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APOSTOLISCHES SCHREIBEN

PATRIS CORDE

DES HEILIGEN VATERS PAPST FRANZISKUS
ANLÄSSLICH DES 150. JAHRESTAGES
DER ERHEBUNG DES HEILIGEN JOSEF
ZUM SCHUTZPATRON DER GANZEN KIRCHE

 

Mit väterlichem Herzen liebte Josef Jesus, der in allen vier Evangelien »der Sohn Josefs« genannt wird.[1]

Die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas, die seine Gestalt herausgestellt haben, erzählen nicht viel, aber doch genug, dass deutlich wird, auf welche Weise Josef Vater war und welche Sendung ihm die Vorsehung anvertraut hatte.

Wir wissen, dass er ein einfacher Zimmermann war (vgl. Mt 13,55), der Verlobte Marias (vgl. Mt 1,18; Lk 1,27); er war »gerecht« (Mt 1,19), allzeit bereit, Gottes Willen zu tun, der sich ihm im Gesetz (vgl. Lk 2, 22.27.39) und durch vier Träume (vgl. Mt 1,20; 2,13.19.22) kundtat. Nach einer langen und beschwerlichen Reise von Nazaret nach Betlehem war er zugegen, als der Messias in einem Stall geboren wurde, weil anderswo »kein Platz für sie war« (Lk 2,7). Er war Zeuge der Anbetung der Hirten (vgl. Lk 2,8-20) und der Sterndeuter (vgl. Mt 2,1-12), welche das Volk Israel bzw. die Heidenvölker repräsentierten.

Er hatte den Mut, vor dem Gesetz die Rolle des Vaters Jesu zu übernehmen, und er gab ihm den vom Engel geoffenbarten Namen: »Ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen« (Mt 1,21). Einer Person oder einer Sache einen Namen zu geben bedeutete bei den alten Völkern bekanntlich die Erlangung einer Zugehörigkeit, so wie Adam es nach dem Bericht der Genesis tat (vgl. 2,19-20).

Gemeinsam mit Maria stellte Josef vierzig Tage nach der Geburt im Tempel das Kind dem Herrn dar und hörte mit Staunen die Prophezeiung des Simeon über Jesus und Maria (vgl. Lk 2,22-35). Um Jesus vor Herodes zu beschützen, hielt er sich als Fremder in Ägypten auf (vgl. Mt 2,13-18). Nach seiner Rückkehr in die Heimat lebte er in der Verborgenheit des kleinen unbekannten Dorfes Nazaret in Galiläa – von wo man sich keinen Propheten und auch sonst nichts Gutes erwartete (vgl. Joh 7,52; 1,46) – weit entfernt sowohl von Betlehem, seiner Geburtsstadt, als auch von Jerusalem, wo der Tempel stand. Als sie just auf einer Wallfahrt nach Jerusalem den zwölfjährigen Jesus verloren hatten, suchten Josef und Maria ihn voller Sorge und fanden ihn schließlich im Tempel wieder, wo er mit den Gesetzeslehrern diskutierte (vgl. Lk 2,41-50).

Nach Maria, der Mutter Gottes, nimmt kein Heiliger so viel Platz im päpstlichen Lehramt ein wie Josef, ihr Bräutigam. Meine Vorgänger haben die Botschaft, die in den wenigen von den Evangelien überlieferten Angaben enthalten ist, vertieft, um seine zentrale Rolle in der Heilsgeschichte deutlicher hervorzuheben. Der selige Pius IX. erklärte ihn zum »Patron der katholischen Kirche«[2], der ehrwürdige Diener Gottes Pius XII. ernannte ihn zum »Patron der Arbeiter«,[3] und der heilige Johannes Paul II. bezeichnete ihn als »Beschützer des Erlösers«.[4] Das gläubige Volk ruft ihn als Fürsprecher um eine gute Sterbestunde an.[5]

Anlässlich des 150. Jahrestages seiner Erhebung zum Patron der katholischen Kirche durch den seligen Pius IX. am 8. Dezember 1870 möchte ich daher – wie Jesus sagt –  »mit dem Mund von dem sprechen, wovon das Herz überfließt« (vgl. Mt 12,34), und einige persönliche Überlegungen zu dieser außergewöhnlichen Gestalt mit euch teilen, die einem jeden von uns menschlich so nahe ist. Dieser Wunsch ist jetzt in den Monaten der Pandemie gereift. In dieser Krise konnten wir erleben, dass »unser Leben von gewöhnlichen Menschen – die gewöhnlich vergessen werden – gestaltet und erhalten wird, die weder in den Schlagzeilen der Zeitungen und Zeitschriften noch sonst im Rampenlicht der neuesten Show stehen, die aber heute zweifellos eine bedeutende Seite unserer Geschichte schreiben: Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, Supermarktangestellte, Reinigungspersonal, Betreuungskräfte, Transporteure, Ordnungskräfte, ehrenamtliche Helfer, Priester, Ordensleute und viele, ja viele andere, die verstanden haben, dass niemand sich allein rettet. […] Wie viele Menschen üben sich jeden Tag in Geduld und flößen Hoffnung ein und sind darauf bedacht, keine Panik zu verbreiten, sondern Mitverantwortung zu fördern. Wie viele Väter, Mütter, Großväter und Großmütter, Lehrerinnen und Lehrer zeigen unseren Kindern mit kleinen und alltäglichen Gesten, wie sie einer Krise begegnen und sie durchstehen können, indem sie ihre Gewohnheiten anpassen, den Blick aufrichten und zum Gebet anregen. Wie viele Menschen beten für das Wohl aller, spenden und setzen sich dafür ein«.[6] Alle können im heiligen Josef, diesem unauffälligen Mann, diesem Menschen der täglichen, diskreten und verborgenen Gegenwart, einen Fürsprecher, Helfer und Führer in schwierigen Zeiten finden. Der heilige Josef erinnert uns daran, dass all jene, die scheinbar im Verborgenen oder in der „zweiten Reihe“ stehen, in der Heilsgeschichte eine unvergleichliche Hauptrolle spielen. Ihnen allen gebührt Dank und Anerkennung.

1.  Geliebter Vater

Die Bedeutung des heiligen Josef besteht darin, dass er der Bräutigam Marias und der Nährvater Jesu war. Als solcher stellte er sich in den Dienst des »allgemeinen Erlösungswerks«, wie der heilige Johannes Chrysostomus sagt.[7]

Der heilige Paul VI. stellt fest, dass seine Vaterschaft sich konkret darin ausdrückte, dass er »sein Leben zu einem Dienst, zu einem Opfer an das Geheimnis der Menschwerdung und an den damit verbundenen Erlösungsauftrag gemacht hat; dass er die ihm rechtmäßig zustehende Autorität über die heilige Familie dazu benützt hat, um sich selbst, sein Leben und seine Arbeit ganz ihr hinzugeben; dass er seine menschliche Berufung zur familiären Liebe in die übermenschliche Darbringung seiner selbst, seines Herzens und aller Fähigkeiten verwandelt hat, in die Liebe, die er in den Dienst des seinem Haus entsprossenen Messias gestellt hat«.[8]

Aufgrund dieser seiner Rolle in der Heilsgeschichte wurde der heilige Josef zu einem Vater, der von den Christen seit jeher geliebt wurde. Dies sieht man daran, dass ihm weltweit zahlreiche Kirchen geweiht wurden, dass viele Ordensgemeinschaften, Bruderschaften und kirchliche Gruppen von seinem Geist inspiriert sind und seinen Namen tragen und dass ihm zu Ehren seit Jahrhunderten verschiedene religiöse Bräuche gewidmet sind. Viele heilige Männer und Frauen verehrten ihn leidenschaftlich, wie etwa Theresia von Avila, die ihn zu ihrem Anwalt und Fürsprecher erkoren hatte, sich ihm vielfach anvertraute und alle Gnaden erhielt, die sie von ihm erbat; ermutigt durch ihre eigene Erfahrung, brachte die Heilige auch andere dazu, ihn zu verehren.[9]

In jedem Gebetbuch finden sich einige Gebete zum heiligen Josef. Jeden Mittwoch und vor allem während des gesamten Monats März, der traditionell ihm gewidmet ist, werden besondere Bittgebete an ihn gerichtet.[10]

Das Vertrauen des Volkes in den heiligen Josef ist in dem Ausdruck „Ite ad Joseph“ zusammengefasst, der sich auf die Zeit der Hungersnot in Ägypten bezieht, als das Volk den Pharao um Brot bat und er antwortete: »Geht zu Josef! Tut, was er euch sagt!« (Gen 41,55). Das war Josef, der Sohn Jakobs, der aus Neid von seinen Brüdern verkauft wurde (vgl. Gen 37,11-28) und der – nach der biblischen Erzählung – später Vizekönig von Ägypten wurde (vgl. Gen 41,41-44).

Als Nachkomme Davids (vgl. Mt 1,16.20), aus dessen Wurzel Jesus als Spross hervorgehen sollte, wie der Prophet Natan David verheißen hatte (vgl. 2 Sam 7), und als Bräutigam der Maria von Nazaret stellt der heilige Josef eine Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament dar.

2. Vater im Erbarmen

Josef erlebte mit, wie Jesus heranwuchs und Tag für Tag an Weisheit zunahm und bei Gott und den Menschen Gefallen fand (vgl. Lk 2,52). Wie es der Herr mit Israel tat, so brachte Josef Jesus das Gehen bei und nahm ihn auf seine Arme. Er war für ihn wie ein Vater, der sein Kind an seine Wange hebt, sich ihm zuneigt und ihm zu essen gibt (vgl. Hos 11,3-4).

Jesus erlebte an Josef Gottes Barmherzigkeit: »Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über alle, die ihn fürchten« (Ps 103,13).

Sicher wird Josef in der Synagoge während des Psalmengebets wiederholt gehört haben, dass der Gott Israels ein barmherziger Gott ist,[11] der gut zu allen ist und dessen Erbarmen über all seinen Werken waltet (vgl. Ps 145,9).

Die Heilsgeschichte erfüllt sich »gegen alle Hoffnung […] voll Hoffnung« (Röm 4,18) durch unsere Schwachheit hindurch. Allzu oft denken wir, dass Gott sich nur auf unsere guten und starken Seiten verlässt, während sich in Wirklichkeit die meisten seiner Pläne durch und trotz unserer Schwachheit realisieren. Eben das lässt den heiligen Paulus sagen: »Damit ich mich wegen der einzigartigen Offenbarungen nicht überhebe, wurde mir ein Stachel ins Fleisch gestoßen: ein Bote Satans, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Dreimal habe ich den Herrn angefleht, dass dieser Bote Satans von mir ablasse. Er aber antwortete mir: Meine Gnade genügt dir; denn die Kraft wird in der Schwachheit vollendet« (2 Kor 12,7-9).

Wenn dies die Perspektive der Heilsökonomie ist, müssen wir lernen, unsere Schwachheit mit tiefem Erbarmen anzunehmen.[12]

Der Böse lässt uns verächtlich auf unsere Schwachheit blicken, während der Heilige Geist sie voll Erbarmen ans Tageslicht bringt. Die Sanftmut ist der beste Weg, um mit dem Schwachen in uns umzugehen. Der ausgestreckte Zeigefinger und die Verurteilungen, die wir anderen gegenüber an den Tag legen, sind oft ein Zeichen unserer Unfähigkeit, unsere eigene Schwäche, unsere eigene Zerbrechlichkeit innerlich anzunehmen. Nur die Sanftmut wird uns vor dem Treiben des Anklägers bewahren (vgl. Offb 12,10). Aus diesem Grund ist es wichtig, der Barmherzigkeit Gottes zu begegnen, insbesondere im Sakrament der Versöhnung, und eine Erfahrung von Wahrheit und Sanftmut zu machen. Paradoxerweise kann uns auch der Böse die Wahrheit sagen, aber wenn er dies tut, dann nur, um uns zu verurteilen. Wir wissen jedoch, dass die Wahrheit, die von Gott kommt, uns nicht verurteilt, sondern aufnimmt, umarmt, unterstützt und vergibt. Die Wahrheit zeigt sich uns immer wie der barmherzige Vater im Gleichnis (vgl. Lk 15,11-32): Sie kommt uns entgegen, sie gibt uns unsere Würde zurück, sie richtet uns wieder auf, sie veranstaltet ein Fest für uns, denn »dieser, mein Sohn, war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden« (V. 24).

Auch durch Josefs Besorgnis hindurch verwirklicht sich der Wille Gottes, seine Geschichte, sein Plan. So lehrt uns Josef, dass der Glaube an Gott auch bedeutet, daran zu glauben, dass dieser selbst durch unsere Ängste, unsere Zerbrechlichkeit und unsere Schwäche wirken kann. Und er lehrt uns, dass wir uns inmitten der Stürme des Lebens nicht davor fürchten müssen, das Ruder unseres Bootes Gott zu überlassen. Manchmal wollen wir alles kontrollieren, aber er hat alles wesentlich umfassender im Blick.

3. Vater im Gehorsam

Wie Gott Maria seinen Heilsplan offenbarte, so offenbarte er ihn auch Josef; er tat dies durch Träume, die in der Bibel, wie bei allen alten Völkern, als einer der Wege angesehen wurden, durch die Gott seinen Willen kundtut.[13]

Josef ist angesichts der unerklärlichen Schwangerschaft Marias sehr besorgt: Er will sie nicht öffentlich »bloßstellen«,[14] sondern beschließt, »sich in aller Stille von ihr zu trennen« (Mt 1,19).

Im ersten Traum hilft ihm der Engel, einen Ausweg aus seinem ernsten Dilemma zu finden: »Fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen« (Mt 1,20-21). Unverzüglich erfolgte seine Antwort: »Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte« (Mt 1,24). Im Gehorsam überwand er sein Dilemma und rettete Maria.

Im zweiten Traum gebietet der Engel Josef: »Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten« (Mt 2,13). Josef gehorchte ohne zu zögern und ohne die Schwierigkeiten zu hinterfragen, auf die er stoßen würde: »Da stand Josef auf und floh in der Nacht mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten. Dort blieb er bis zum Tod des Herodes« (Mt 2,14-15).

In Ägypten wartete Josef zuversichtlich und geduldig mit der Rückkehr in sein Land, bis die versprochene Nachricht des Engels bei ihm eintraf. Als der göttliche Bote ihm in einem dritten Traum mitgeteilt hatte, dass diejenigen, die das Kind töten wollten, nun tot seien und ihm befohlen hatte, aufzustehen und das Kind und seine Mutter zu nehmen und in das Land Israel zurückzukehren (vgl. Mt 2,19-20), gehorchte er abermals ohne zu zögern: »Da stand er auf und zog mit dem Kind und dessen Mutter in das Land Israel« (Mt 2,21).

Als Josef aber auf der Rückreise »hörte, dass in Judäa Archelaus anstelle seines Vaters Herodes regierte, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und weil er im Traum einen Befehl erhalten hatte« – und es ist dies das vierte Mal –, »zog er in das Gebiet von Galiläa und ließ sich in einer Stadt namens Nazaret nieder« (Mt 2,22-23).

Der Evangelist Lukas berichtet seinerseits, dass Josef die lange und beschwerliche Reise von Nazaret nach Betlehem auf sich nahm, um sich gemäß dem von Kaiser Augustus erlassenen Gesetz zur Volkszählung in seiner Heimatstadt eintragen zu lassen. Und unter eben diesen Umständen wurde Jesus geboren (vgl. Lk 2,1-7) und, wie alle anderen Kinder auch, ins Einwohnerverzeichnis des Reiches eingetragen.

Der heilige Lukas legt insbesondere Wert darauf mitzuteilen, dass die Eltern Jesu alle Vorschriften des Gesetzes einhielten: die Riten der Beschneidung Jesu, der Reinigung Marias nach der Geburt und der Darbringung des Erstgeborenen an Gott (vgl. 2,21-24).[15]

In jeder Lebenslage vermochte Josef, sein „fiat“ zu sprechen, wie Maria bei der Verkündigung und Jesus in Getsemani.

Als Familienoberhaupt brachte Josef Jesus bei, seinen Eltern zu gehorchen (vgl. Lk 2,51), wie es dem Gebot Gottes entspricht (vgl. Ex 20,12).

In der Verborgenheit von Nazaret, in der Schule Josefs, lernte Jesus, den Willen des Vaters zu tun. Dieser Wille wurde zu seiner täglichen Speise (vgl. Joh 4,34). Auch im schwierigsten Augenblick seines Lebens, in Getsemani, zog er es vor, den Willen des Vaters zu tun und nicht seinen eigenen,[16] und er war »gehorsam bis zum Tod [...] am Kreuz« (Phil 2,8). Aus diesem Grund kommt der Verfasser des Hebräerbriefes zu dem Schluss, dass Jesus »durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt« hat (5,8).

All diese Ereignisse zeigen: Josef war »von Gott dazu berufen, durch die Ausübung seiner Vaterschaft unmittelbar der Person und Sendung Jesu zu dienen: Auf diese Weise wirkt er in der Fülle der Zeit an dem großen Geheimnis der Erlösung mit und ist tatsächlich Diener des Heils«.[17]

4. Vater im Annehmen

Josef nimmt Maria ohne irgendwelche Vorbedingungen an. Er vertraut auf die Worte des Engels. »Der Edelmut seines Herzens lässt ihn das, was er vom Gesetz gelernt hat, der Liebe unterordnen. Heute stellt sich Josef dieser Welt, in der die psychische, verbale und physische Gewalt gegenüber der Frau offenkundig ist, als Gestalt eines respektvollen und feinfühligen Mannes dar, der, obwohl er nicht im Besitz aller Informationen ist, sich zugunsten des guten Rufs, der Würde und des Lebens Marias entscheidet. Und in seinem Zweifel, wie er am besten handeln soll, half ihm Gott bei der Wahl mit dem Licht der Gnade für sein Urteil.«[18]

Oft geschehen in unserem Leben Dinge, deren Bedeutung wir nicht verstehen. Unsere erste Reaktion ist oft die der Enttäuschung und des Widerstandes. Josef lässt seine Überlegungen beiseite, um dem Raum zu geben, was geschieht. Wie rätselhaft es ihm auch erscheinen mag, er nimmt es an, übernimmt Verantwortung dafür und versöhnt sich mit seiner eigenen Geschichte. Wenn wir uns nicht mit unserer Geschichte versöhnen, werden wir auch nicht in der Lage sein, den nächsten Schritt zu tun, denn dann bleiben wir immer eine Geisel unserer Erwartungen und der daraus resultierenden Enttäuschungen.

Das geistliche Leben, das Josef uns zeigt, ist nicht ein Weg, der erklärt, sondern ein Weg, der annimmt. Nur von dieser Annahme her, von dieser Versöhnung her können wir auch eine größere Geschichte, einen tieferen Sinn erahnen. Es scheint wie ein Widerhall der leidenschaftlichen Worte Ijobs, der auf die Forderung seiner Frau, sich gegen all das Böse aufzulehnen, das ihm widerfährt, antwortet: »Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?« (Ijob 2,10).

Josef ist kein passiv resignierter Mann. Er ist ein mutiger und starker Protagonist. Die Fähigkeit, etwas annehmen zu können, ist eine Weise, wie sich die Gabe der Stärke, die vom Heiligen Geist kommt, in unserem Leben offenbart. Nur der Herr kann uns die Kraft geben, das Leben so anzunehmen, wie es ist, und selbst dem, was darin widersprüchlich, unerwartet oder enttäuschend ist, Raum zu geben.

Jesu Kommen in unsere Mitte ist ein Geschenk des Vaters, auf dass ein jeder sich mit seiner konkreten eigenen Geschichte versöhnen möge, auch wenn er sie nicht ganz versteht.

Das, was Gott zu unserem Heiligen gesagt hat: »Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht« (Mt 1,20), scheint er auch uns zu sagen: „Fürchtet euch nicht!“ Wir müssen unseren Ärger und unsere Enttäuschung ablegen und ohne weltliche Resignation, sondern mit hoffnungsvoller Kraft Platz machen für das, was wir nicht gewählt haben und was doch existiert. Das Leben auf diese Weise anzunehmen führt uns zu einem verborgenen Sinn. Das Leben eines jeden von uns kann auf wundersame Weise neu beginnen, wenn wir den Mut finden, es gemäß den Weisungen des Evangeliums zu leben. Und es spielt keine Rolle, ob alles schief gelaufen zu sein scheint und ob einige Dinge mittlerweile nicht mehr rückgängig zu machen sind. Gott kann Blumen zwischen den Felsen sprießen lassen. Auch wenn unser Herz uns verurteilt, Gott ist größer als unser Herz und er weiß alles (vgl. 1 Joh 3,20).

Hier geht es wieder um jenen christlichen Realismus, der nichts von dem, was existiert, wegwirft. In ihrer geheimnisvollen Unergründlichkeit und Vielschichtigkeit ist die Wirklichkeit Trägerin eines Sinns der Existenz mit ihren Lichtern und ihren Schatten. Deswegen kann der Apostel Paulus sagen: »Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten gereicht« (Röm 8,28). Und der heilige Augustinus fügt hinzu: »Auch das, was böse heißt (etiam illud quod malum dicitur)«.[19] In dieser Gesamtperspektive gibt der Glaube jedem glücklichen oder traurigen Ereignis einen Sinn.

Es liegt uns fern, zu meinen, „glauben“ bedeute, einfache vertröstende Lösungen zu finden. Der Glaube, den Christus uns gelehrt hat, ist vielmehr der Glaube, den wir am heiligen Josef sehen, der nicht nach Abkürzungen sucht, sondern dem, was ihm widerfährt, „mit offenen Augen“ begegnet und persönlich Verantwortung übernimmt.

Die Annahmebereitschaft Josefs lädt uns ein, andere nicht auszuschließen, sondern sie so anzunehmen, wie sie sind, besonders die Schwachen, denn Gott erwählt das Schwache (vgl. 1 Kor 1,27), er ist ein »Vater der Waisen, ein Anwalt der Witwen« (Ps 68,6) und gebietet uns, die Fremden zu lieben.[20] Gerne stelle ich mir vor, dass die Haltung Josefs Jesus zum Gleichnis vom verlorenen Sohn und vom barmherzigen Vater inspiriert hat (vgl. Lk 15,11-32).

5. Vater mit kreativem Mut

Wenn auch die erste Stufe jeder echten inneren Heilung darin besteht, die eigene Geschichte anzunehmen, das heißt, dem in uns Raum zu schaffen, was wir uns in unserem Leben nicht selbst ausgesucht haben, braucht es dennoch eine weitere wichtige Eigenschaft: den kreativen Mut. Er entsteht vor allem dort, wo man auf Schwierigkeiten trifft. Wenn man vor einem Problem steht, kann man entweder aufhören und das Feld räumen, oder man kann es auf irgendeine Weise angehen. Manchmal sind es gerade die Schwierigkeiten, die bei jedem von uns Ressourcen zum Vorschein bringen, von denen wir nicht einmal dachten, dass wir sie besäßen.

Beim Lesen der „Kindheitsevangelien“ stellt sich des Öfteren die Frage, warum Gott nicht direkt und klar eingeschritten ist. Aber Gott wirkt durch Ereignisse und Menschen. Josef ist der Mann, durch den Gott für die Anfänge der Erlösungsgeschichte Sorge trägt. Er ist das wahre „Wunder“, durch das Gott das Kind und seine Mutter rettet. Der Himmel greift ein, indem er auf den kreativen Mut dieses Mannes vertraut, der, als er bei der Ankunft in Betlehem keinen Ort findet, wo Maria gebären kann, einen Stall herrichtet und so bereitet, dass er für den in die Welt kommenden Sohn Gottes ein möglichst behaglicher Ort wird (vgl. Lk 2,6-7). Angesichts der drohenden Gefahr des Herodes, der das Kind töten will, wird Josef im Traum erneut gewarnt, das Kind zu beschützen, und so organisiert er mitten in der Nacht die Flucht nach Ägypten (vgl. Mt 2,13-14).

Bei einer oberflächlichen Lektüre dieser Geschichten hat man immer den Eindruck, dass die Welt den Starken und Mächtigen ausgeliefert ist, aber die „gute Nachricht“ des Evangeliums besteht darin zu zeigen, wie Gott trotz der Arroganz und Gewalt der irdischen Herrscher immer einen Weg findet, seinen Heilsplan zu verwirklichen. Auch unser Leben scheint manchmal starken Mächten ausgeliefert zu sein. Doch das Evangelium sagt uns, dass es Gott immer gelingt, das zu retten, worauf es ankommt, vorausgesetzt, dass wir den gleichen kreativen Mut aufbringen wie der Zimmermann von Nazaret. Er versteht es, ein Problem in eine Chance zu verwandeln, und zwar dadurch, dass er immer in erster Linie auf die Vorsehung vertraut.

Wenn Gott uns manchmal nicht zu helfen scheint, bedeutet das nicht, dass er uns im Stich gelassen hat, sondern dass er auf uns vertraut und auf das, was wir planen, entwickeln und finden können.

Hierbei handelt es sich um denselben kreativen Mut, den die Freunde des Gelähmten bewiesen, als sie ihn, um ihn zu Jesus zu bringen, vom Dach herabließen (vgl. Lk 5,17-26). Die Kühnheit und Hartnäckigkeit dieser Freunde war durch keine Schwierigkeit aufzuhalten. Sie waren überzeugt, dass Jesus den Kranken heilen konnte. »Weil es ihnen aber wegen der Volksmenge nicht möglich war, ihn hineinzubringen, stiegen sie aufs Dach und ließen ihn durch die Ziegel auf dem Bett hinunter in die Mitte vor Jesus hin. Als er ihren Glauben sah, sagte er: Mensch, deine Sünden sind dir vergeben« (V. 19-20). Jesus erkennt den einfallsreichen Glauben, mit dem diese Männer versuchen, ihren kranken Freund zu ihm zu bringen.

Das Evangelium gibt keine Auskunft über die Zeit, in der sich Maria und Josef und das Kind in Ägypten aufhielten. Sicherlich aber mussten sie essen, eine Bleibe und Arbeit finden. Es braucht nicht viel Phantasie, um das diesbezügliche Schweigen des Evangeliums zu füllen. Die Heilige Familie musste sich konkreten Problemen stellen wie alle anderen Familien, wie viele unserer Brüder und Schwestern Migranten, die auch heute noch aufgrund von Not und Hunger gezwungen sind, ihr Leben zu riskieren. In diesem Sinne glaube ich, dass der heilige Josef in der Tat ein besonderer Schutzpatron für all jene ist, die wegen Krieg, Hass, Verfolgung und Elend ihr Land verlassen müssen.

Am Ende aller Szenen, in denen Josef eine wichtige Rolle spielt, vermerkt das Evangelium, dass er aufsteht, das Kind und seine Mutter mit sich nimmt und das tut, was Gott ihm befohlen hat (vgl. Mt 1,24; 2,14.21). In der Tat sind Jesus und Maria, seine Mutter, der wertvollste Schatz unseres Glaubens.[21]

Im Heilsplan kann man den Sohn nicht von der Mutter trennen. Sie ging »den Pilgerweg des Glaubens. Ihre Vereinigung mit dem Sohn hielt sie in Treue bis zum Kreuz«.[22]

Wir müssen uns immer fragen, ob wir Jesus und Maria, die auf geheimnisvolle Weise unserer Verantwortung, unserer Fürsorge, unserer Obhut anvertraut sind, mit all unseren Kräften behüten. Der Sohn des Allmächtigen kommt als schwaches Kind in die Welt. Er macht sich von Josef abhängig, um verteidigt, geschützt, gepflegt und erzogen zu werden. Gott vertraut diesem Mann, ebenso wie Maria, die in Josef denjenigen findet, der nicht nur ihr Leben retten will, sondern der immer für sie und das Kind sorgen wird. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass der heilige Josef der Schutzpatron der Kirche ist, denn die Kirche ist die Ausdehnung des Leibes Christi in der Geschichte, und gleichzeitig ist in der Mutterschaft der Kirche die Mutterschaft Mariens angedeutet.[23] Indem Josef die Kirche beschützt, beschützt er weiterhin das Kind und seine Mutter, und indem wir die Kirche lieben, lieben auch wir immerfort das Kind und seine Mutter.

Eben dieses Kind wird einmal sagen: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). So ist jeder Bedürftige, jeder Arme, jeder Leidende, jeder Sterbende, jeder Fremde, jeder Gefangene, jeder Kranke „das Kind“, das Josef weiterhin beschützt. Deshalb wird der heilige Josef als Beschützer der Elenden, der Bedürftigen, der Verbannten, der Bedrängten, der Armen und der Sterbenden angerufen. Und deshalb kann die Kirche nicht umhin, in besonderer Weise die Geringsten zu lieben, weil Jesus für sie eine Vorliebe hatte und sich persönlich mit ihnen identifizierte. Von Josef müssen wir die gleiche Fürsorge und Verantwortung lernen: das Kind und seine Mutter zu lieben; die Sakramente und die Nächstenliebe zu lieben; die Kirche und die Armen zu lieben. Jede dieser Wirklichkeiten ist immer das Kind und seine Mutter.

6. Vater und Arbeiter

Ein Aspekt, der den heiligen Josef auszeichnet und der seit der Zeit der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum von Leo XIII. hervorgehoben wurde, ist sein Bezug zur Arbeit. Der heilige Josef war ein Zimmermann, der ehrlich arbeitete, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern. Von ihm lernte Jesus, welch ein Wert, welch eine Würde und welch eine Freude es bedeutet, das Brot zu essen, das die Frucht eigener Arbeit ist.

In dieser unserer Zeit, in der die Arbeit wieder zu einem dringenden sozialen Thema geworden zu sein scheint und die Arbeitslosigkeit manchmal drastische Ausmaße annimmt –  auch in Ländern, in denen seit Jahrzehnten ein gewisser Wohlstand herrscht –, ist es notwendig, die Bedeutung einer Arbeit, die Würde verleiht, wieder ganz neu verstehen zu lernen.  Unser Heiliger ist dafür Vorbild und Schutzpatron.

Die Arbeit wird zur Teilnahme am Erlösungswerk selbst, sie wird zu einer Gelegenheit, das Kommen des Reiches Gottes zu beschleunigen, die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten weiterzuentwickeln und sie in den Dienst der Gesellschaft und der Gemeinschaft zu stellen; die Arbeit wird nicht nur zu einer Gelegenheit der eigenen Verwirklichung, sondern vor allem auch für den ursprünglichen Kern der Gesellschaft, die Familie. Eine von Arbeitslosigkeit betroffene Familie ist Schwierigkeiten, Spannungen, Brüchen, ja der verzweifelten und weiter in die Verzweiflung führenden Versuchung der Auflösung stärker ausgesetzt. Wie können wir über die Menschenwürde sprechen, ohne uns dafür einzusetzen, dass alle und jeder Einzelne eine Chance auf einen würdigen Lebensunterhalt haben?

Der Mensch, der arbeitet, egal welcher Aufgabe er nachgeht, arbeitet mit Gott selbst zusammen und wird ein wenig zu einem Schöpfer der Welt, die uns umgibt. Die Krise unserer Zeit, die eine wirtschaftliche, soziale, kulturelle und geistliche Krise ist, mag allen ein Aufruf sein, den Wert, die Bedeutung und die Notwendigkeit der Arbeit wieder neu zu entdecken, um eine neue „Normalität“ zu begründen, in der niemand ausgeschlossen ist. Die Arbeit des heiligen Josef erinnert uns daran, dass der menschgewordene Gott selbst die Arbeit nicht verschmähte. Die Arbeitslosigkeit, von der viele Brüder und Schwestern betroffen sind und die in jüngster Zeit aufgrund der Covid-19-Pandemie zugenommen hat, muss zum Anlass werden, unsere Prioritäten zu überprüfen. Bitten wir den heiligen Josef, den Arbeiter, dass wir einmal verbindlich sagen können: Kein junger Mensch, keine Person, keine Familie ohne Arbeit!

7. Vater im Schatten

In seinem Buch Der Schatten des Vaters erzählte der polnische Schriftsteller Jan Dobraczyński[24] in Romanform das Leben des heiligen Josef. Mit dem eindrucksvollen Bild des Schattens umreißt er die Gestalt Josefs, der in Bezug auf Jesus der irdische Schatten des himmlischen Vaters ist. Er behütet und beschützt ihn, er weicht nicht von ihm und folgt seinen Schritten. Denken wir an das, was Mose dem Volk Israel in Erinnerung ruft: »In der Wüste [...] hat der Herr, dein Gott, dich auf dem ganzen Weg […] getragen, wie ein Mann sein Kind trägt« (Dtn 1,31). So hat Josef sein ganzes Leben lang die Vaterschaft ausgeübt.[25]

Als Vater wird man nicht geboren, Vater wird man. Und man wird zum Vater nicht einfach dadurch, dass man ein Kind in die Welt setzt, sondern dadurch, dass man sich verantwortungsvoll um es kümmert. Jedes Mal, wenn jemand die Verantwortung für das Leben eines anderen übernimmt, übt er ihm gegenüber in einem gewissem Sinne Vaterschaft aus.

In der Gesellschaft unserer Zeit scheinen die Kinder oft vaterlos zu sein. Auch die Kirche von heute braucht Väter. Die Mahnung, die der heilige Paulus an die Korinther richtet, bleibt immer aktuell: »Hättet ihr nämlich auch unzählige Erzieher in Christus, so doch nicht viele Väter« (1 Kor 4,15); und jeder Priester oder Bischof sollte wie der Apostel hinzufügen können: »In Christus Jesus habe ich euch durch das Evangelium gezeugt« (ebd.). Und zu den Galatern sagt Paulus: »Meine Kinder, für die ich von Neuem Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt annimmt« (4,19).

Vater zu sein bedeutet, das Kind an die Erfahrung des Lebens, an die Wirklichkeit heranzuführen. Nicht, um es festzuhalten, nicht, um es einzusperren, nicht, um es zu besitzen, sondern um es zu Entscheidungen, zur Freiheit, zum Aufbruch zu befähigen. Vielleicht aus diesem Grund spricht die Tradition Josef nicht nur als Vater an, sondern fügt hier noch das Wort „keusch“ hinzu. Dies ist nicht eine rein affektive Angabe, sondern drückt eine Haltung aus, die man als das Gegenteil von „besitzergreifend“ bezeichnen könnte. Keuschheit ist die Freiheit von Besitz in allen Lebensbereichen. Nur wenn eine Liebe keusch ist, ist sie wirklich Liebe. Die Liebe, die besitzen will, wird am Ende immer gefährlich, sie nimmt gefangen, erstickt und macht unglücklich. Gott selbst hat den Menschen mit keuscher Liebe geliebt und ihm die Freiheit gelassen, Fehler zu machen und sich gegen ihn zu stellen. Die Logik der Liebe ist immer eine Logik der Freiheit, und Josef war in der Lage, in außerordentlicher Freiheit zu lieben. Er hat sich nie selbst in den Mittelpunkt gestellt. Er verstand es, zur Seite zu treten und Maria und Jesus zur Mitte seines Lebens zu machen.

Josefs Glück gründet sich nicht auf die Logik der Selbstaufopferung, sondern der Selbsthingabe. Man nimmt bei diesem Mann nie Frustration wahr, sondern nur Vertrauen. Sein beharrliches Schweigen ist nicht Ausdruck der Klage, sondern immer konkreten Vertrauens. Die Welt braucht Väter, Despoten aber lehnt sie ab, also diejenigen, die besitzergreifend sind, um ihre eigene Leere zu füllen; sie lehnt die ab, die Autorität mit Autoritarismus verwechseln, Dienst mit Unterwürfigkeit, Auseinandersetzung mit Unterdrückung, Nächstenliebe mit übertriebener Fürsorge, Stärke mit Zerstörung. Jede wahre Berufung kommt aus der Selbsthingabe, die die reifere Form des bloßen Opfers ist. Auch im Priestertum und im geweihten Leben ist diese Art von Reife erforderlich. Dort, wo eine eheliche, zölibatäre oder jungfräuliche Berufung nicht die Reife der Selbsthingabe erreicht und allein bei der Logik des Opfers stehen bleibt, wird sie kaum zu einem Zeichen für die Schönheit und die Freude der Liebe werden, sondern womöglich den Eindruck von Unglück, Traurigkeit und Frustration erwecken. 

Eine Vaterschaft, die der Versuchung widersteht, das Leben der Kinder zu leben, eröffnet immer neue Räume. Jedes Kind trägt ein Geheimnis in sich, etwas noch nie Dagewesenes, das nur mit Hilfe eines Vaters zur Entfaltung gebracht werden kann, der seine Freiheit respektiert; eines Vaters, der sich bewusst ist, dass sein erzieherisches Handeln erst dann zum Ziel kommt und dass er erst dann sein Vatersein ganz lebt, wenn er sich „nutzlos“ gemacht hat, wenn er sieht, dass das Kind selbständig wird und allein auf den Pfaden des Lebens geht, wenn er sich in die Situation Josefs versetzt, der immer gewusst hat, dass das Kind nicht seines war, sondern einfach seiner Obhut anvertraut worden war. Im Grunde ist es das, was Jesus zu verstehen gibt, wenn er sagt: »Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel« (Mt 23,9).

Unter allen Umständen müssen wir bei der Ausübung von Vaterschaft immer darauf achten, dass sie nie besitzergreifend ist, sondern zeichenhaft auf eine höhere Vaterschaft verweist. In gewisser Weise sind wir alle immer in Josefs Lage: Wir sind „Schatten“ des einen Vaters im Himmel, der seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte (vgl. Mt 5,45); und wir sind „Schatten“ in der Nachfolge des Sohnes.

* * *

»Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter« (Mt 2,13), sagt Gott zum heiligen Josef.

Ziel dieses Apostolischen Schreibens ist es, die Liebe zu diesem großen Heiligen zu fördern und einen Anstoß zu geben, ihn um seine Fürsprache anzurufen und seine Tugenden und seine Tatkraft nachzuahmen.

In der Tat besteht die spezifische Sendung der Heiligen nicht nur darin, Wunder und Gnaden zu gewähren, sondern bei Gott Fürsprache für uns einzulegen, wie es Abraham[26] und Moses[27] taten und wie es Jesus tut, der eine Mittler (vgl. 1 Tim 2,5), der bei Gott unser »Beistand« ist (1 Joh 2,1), denn »er lebt allezeit, um für [uns] einzutreten« (Hebr 7,25; vgl. Röm 8,34).

Die Heiligen helfen allen Gläubigen bei ihrem »Streben nach Heiligkeit und ihrem Stand entsprechender Vollkommenheit«.[28] Ihr Leben ist ein konkreter Beweis dafür, dass es möglich ist, das Evangelium zu leben.

Jesus hat gesagt: »Lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig« (Mt 11,29); auch die Heiligen sind auf ihre Weise nachahmenswerte Vorbilder für das Leben. Der heilige Paulus ermahnte ausdrücklich dazu: »Haltet euch an mein Vorbild!« (1 Kor 4,16).[29] Der heilige Josef sagt dies durch sein beredtes Schweigen.

Angesichts des Beispiels so vieler heiliger Männer und Frauen fragte sich der heilige Augustinus: »Du solltest es nicht vermögen wie diese Männer, diese Frauen?« Und so gelangte er zur endgültigen Bekehrung und rief aus: »Spät hab ich dich geliebt, du Schönheit, ewig alt und ewig neu«.[30]

So wollen wir nun vom heiligen Josef die Gnade aller Gnaden erflehen – unsere Bekehrung.

Zu ihm lasst uns beten:

Sei gegrüßt, du Beschützer des Erlösers
und Bräutigam der Jungfrau Maria.
Dir hat Gott seinen Sohn anvertraut,
auf dich setzte Maria ihr Vertrauen,
bei dir ist Christus zum Mann herangewachsen.

O heiliger Josef, erweise dich auch uns als Vater,
und führe uns auf unserem Lebensweg.
Erwirke uns Gnade, Barmherzigkeit und Mut,
und beschütze uns vor allem Bösen. Amen.

Gegeben zu Rom, bei St. Johannes im Lateran, am 8. Dezember, dem Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria, im Jahr 2020, dem achten meines Pontifikats.

FRANZISKUS

 


[1] Joh 6,42; vgl. Mt 13,55; Mk 6,3; Lk 4,22.

[2] S. Rituum Congreg., Quemadmodum Deus (8. Dezember 1870): ASS 6 (1870-71), 194.

[3]Vgl. Ansprache an die ACLI anlässlich des Gedenktags des heiligen Josef, des Arbeiters (1. Mai 1955): AAS 47 (1955), 406.

[4] Apostolisches Schreiben Redemptoris custos (15. August 1989): AAS 82 (1990), 5-34.

[5] Katechismus der Katholischen Kirche, 1014.

[6] Besondere Andacht in der Zeit der Pandemie (27. März 2020): L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 50 (2020), Nr. 14/15 (3. April 2020), S. 6.

[7] In Matth. Hom., V, 3: PG 57, 58.

[8] Homilie (19. März 1966): Insegnamenti di Paolo VI, IV (1966), 110.

[9] Vgl. Das Buch meines Lebens, 6, 6-8.

[10] Seit mehr als vierzig Jahren bete ich jeden Tag nach den Laudes ein Gebet zum heiligen Josef, das einem französischen Andachtsbuch der Kongregation der Barmherzigen Schwestern von Jesus und Maria aus dem 19. Jahrhundert entnommen ist. Dieses Gebet bringt dem heiligen Josef Verehrung und Vertrauen entgegen, fordert ihn aber auch ein wenig heraus: »Heiliger Josef, glorreicher Patriarch, der du das Unmögliche möglich machen kannst, komm mir in meiner Not und Bedrängnis zu Hilfe. Gewähre in den ernsten und schwierigen Anliegen, die ich dir anvertraue, deinen Schutz, sodass alles ein glückliches Ende nimmt. Mein geliebter Vater, ich setze mein ganzes Vertrauen in dich. Niemand soll sagen können, er habe dich vergeblich angerufen, und da du bei Jesus und Maria alles erwirken kannst, lass mich erfahren, dass deine Güte ebenso groß ist wie deine Macht. Amen.«

[11] Vgl. Dtn 4,31; Ps 69,17; 78,38; 86,5; 111,4; 116,5; Jer 31,20.

[12] Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 88; 288: AAS 105 (2013), 1057; 1136-1137.

[13] Vgl. Gen 20,3; 28,12; 31,11.24; 40,8; 41,1-32; Num 12,6; 1 Sam 3,3-10; Dan 2 u. 4; Ijob 33,15.

[14] In diesen Fällen war sogar die Steinigung vorgesehen (vgl. Dtn 22,20-21).

[15] Vgl. Lev 12,1-8; Ex 13,2.

[16] Vgl. Mt 26,39; Mk 14,36; Lk 22,42.

[17] Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Redemptoris custos (15. August 1989), 8: AAS 82 (1990), 14.

[18] Homilie in der heiligen Messe mit Seligsprechungen, Villavicencio - Kolumbien (8. September 2017): AAS 109 (2017), 1061.

[19] Enchiridion de fide, spe et caritate, 3,11: PL 40, 236.

[20] Vgl. Dtn 10,19; Ex 22,20-22; Lk 10,29-37.

[21] Vgl.S. Rituum Congreg., Quemadmodum Deus (8. Dezember 1870): ASS 6 (1870-71), 193; Pius IX., Apostolisches Schreiben Inclytum Patriarcham (7. Juli 1871): l.c., 324-327.

[22] Zweites Vatikanisches Ökumenisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium, 58.

[23]Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 963-970.

[24] Originalausgabe: Cień Ojca, Warschau 1977.

[25] Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Redemptoris custos, 7-8: AAS 82 (1990), 12-16.

[26] Vgl. Gen 18,23-32.

[27] Vgl. Ex 17,8-13; 32,30-35.

[28] Zweites Vatikanisches Ökumenisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium, 42.

[29]Vgl. 1 Kor 11,1; Phil 3,17; 1 Thess 1,6.

[30] Confessiones, 8, 11,27: PL 32, 761; 10, 27,38: PL 32,795.

 



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