er ist wahr, weil der Himmel offen ist und nicht etwas dargebracht wird, sondern der Mensch eins mit Gott wird, und das ist der wahre Gottesdienst. So heißt es im Hebräerbrief: »Wir haben einen Hohenpriester, der sich zur Rechten des Thrones der Majestät im Himmel gesetzt hat, … des Heiligtums und des wahren Zeltes, das der Herr selbst aufgeschlagen hat« (vgl. 8,1–2).

Kehren wir zu dem Punkt zurück, daß Melchisedek der König von Salem ist. Die gesamte davidische Tradition hat sich darauf berufen und gesagt: »Hier ist der Ort, Jerusalem ist der Ort des wahren Kultes, die Konzentration des Kultes auf Jerusalem geht schon auf die Zeiten Abrahams zurück, Jerusalem ist der wahre Ort der rechten Verehrung Gottes.«

Machen wir einen neuen Schritt: Das wahre Jerusalem, das »Salem« Gottes, ist der Leib Christi, die Eucharistie ist der Friede Gottes mit dem Menschen. Bekanntlich nennt der hl. Johannes im Prolog die Menschheit Jesu das »Zelt Gottes«, »eskenosen en hemin« (Joh 1,14). Hier hat Gott selbst sein Zelt in der Welt geschaffen, und dieses Zelt, dieses neue, wahre Jerusalem, ist gleichzeitig auf Erden und im Himmel, da dieses Sakrament, dieses Opfer, sich immer unter uns verwirklicht und immer bis zum Thron der Gnade, zur Gegenwart Gottes gelangt. Hier ist das wahre Jerusalem, das gleichzeitig himmlisch und irdisch ist, das Zelt, das der Leib Gottes ist, der als auferstandener Leib immer Leib bleibt und die Menschheit umfaßt und uns gleichzeitig, da es ein auferstandener Leib ist, mit Gott vereint. All das verwirklicht sich immer von neuem in der Eucharistie. Und wir sind als Priester dazu berufen, Diener dieses großen Geheimnisses zu sein, im Sakrament und im Leben. Bitten wir den Herrn, daß er uns dieses Geheimnis immer besser verstehen lasse, daß er uns dieses Geheimnis immer besser leben und so unsere Hilfe anbieten lasse, damit sich die Welt Gott öffne, damit die Welt erlöst werde. Danke.


Der Heilige Vater verwendete als Ausgangstext für seine Lectio Divina die folgenden drei Stellen aus dem Brief des hl. Paulus an die Hebräer:

Heb 5, 1-10
Heb 7, 26-28
Heb 8, 1-2

(L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 5. März 2010 / Nummer 9)

 

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