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SCHREIBEN DES HEILIGEN VATERS
AN DIE TEILNEHMER AM FRÜHJAHRSTREFFEN 2021
DES INTERNATIONALEN WÄHRUNGSFONDS UND DER WELTBANK

[5.-11. April 2021]

 

Ich danke für die freundliche Einladung, mich an die Teilnehmer der Frühjahrstreffen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds 2021 zu wenden und tue es durch diesen Brief, den ich Kardinal Peter Turkson anvertraut habe, dem Präfekten des Dikasteriums des Heiligen Stuhls für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen.

Im vergangenen Jahr war unsere Welt als Folge der Covid-19-Pandemie gezwungen, sich mit einer Reihe gravierender und in Wechselbeziehung stehender sozialwirtschaftlicher, ökologischer und politischer Krisen auseinanderzusetzen. Es ist meine Hoffnung, dass Ihre Beratungen zu einem Modell der »Wiederbelebung« beitragen, das in der Lage ist, neue inklusivere und nachhaltigere Lösungen zu finden, um die Realwirtschaft zu unterstützen sowie Einzelpersonen und Gemeinschaften zu helfen, ihre tiefsten Wünsche und auch das universale Gemeinwohl zu verwirklichen. Das Konzept einer »Wiederbelebung« darf sich nicht damit zufriedengeben, zu einem ungerechten und nichtnachhaltigen Modell wirtschaftlichen und sozialen Lebens zurückzukehren, wo eine sehr kleine Minderheit der Weltbevölkerung die Hälfte des Reichtums besitzt.

Trotz unserer tiefen Überzeugung, nach der alle Männer und Frauen vor Gott gleich sind, sind viele unserer Brüder und Schwestern in der Menschheitsfamilie, vor allem an den Rändern der Gesellschaft, de facto aus der Finanzwelt ausgeschlossen. Doch die Pandemie hat uns erneut vor Augen geführt, dass sich niemand alleine rettet. Wenn wir aus dieser Situation als bessere, menschlichere und solidarischere Welt hervorgehen wollen, dann müssen wir neue und kreative Formen der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Partizipation finden, die aufmerksam sind für die Stimme der Armen und die sich dafür einsetzen, sie in den Aufbau unserer gemeinsamen Zukunft einzubeziehen (vgl. Fratelli tutti, 169).

Sie sehr gut, dass das Vertrauen, das der Vernetzung der Personen entspringt, der Eckstein jeder Beziehung ist, einschließlich derer im Bereich der Finanzen. Diese Beziehungen können nur durch die Entwicklung einer »Kultur der Begegnung« aufgebaut werden, in der jede Stimme gehört werden kann und alle Wohlergehen genießen können, indem sie Berührungspunkte suchen, Brücken schlagen und etwas planen, das alle miteinbezieht (vgl. ebd., 216).

Während viele Länder jetzt individuelle Projekte für den Aufschwung konsolidieren, besteht weiterhin die dringende Notwendigkeit eines globalen Projekts, das neue Institutionen schaffen oder die bestehenden wiederbeleben kann, besonders auf der Ebene des globalen politischen Handelns, und das helfen kann, ein neues Netz internationaler Beziehungen zu knüpfen, um die ganzheitliche menschliche Entwicklung aller Völker zu fördern. Das bedeutet notwendigerweise, den ärmeren und weniger entwickelten Nationen konkrete Partizipationsmöglichkeiten an der Entscheidungsfindung zu geben und ihnen den Zugang zum internationalen Markt zu erleichtern.

Im Geist globaler Solidarität ist auch mindestens eine bedeutsame Reduzierung der von der Pandemie verschärften Schuldenlast der ärmeren Nationen erforderlich. Die Schuldenlast so vieler Länder und Gemeinschaften zu reduzieren ist heute eine zutiefst humane Geste, die den Menschen helfen kann, Fortschritte zu machen sowie Zugang zu Impfstoffen, zum Gesundheitswesen, zur Ausbildung und zu einem Arbeitsplatz zu haben.

Wir dürfen auch eine andere Art von »Schulden « nicht übersehen: die »ökologische Schuld«, die vor allem zwischen dem Norden und dem Süden der Welt besteht. Denn wir haben in der Tat Schulden gegenüber der Natur wie auch gegenüber den Menschen und Ländern, die betroffen sind von den vom Menschen verursachten Umweltschäden und Biodiversitätsverlusten. In dieser Hinsicht denke ich, dass die Finanzdienstleistung, die sich durch ihre große Kreativität auszeichnet, sich als fähig erweisen wird, flexible Mechanismen zu entwickeln, um diese ökologischen Schulden zu berechnen, so dass die Industriestaaten sie bezahlen können, indem sie nicht nur den Konsum von nicht erneuerbarer Energie spürbar senken oder den ärmeren Ländern helfen, nachhaltige Entwicklungspolitik und -programme umzusetzen, sondern auch indem sie die zu diesem Zweck notwendigen Kosten übernehmen (vgl. Laudato si, 51-52).

Zentral für eine gerechte und integrierte Entwicklung ist ein tiefes Verständnis für das wesentliche Ziel und den Zweck allen wirtschaftlichen Lebens, nämlich das universale Gemeinwohl. Daraus folgt, dass öffentliches Geld niemals vom Gemeinwohl abgekoppelt werden darf und dass die Finanzmärkte durch Gesetze und Vorschriften gestützt werden sollten, die sicherstellen, dass sie wirklich für das Gemeinwohl arbeiten. Eine Verpflichtung zu wirtschaftlicher, finanzieller und sozialer Solidarität impliziert also viel mehr als sporadische Akte der Großzügigkeit. »Es bedeutet, dass man im Sinne der Gemeinschaft denkt und  handelt, dass man dem Leben aller Vorrang einräumt – und nicht der Aneignung der Güter durch einige wenige. Es bedeutet auch, dass man gegen die strukturellen Ursachen der Armut kämpft: Ungleichheit, das Fehlen von Arbeit, Boden und Wohnung, die Verweigerung der sozialen Rechte und der Arbeitsrechte. […] Die Solidarität, verstanden in ihrem tiefsten Sinne, ist eine Art und Weise, Geschichte zu machen« (Fratelli tutti, 116).

Es ist an der Zeit, anzuerkennen, dass sich die Märkte – vor allem die Finanzmärkte – nicht selbst regulieren. Die Märkte müssen durch Gesetze und Vorschriften gestützt werden, die sicherstellen, dass sie im Sinne des Gemeinwohls arbeiten und gewährleisten, dass das Finanzwesen – anstatt nur spekulativ zu sein oder sich nur selbst zu finanzieren – für die sozialen Ziele arbeitet, die im Zusammenhang mit dem aktuellen globalen Gesundheitsnotstand so dringend sind.

Hierbei brauchen wir vor allem eine gerecht finanzierte Impfstoffsolidarität, denn wir dürfen nicht zulassen, dass das Gesetz des Marktes Vorrang vor dem Gesetz der Liebe und der Gesundheit für alle hat. Ich wiederhole hier meinen Aufruf an Regierungsvertreter, Unternehmen und internationale Organisationen, zusammenzuarbeiten, um Impfstoffe für alle bereitzustellen, insbesondere für die Schwächsten und Bedürftigsten (vgl. Botschaft »Urbi et orbi«, Weihnachten 2020).

Ich hoffe, dass Ihre formalen Beratungen und persönlichen Treffen in diesen Tagen reiche Frucht tragen werden, um weise Lösungen für eine integrativere und nachhaltigere Zukunft zu finden. Eine Zukunft, in der das Finanzwesen dem Gemeinwohl dient, in der die Schutzlosen und Ausgegrenzten in den Mittelpunkt gestellt werden und in der die Erde, unser gemeinsames Haus, gut bewahrt wird.

Indem ich meine besten Wünsche, verbunden mit dem Gebet, für den Erfolg der Treffen ausspreche, rufe ich auf alle Teilnehmer Gottes Segen der Weisheit und des Verstehens, des guten Rates, der Kraft und des Friedens herab.

Aus dem Vatikan, am 4. April 2021

Franziskus

 



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