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VOM KARDINALSTAATSSEKRETÄR UNTERZEICHNETE BOTSCHAFT
DES HEILIGEN VATERS ZUM XLI.
MEETING FÜR DIE
FREUNDSCHAFT UNTER DEN VÖLKERN

[RIMINI, 18.-23. AUGUST 2020]

 

An Seine Exzellenz
Francesco Lambiasi Bischof von Rimini


Exzellenz! Der Heilige Vater möchte durch Sie seine guten Wünsche für das Gelingen des 31. »Meetings für die Freundschaft zwischen den Völkern« übermitteln, das vorwiegend in digitaler Form stattfinden wird. Den Organisatoren sowie allen, die daran teilnehmen werden, sichert Papst Franziskus seine Nähe und sein Gebet zu. Wer hat sich durch die dramatische Erfahrung der Pandemie nicht den anderen verbunden gefühlt?

»Uns wurde klar, dass wir alle im selben Boot sitzen, alle schwach und orientierungslos sind […]. Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt und aufgegeben haben, die unser Leben und unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen« (Franziskus, Besondere Andacht in der Zeit der Pandemie, Vorplatz des Petersdoms, 27. März 2020). Der diesjährige Titel – »Des Staunens beraubt, bleiben wir dem Erhabenen gegenüber taub« (A.J. Heschel, Gott sucht den Menschen, Neukirchen-Vluyn 1995, S. 193) – leistet einen kostbaren und ureigenen Beitrag in einem schwindelerregenden Augenblick der Geschichte.

Auf der Suche nach den Gütern anstelle des Guten hatten viele ausschließlich auf die eigenen Kräfte gesetzt, auf die Fähigkeit, zu produzieren und zu verdienen, unter Verzicht auf jene Haltung, die bei Kindern der »Stoff« ist, aus dem ihr Blick auf die Wirklichkeit gemacht ist: das Staunen. In diesem Zusammenhang schrieb G.K. Chesterton: »Die unergründlichsten Schulen und weise Männer haben niemals die Tiefe erreicht, die in den Augen eines drei Monate alten Kindes wohnt. Es ist die Tiefe des Staunens über die Welt, und Staunen über die Welt ist nicht Mystizismus, sondern transzendenter Menschenverstand« (Verteidigung der Kinderanbetung, in: G.K. Chesterton, Gesammelte Werke, e-artnow, 2014, S. 1060).

Das erinnert an die Aufforderung Jesu, zu werden wie die Kinder (vgl. Mt 18,3), aber auch das Staunen angesichts des Seins, das das Prinzip der Philosophie im antiken Griechenland war. Dieses Staunen setzt das Leben immer wieder in Gang und lässt es in jeder Situation neu beginnen: Es ist das »angemessene Verhalten, weil das Leben ein Geschenk ist, das uns die Möglichkeit gibt, immer wieder neu anzufangen«, hat Papst Franziskus gesagt und dabei auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Staunen wiederzuerlangen, um zu leben: »Das Leben ohne Staunen wird grau und eintönig, ebenso der Glaube. Und auch die Kirche muss immer neu das Staunen über die Tatsache lernen, Wohnung des lebendigen Gottes, Braut des Herrn, Kinder gebärende Mutter zu sein« (Predigt, 1. Januar 2019).

In den vergangenen Monaten haben wir diese Dimension des Staunens erfahren, das die Form des Mitgefühls angesichts des Leidens, der Schwäche, der Unsicherheit der Existenz annimmt. Dieses edle menschliche Empfinden hat Ärzte und Pflegepersonal dazu gebracht, sich der ernsten Herausforderung des Coronavirus mit unermüdlicher Hingabe und bewundernswertem Einsatz zu stellen. Dieselbe liebevolle Zuneigung zu ihren Schülern hat viele Lehrern veranlasst, die Mühe des Fernunterrichts auf sich zu nehmen und so den Abschluss des Schuljahres zu gewährleisten. Ebenso hat es vielen Menschen gestattet, in den Gesichtern und in der Gegenwart ihrer Angehörigen wieder die Kraft zu finden, Leiden und Mühen auf sich zu nehmen. In diesem Sinne ist das Thema des bevorstehenden »Meetings« ein kraftvoller Aufruf, sich über das Seil des Staunens in die Tiefe des menschlichen Herzens hinabzulassen.

Wie sollte man nicht echtes Staunen empfinden angesichts des Schauspiels einer Gebirgslandschaft, oder wenn man Musik hört, die die Seele zum Schwingen bringt, oder einfach über die Existenz derer, die uns lieben, und des Geschenks der Schöpfung? Das Staunen ist wirklich der Weg, um die Zeichen des Erhabenen zu erkennen, also jenes Geheimnisses, das die Wurzel und die Grundlage aller Dinge darstellt. Denn in der Tat stellt »nicht nur das Herz des Menschen ein Zeichen dar, sondern auch die gesamte Wirklichkeit«. »Um sich angesichts der Zeichen Fragen zu stellen, braucht man eine äußerst menschliche Fähigkeit, die erste, die wir als Menschen haben: das Staunen, die Fähigkeit zu staunen, wie Giussani es nennt. […] Nur das Staunen erkennt« (J.M. Bergoglio, in A. Savorana, Vita di don Giussani, Mailand 2014, 1034). Daher konnte J. L. Borges sagen: »Alle Gefühle vergehen, nur das Staunen bleibt« (Il deserto e il labirinto).

Wenn ein solcher Blick nicht gepflegt wird, wird man blind für das Dasein: In sich selbst verschlossen, wird man vom Vergänglichen angezogen und hört auf, die Wirklichkeit zu hinterfragen. Auch in der Wüste der Pandemie sind oft unterdrückte Fragen wiederaufgetaucht: Was ist der Sinn des Lebens, des Schmerzes, des Todes? »Der Mensch kann sich nicht mit reduzierten oder Teil-Antworten zufriedengeben, die dazu führen, dass er einen Aspekt der Realität ausblendet oder vergisst. […] Er trägt in sich eine Sehnsucht nach Unendlichem, eine unendliche Traurigkeit, eine Nostalgie […], die sich nur mit einer ebenso unendlichen Antwort zufriedengibt. […] Das Leben wäre eine widersinnige Sehnsucht, wenn es diese Antwort nicht gäbe« (vgl. J.M. Bergoglio, in: Vita di don Giussani, a.a.O., 1034).

Manche Menschen haben sich auf die Suche nach Antworten oder auch nur nach Fragen über den Sinn des Lebens gemacht, nach dem alle streben, auch ohne sich dessen bewusst zu sein. So ist etwas scheinbar Paradoxes geschehen: Statt ihren tiefsten Durst zu stillen, hat der Lockdown bei einigen die Fähigkeit wiedererweckt, über Menschen und Tatsachen zu staunen, die vorher als selbstverständlich betrachtet wurden. Dieser so dramatische Umstand hat uns, wenigstens für kurze Zeit, wieder eine aufrichtigere Wertschätzung für das Leben gegeben, ohne die Vielzahl an Ablenkungen und Vorurteilen, die den Blick vernebeln, die Dinge unscharf machen, das Staunen leer machen und uns davon abbringen, uns zu fragen, wer wir sind. Mitten im Gesundheitsnotstand hat der Papst einen Brief erhalten, der von verschiedenen Künstlern unterzeichnet war, die ihm dafür gedankt haben, dass er während einer Messe in Santa Marta für sie gebetet hatte.

Bei dieser Gelegenheit sagte er: »Die Künstler lassen uns verstehen, was die Schönheit ist, und ohne das Schöne kann man das Evangelium nicht verstehen« (Tagesmeditation, 7. Mai 2020). Wie entscheidend die Erfahrung der Schönheit ist, um zur Wahrheit zu gelangen, hat unter anderem der Theologe Hans Urs von Balthasar gezeigt: »In einer Welt ohne Schönheit […] hat auch das Gute seine Anziehungskraft, die Evidenz seines Getanwerden-müssens eingebüßt; der Mensch steht davor und fragt sich, warum er es tun soll, und nicht lieber das andere, das Böse. Es ist ja auch eine Möglichkeit, die erregendere sogar […]. In einer Welt, die es sich nicht mehr zutraut, das Schöne zu bejahen, haben die Beweise für die Wahrheit ihre Schlüssigkeit eingebüßt, […] das Schließen selbst ist ein Mechanismus, der niemanden fesselt, der Schluss selbst schließt nicht mehr« (Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. 1, Einsiedeln 1988³, S. 17).

Darum stellt das Thema, unter dem das »Meeting« steht, die Christen vor eine entscheidende Herausforderung. Sie sind aufgerufen, die tiefe Anziehungskraft zu bezeugen, die der Glaube kraft seiner Schönheit ausübt: die »Anziehungskraft Jesu«, wie ein Wort lautete, das der Diener Gottes Luigi Giussani sehr gerne hatte. Der Heilige Vater hat in dem Apostolischen Schreiben, das als das programmatische Dokument seines Pontifikats gilt, dazu geschrieben: »Alle Ausdrucksformen wahrer Schönheit [können] als Weg anerkannt werden, der hilft, dem Herrn Jesus zu begegnen. […] Wenn wir, wie Augustinus sagt, nur das lieben, was schön ist, dann ist der Mensch gewordene Sohn, die Offenbarung der unendlichen Schönheit, in höchstem Maß liebenswert und zieht uns mit Banden der Liebe an sich. Dann wird es notwendig, dass die Bildung in der ›via pulchritudinis‹ sich in die Weitergabe des Glaubens einfügt« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium,167).

Der Papst lädt euch daher ein, weiterhin mit ihm zusammenzuarbeiten, um die Erfahrung der Schönheit Gottes zu bezeugen, der Fleisch geworden ist, damit unsere Augen sein Antlitz bestaunen und unsere Blicke in ihm das Wunder des Lebens finden können. Der heilige Johannes Paul II., dessen 100. Geburtstag wir vor Kurzem gedacht haben, hat gesagt: »Es lohnt sich, Mensch zu sein, weil du, Jesus, Mensch gewesen bist« (Predigt, 15. April 1984). Ist diese erstaunliche Entdeckung etwa nicht der größte Beitrag, den die Christen leisten können, um die Hoffnung der Menschen zu stützen? Dieser Aufgabe dürfen wir uns nicht entziehen, besonders nicht an diesem Wendepunkt der Geschichte. Es ist der Aufruf, die Schönheit durchscheinen zu lassen, die unser Leben verändert hat, konkrete Zeugen der heilbringenden Liebe zu sein, besonders für jene, die jetzt am meisten leiden. Mit diesen Empfindungen sendet der Heilige Vater Eurer Exzellenz und der ganzen Gemeinschaft des »Meetings« von Herzen seinen Apos- tolischen Segen und bittet darum, auch weiterhin seiner im Gebet zu gedenken.

Ich schließe mich an mit einem herzlichen Gruß und versichere Eure Exzellenz meiner Ergebenheit im Herrn

Kardinal Pietro Parolin
Staatssekretär

 



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