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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE KOMMISSION DER BISCHOFSKONFERENZEN
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT

Synodenhalle
Samstag, 28 Oktober 2017

[Multimedia]


 

Eminenzen, Exzellenzen,
sehr geehrte Vertreter des öffentlichen Lebens,
meine Damen und Herren,

es freut mich, bei dieser abschließenden Zusammenkunft des von der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) veranstalteten Diskussionsforums (Re)Thinking Europe. Ein christlicher Beitrag zur Zukunft des europäischen Projekts teilzunehmen. Ich grüße insbesondere den Präsidenten, Seine Eminenz Kardinal Reinhard Marx, wie auch den Präsidenten des Europäischen Parlaments Antonio Tajani und ich danke ihnen für die ehrerbietigen Worte, die sie vorhin an mich gerichtet haben. Jedem von Ihnen möchte ich meine große Wertschätzung dafür zum Ausdruck bringen, dass Sie sich so zahlreich in diese wichtige Diskussionsrunde eingebracht haben. Danke!

Der Dialog dieser Tage hat die Gelegenheit dazu gegeben, dank der Anwesenheit von verschiedenen Personen unter Ihnen aus dem kirchlichen, politischen, akademischen Bereich oder einfach aus der zivilen Gesellschaft auf umfassende Weise über die Zukunft Europas aus einer Vielzahl von Blickwinkeln nachzudenken. Die Jungen haben ihre Erwartungen und Hoffnungen vorbringen und sie mit den Älteren diskutieren können, die ihrerseits die Möglichkeit hatten, ihnen ihren Erfahrungsschatz und ihre Überlegungen mitzuteilen. Es ist bezeichnend, dass diese Begegnung vor allem ein Dialog im Geist einer freien und offenen Auseinandersetzung sein wollte, durch den eine gegenseitige Bereicherung stattfinden und der Zukunftsweg Europas beleuchtet werden sollte, oder vielmehr der Weg, den wir alle zusammen aufgerufen sind zu beschreiten, um die Krisen zu überwinden, die wir durchmachen, und uns den Herausforderungen zu stellen, die auf uns warten.

Von einem christlichen Beitrag zur Zukunft des Kontinents zu sprechen, bedeutet vor allem, sich die Frage unserer Aufgabe als Christen heute in diesen im Lauf der Jahrhunderte so reich durch den Glauben geprägten Ländern zu stellen. Welche Verantwortung haben wir in einer Zeit, in der das Angesicht Europas immer mehr von einer Pluralität von Kulturen und Religionen gekennzeichnet ist, während das Christentum für viele als ein fernes und fremdes Element aus der Vergangenheit wahrgenommen wird?

Person und Gemeinschaft

Als die antike Zivilisation unterging und die Herrlichkeiten Roms zu jenen Ruinen wurden, die wir heute noch in der Stadt bewundern können, als die neuen Völker über die Grenzen des alten Reichs drängten, ließ ein junger Mann die Stimme des Psalmisten widerhallen: »Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht?«.[1] Mit der Formulierung dieser Fragestellung im Prolog der Regula lenkte der heilige Benedikt die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen – und auch die unsere – auf eine Auffassung vom Menschen, die sich von derjenigen der griechisch-römischen Klassik und noch mehr von jener gewalttätigen, die für die einfallenden Barbaren charakteristisch war, radikal unterschied. Der Mensch ist nicht mehr einfach ein civis, ein mit Vorrechten ausgestatteter Bürger, an denen er sich in der Muße erfreuen kann; er ist nicht mehr ein miles, ein kämpferischer Diener des jeweiligen Machthabers; vor allem ist er nicht mehr ein servus, eine Tauschware, die der Freiheit beraubt ist und einzig für die Arbeit und die Anstrengung bestimmt ist.

Der heilige Benedikt achtet nicht auf den sozialen Stand oder auf den Reichtum oder die Macht, die jemand innehat. Er wendet sich an die gemeinsame Natur jedes Menschen, der - gleich welchen Standes - sich nach dem Leben sehnt und sich glückliche Tage wünscht. Für Benedikt gibt es keine Rollen, sondern Personen, keine Adjektive, sondern Substantive. Gerade dies ist einer der Grundwerte, den das Christentum gebracht hat: der Sinn für die Person, die nach dem Ebenbild Gottes gebildet ist. Ausgehend von diesem Grundsatz wird man Klöster bauen, die über die Zeit zur Wiege der menschlichen, kulturellen und religiösen und auch wirtschaftlichen Renaissance des Kontinents werden.

Der erste und vielleicht größte Beitrag, den die Christen dem heutigen Europa bringen können, ist es, daran zu erinnern, dass es nicht eine Ansammlung von Zahlen oder Institutionen ist, sondern aus Menschen besteht. Leider ist festzustellen, wie sich jegliche Debatte oft leicht auf eine Diskussion über Zahlen reduziert. Es gibt nicht die Bürger, es gibt die Stimmen bei Wahlen. Es gibt nicht die Migranten, es gibt die Quoten. Es gibt nicht die Arbeiter, es gibt die Wirtschaftsindikatoren. Es gibt nicht die Armen, es gibt die Armutsgrenzen. Die konkrete menschliche Person wird so auf ein abstraktes, bequemeres und beruhigenderes Prinzip reduziert. Der Grund hierfür ist verständlich: Die Personen haben Gesichter, sie verpflichten uns zu einer realen, tatkräftigen „persönlichen“ Verantwortung; die Zahlen beschäftigen uns mit Gedankengängen, die auch nützlich und wichtig sind, aber sie werden immer seelenlos bleiben. Sie bieten uns den Vorwand, um uns nicht zu engagieren, weil sie niemals unser Fleisch anrühren.

Zu erkennen, dass der andere vor allem eine Person ist, bedeutet, das wertzuschätzen, was mich mit ihm verbindet. Das Personensein bindet uns an die anderen, lässt uns Gemeinschaft werden. Der zweite Beitrag, den die Christen zur Zukunft Europas beisteuern können, ist also die Wiederentdeckung des Sinns für die Zugehörigkeit zu seiner Gemeinschaft. Nicht von ungefähr haben die Gründerväter des europäischen Projekts gerade dieses Wort gewählt, um dem neuen politischen Subjekt, das sich gerade bildete, seine Identität zu geben. Die Gemeinschaft ist das stärkste Gegengift gegen die Individualismen, die unsere Zeit kennzeichnen, gegen die heute im Westen verbreitete Tendenz, sich als Einzelwesen zu begreifen und demgemäß zu leben. Man missversteht den Begriff der Freiheit, indem man ihn so auslegt, als wäre er die Pflicht zum Alleinsein, losgelöst von jeder Bindung. Infolgedessen hat sich eine entwurzelte Gesellschaft entwickelt, der der Sinn für die Zugehörigkeit und für das Erbe fehlt. Und für mich ist das schlimm.

Die Christen erkennen, dass ihre Identität vor allem relational ist. Sie sind als Glieder eines Leibes, der Kirche (vgl. 1 Kor 12,12), zusammengefügt, in dem jeder mit seiner Identität und Eigenart frei am gemeinsamen Aufbau teilnimmt. Analog gestaltet sich dieses Verhältnis auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen und der zivilen Gesellschaft. Gegenüber dem anderen entdeckt jeder seine Vorzüge und seine Mängel; seine starken Seiten und seine Schwächen; mit anderen Worten, er entdeckt sein Angesicht, er begreift seine Identität.

Die Familie bleibt als erste Gemeinschaft der grundlegendste Ort dieser Entdeckung. In ihr wird die Verschiedenheit hochgehalten und zugleich in der Einheit wieder zusammengefasst. Die Familie ist die harmonische Einheit der Unterschiedezwischen Mann und Frau, die umso wahrer und tiefer ist, je mehr sie fruchtbar und fähig ist, sich für das Leben und für die anderen zu öffnen. Ebenso ist eine zivile Gemeinschaft lebendig, wenn sie offen sein kann, wenn sie die Unterschiedlichkeit und die Gaben eines jeden aufnehmen kann und zugleich neues Leben hervorzubringen vermag wie auch Entwicklung, Arbeit, Erneuerung und Kultur.

Person und Gemeinschaft sind also die Fundamente des Europas, zu dessen Aufbau wir als Christen beitragen wollen und können. Die Mauersteine dieses Baus heißen: Dialog, Inklusion, Solidarität, Entwicklung und Frieden.

Ein Ort des Dialogs

Heute muss ganz Europa, von Atlantik zum Ural, vom Nordpol bis zum Mittelmeer,  die Gelegenheit ergreifen, vor allem ein Ort des Dialogs zu sein, ehrlich und konstruktiv zugleich, in dem allen Beteiligten die gleiche Würde zukommt. Wir sind aufgerufen, ein Europa zu erbauen, in dem man sich auf allen Ebenen begegnen und auseinandersetzen kann – gewissermaßen wie die Agora der Antike. Diese war ja der Stadtplatz der polis. Sie fungierte nicht nur als Raum für den Handel, sondern auch als Herzmitte der Politik, als Ort, an dem man die Gesetze zum Wohl aller ausarbeitete; als Ort, an dem der Tempel emporragte, so dass der horizontalen Dimension des Alltags niemals der transzendente Atem fehlte, der über das Flüchtige, das Vergängliche und Vorläufige hinausblicken lässt.

Dies treibt uns dazu an, die positive und konstruktive Rolle zu betrachten, die der Religion im Allgemeinen beim Aufbau der Gesellschaft zukommt. Ich denke beispielsweise an den Beitrag zum interreligiösen Dialog, um das gegenseitige Kennenlernen zwischen Christen und Muslimen in Europa zu fördern. Leider ist ein gewisses laizistisches Vorurteil immer noch verbreitet. Es ist nicht fähig, den positiven Wert der öffentlichen und objektiven Rolle der Religion für die Gesellschaft wahrzunehmen, und zieht es vor, sie in eine rein private und gefühlsmäßige Sphäre zu verbannen. So setzt sich auch die Vorherrschaft eines gewissen Einheitsdenkens[2] durch, das in den internationalen Vereinigungen überaus verbreitet ist und in der Bejahung einer religiösen Identität für sich und die eigene Vorherrschaft eine Gefahr erblickt, so dass schließlich das Recht auf Religionsfreiheit und andere Grundrechte künstlich gegeneinander ausgespielt werden. Sie werden voneinander geschieden.

Den Dialog fördern – jeglichen Dialog – ist eine Grundverantwortung der Politik. Leider ist allzu oft zu beobachten, wie sie sich eher in einen Ort des Zusammenstoßes von gegensätzlichen Kräften verwandelt. Die Stimme des Dialogs wird durch die Racheschreie ersetzt. Von mehreren Seiten gewinnt man den Eindruck, dass das Gemeinwohl nicht mehr das primäre Ziel ist und dieses Desinteresse wird von vielen Bürgern wahrgenommen. So finden in vielen Ländern die extremistischen oder populistischen Bewegungen fruchtbaren Boden, die aus dem Protest das Herzstück ihrer politischen Botschaft machen, ohne jedoch die Alternative eines konstruktiven politischen Projekts anzubieten. Der Dialog wird entweder durch eine fruchtlose Konfrontation, die auch das zivile Zusammenleben gefährden kann, oder durch eine Vorherrschaft der politischen Macht ersetzt, die ein wahres demokratisches Leben eingesperrt und verhindert. Im ersten Fall werden die Brücken zerstört und im zweiten Fall errichtet man Mauern. Heute kennt Europa beide.

Die Christen sind aufgerufen, den politischen Dialog zu fördern, besonders dort, wo er bedroht ist und die Konfrontation sich durchzusetzen scheint. Die Christen sind aufgerufen, der Politik wieder Würde zu verleihen, die als höchster Dienst am Gemeinwohl und nicht als Aneignung der Macht zu verstehen ist. Dies verlangt auch eine angemessene Bildung, da die Politik nicht „die Kunst der Improvisation ist“, sondern vielmehr ein hoher Ausdruck der Selbstverleugnung und der persönlichen Hingabe zum Vorteil der Gemeinschaft. Verantwortungsträger zu sein erfordert Studium, Vorbereitung und Erfahrung.

Ein inklusiver Raum

Es ist die gemeinsame Verpflichtung der Verantwortungsträger, ein Europa zu fördern, das eine inklusive Gemeinschaft ist. Man hüte sich hier vor einem grundsätzlichen Missverständnis: Inklusion ist nicht Synonym für eine undifferenzierte Verflachung. Im Gegenteil, man ist wahrhaft inklusiv, wenn man die Unterschiede in ihrem Wert erkennt und sie als gemeinsames und bereicherndes Kapital annimmt. In dieser Sichtweise sind die Migranten eher eine Ressource als eine Last. Die Christen sind aufgerufen, ernsthaft die Aussage Jesu zu betrachten: »Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen« (Mt 25,35). Vor allem angesichts des Flüchtlingsdramas darf man die Tatsache nicht vergessen, dass es sich um Personen handelt, die nicht nach eigenem Belieben, entsprechend politischer, wirtschaftlicher oder sogar religiöser Gesichtspunkte ausgewählt oder abgewiesen werden können.

Dennoch steht dies nicht im Widerspruch zur Pflicht jeder Regierungsgewalt, die Flüchtlingsfrage mit der Tugend zu behandeln, die dem Regieren eigen ist, d.h. mit Klugheit[3], die sowohl der Notwendigkeit, ein offenes Herz zu haben, als auch der Möglichkeiten, diejenigen auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene voll zu integrieren, die in das Land kommen, Rechnung tragen muss. Man kann das Flüchtlingsphänomen nicht als einen unterschiedslosen und ungeregelten Vorgang verstehen, aber man kann auch nicht Mauern der Gleichgültigkeit und der Angst errichten. Ihrerseits dürfen die Migranten selbst die schwerwiegende Verpflichtung nicht versäumen, die Kultur und die Traditionen der aufnehmenden Nation kennenzulernen, zu achten und sich auch anzueignen.

Ein Raum der Solidarität

Sich für eine inklusive Gemeinschaft einzusetzen, bedeutet, einen Raum der Solidarität aufzubauen. Gemeinschaft sein schließt nämlich ein, dass man sich gegenseitig unterstützt und es somit nicht nur einige sein können, die Lasten tragen und außerordentliche Opfer vollbringen, während andere sich zur Verteidigung ihrer bevorzugten Positionen verschanzen. Eine Europäische Union, die in der Bewältigung ihrer Krisen nicht den Sinn dafür wiederentdecken würde, eine einzige Gemeinschaft zu sein, die sich stützt und hilft – und nicht eine Gesamtheit von kleinen Interessengruppen – würde nicht nur vor einer der wichtigsten Herausforderungen ihrer Geschichte versagen, sondern auch eine der größten Chancen für ihre Zukunft verpassen.

Die Solidarität – manchmal scheint es, dass man dieses Wort aus dem Wortschatz streichen will – die Solidarität, die in der christlichen Perspektive ihren Daseinsgrund im Liebesgebot findet (vgl. Mt 22,37-40), kann nichts anderes als der Lebenssaft einer lebendigen und reifen Gemeinschaft sein. Diese bezieht sich zusammen mit dem anderen Grundprinzip der Subsidiarität nicht nur auf die Beziehungen zwischen den Staaten und den Regionen Europas. Eine solidarische Gemeinschaft zu sein, bedeutet, sich um die Schwächsten der Gesellschaft, die Armen, die von den wirtschaftlichen und sozialen Systemen Ausgegrenzten, angefangen von den alten Menschen und den Arbeitslosen, zu sorgen. Aber die Solidarität verlangt auch, dass man die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung unter den Generationen wiederfindet.

Seit den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist ein beispielloser Generationenkonflikt im Gang. Man kann übertreibend sagen, dass man bei der Weitergabe der Ideale, die das große Europa gebildet haben, dem Vermächtnis den Verrat vorgezogen hat. Auf die Ablehnung dessen, was von den Vätern kam, folgte so die Zeit einer dramatischen Unfruchtbarkeit und dies nicht nur weil in Europa wenig Kinder gezeugt werden – es ist unser demographischer Winter – und es allzu viele sind, die ihres Rechtes, geboren zu werden, beraubt worden sind, sondern auch weil man sich als unfähig erwiesen hat, den jungen Menschen die materiellen und kulturellen Werkzeuge zu übergeben, um sich der Zukunft zu stellen. Europa erlebt eine Art Gedächtnisverlust. Dazu zurückzukehren, eine solidarische Gemeinschaft zu sein, bedeutet, den Wert der eigenen Vergangenheit wiederzuentdecken, um die eigene Gegenwart zu bereichern und den nachfolgenden Generationen  eine Zukunft der Hoffnung zu übergeben.

Viele junge Menschen fühlen sich hingegen angesichts des Fehlens von Wurzeln und Perspektiven verloren, sie sind entwurzelt, »ein Spiel der Wellen, geschaukelt und getrieben von jedem Widerstreit der Lehrmeinungen« (Eph 4,14); zuweilen auch »Gefangene« von dominierenden Erwachsenen, die Mühe haben, die ihnen zukommende Aufgabe zu bewältigen. Die Pflicht zur Bildung ist schwerwiegend: Dabei soll nicht nur eine Gesamtheit von technischen und wissenschaftlichen Kenntnissen vermittelt werden, sondern man muss sich vor allem für die »Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit, zum Wohl der irdischen Gesellschaft und zum Aufbau einer Welt, die menschlicher gestaltet werden muss«[4] einsetzen. Dies erfordert, dass man die ganze Gesellschaft mit einbezieht. Die Bildung ist eine gemeinsame Aufgabe, die die aktive Beteiligung der Eltern, der Schulen und der Universitäten, der religiösen Einrichtungen und der zivilen Gesellschaft zugleich verlangt. Ohne Bildung bringt man keine Kultur hervor, und das lebensnotwendige Gewebe der Gemeinschaften vertrocknet.

Eine Quelle der Entwicklung

Das Europa, das sich als Gemeinschaft wiederentdeckt, wird gewiss eine Quelle der Entwicklung für sich und für die ganze Welt sein. Entwicklung ist in der Bedeutung zu verstehen, die der selige Paul VI. diesem Wort gab: »Wahre Entwicklung muss umfassend sein, sie muss jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben, wie ein Fachmann auf diesem Gebiet geschrieben hat: „Wir lehnen es ab, die Wirtschaft vom Menschlichen zu trennen, von der Entwicklung der Kultur, zu der sie gehört. Was für uns zählt, ist der Mensch, jeder Mensch, jede Gruppe von Menschen bis hin zur gesamten Menschheit“«.[5]  

Gewiss trägt die Arbeit zur Entwicklung des Menschen bei, die ein wesentlicher Faktor für die Würde und die Reifung der menschlichen Person ist. Es braucht Arbeit und es braucht angemessene Arbeitsbedingungen. Im vergangenen Jahrhundert hat es nicht an ansprechenden Beispielen von christlichen Unternehmern gefehlt, die verstanden haben, wie der Erfolg ihrer Initiativen vor allem von der Möglichkeit abhing, Arbeitsplätze und würdige Anstellungsbedingungen anzubieten. Es ist notwendig, wieder vom Geist dieser Initiativen auszugehen, die auch das beste Gegengift gegen die von einer seelenlosen Globalisierung, einer „sphärischen“ Globalisierung hervorgerufenen Unausgeglichenheiten sind, die mehr auf den Gewinn als auf die Personen achtet und so weit verbreitete Enklaven der Armut, der Arbeitslosigkeit, der Ausbeutung und sozialen Elends geschaffen hat.

Es wäre angemessen, auch den Bedarf an konkreter Arbeit wiederzuentdecken, vor allem für die jungen Menschen. Heute neigen viele dazu, Arbeiten in einst entscheidenden Bereichen zu meiden, weil sie als zu anstrengend und zu wenig bezahlt angesehen werden, wobei vergessen wird, wie unverzichtbar diese für die menschliche Entwicklung sind. Wie würde es um uns stehen ohne den Einsatz der Personen, die mit der Arbeit zu unserer täglichen Ernährung beitragen? Wie würde es ohne die geduldige und einfallsreiche Arbeit dessen um uns stehen, der die Kleidung näht, die wir tragen, oder die Häuser baut, in denen wir wohnen? Viele heute als zweitrangig betrachtete Berufe sind grundlegend. Sie sind es vom sozialen Gesichtspunkt aus, aber vor allem aufgrund der Genugtuung, die die Arbeiter aus der Erfahrung empfangen, durch ihren täglichen Einsatz nützlich für sich und die anderen zu sein.  

Ebenso kommt es den Regierungen zu, die wirtschaftlichen Bedingungen zu schaffen, die eine gesunde Unternehmerschaft und angemessene Beschäftigungsniveaus fördern. Der Politik kommt es insbesondere zu, einen positiven Kreislauf erneut in Gang zu bringen, der ausgehend von Investitionen zugunsten der Familie und der Bildung die harmonische und friedliche Entwicklung der gesamten zivilen Gesellschaft ermöglicht.

Eine Friedensverheißung

Schließlich muss der Einsatz der Christen in Europa eine Friedensverheißung darstellen. Dies war der Hauptgedanke, der die Unterzeichner der Römischen Verträge beseelt hat. Nach zwei Weltkriegen und grauenhafter Gewalt von Volk gegen Volk war die Zeit zur Geltendmachung des Rechtes auf Frieden gekommen.[6] Es ist ein Recht. Noch heute sehen wir aber, wie der Frieden ein zerbrechliches Gut ist und die Sonderinteressen der Nationen die mutigen Träume der Gründer Europas zu vereiteln drohen.[7]

Dennoch bedeutet Friedensstifter zu sein (vgl. Mt 5,9) nicht nur, sich um die Vermeidung von internen Spannungen zu bemühen, für die Beendigung von zahlreichen Konflikten zu arbeiten, die die Welt mit Blut beflecken, oder den Leidenden Erleichterung zu verschaffen. Friedensstifter zu sein bedeutet, Förderer einer Kultur des Friedens zu sein. Dies erfordert Liebe zur Wahrheit, ohne die es keine echten menschlichen Beziehungen geben kann, und Suche nach Gerechtigkeit, ohne die jedwede Gesellschaft die Unterdrückung als die vorherrschende Norm akzeptiert.

Der Friede erfordert auch Kreativität. Die Europäische Union wird ihrer Friedensverpflichtung in dem Maße treu sein, wie sie die Hoffnung nicht verliert und sich erneuern kann, um den Bedürfnissen und Erwartungen seiner Bürger nachzukommen. Vor hundert Jahren begann genau in diesen Tagen die Schlacht von Caporetto, die zu den dramatischsten des Ersten Weltkrieges gehört. Es war der Höhepunkt eines Zermürbungskriegs, dieses ersten weltweiten Konflikts, dem der traurige Vorrang zukam, unzählige Opfer angesichts von lächerlich geringen Geländeeroberungen zu fordern. Von diesem Ereignis lernen wir, dass wenn man sich hinter den eigenen Positionen verschanzt, man am Ende unterliegt. Dies ist also nicht die Zeit, um Schützengraben auszuheben, sondern um den Mut zu haben, für die volle Verwirklichung des Traums der Väter von einem geeinten und einträchtigen Europa als einer Gemeinschaft von Völkern zu arbeiten, die sich nach einem gemeinsamen Ziel der Entwicklung und des Friedens sehnen.

Seele Europas sein

Eminenzen, Exzellenzen,
verehrte Gäste,

der Verfasser des Briefs an Diognet erklärt: »Was die Seele im Leibe ist, das sind die Christen in der Welt«.[8] Heute sind sie aufgerufen, Europa wieder eine Seele zu geben, sein Gewissen wieder wachzurufen, nicht um Räume zu besetzen – dies wäre Proselytismus –, sondern um Prozesse in Gang zu bringen[9], die neue Dynamiken in der Gesellschaft erzeugen. Genau dies tat der heilige Benedikt, der von Paul VI. nicht von ungefähr zum Patron Europas ausgerufen wurde: Er kümmerte sich nicht darum, die Räume einer verlorenen und verworrenen Welt zu besetzen. Vom Glauben aufrecht erhalten schaute er weiter und von einer kleinen Höhle in Subiaco aus rief er eine ansteckende und unaufhaltbare Bewegung ins Leben, die das Angesicht Europas neu gestaltete. Er, der »Bote des Friedens, Friedensstifter, Lehrmeister der Kultur«[10] war, möge auch uns Christen von heute zeigen, wie aus dem Glauben immer eine frohe Hoffnung entspringt, die fähig ist, die Welt zu verändern.

Der Herr möge uns alle segnen, er segne unsere Arbeit, unsere Völker, unsere Familien, unsere jungen Leute, unsere Alten, er segne Europa.

Es segne euch der allmächtige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.

Vielen Dank. Danke.

 

[1] Benedikt, Regula, Prolog, 14. Vgl. Ps 34,13.

[2] Die Diktatur des Einheitsdenkens. Morgendliche Meditation in der Kapelle der Domus Sanctae Marthae, 10. April 2014

[3] Vgl. Pressekonferenz auf dem Rückflug von Kolumbien, 10. September 2017.

[4] Zweites Vatikanisches Konzil Erklärung Gravissimum educationis, 28. Oktober 1965, 3.

[5] Paul VI. , Enzyklika Populorum progressio, 26. März 1967, 14.

[6] Vgl. Ansprache an die Studenten und die akademische Welt, Bologna, 1. Oktober 2017, Nr. 3.

[7] Vgl. ebd.

[8] Brief an Diognet¸VI.

[9] Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 223.

[10] Paul VI., Apostolisches Schreiben Pacis Nuntius, 24. Oktober 1964.

 



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