JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 10. November 2004
Lesung: Psalm 62,2–3.8–9.12–13.
2 Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe, von ihm kommt mir Hilfe.
3 Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg; darum werde ich nicht wanken.
8 Bei Gott ist mein Heil, meine Ehre; Gott ist mein schützender Fels, meine Zuflucht.
9 Vertrau ihm, Volk (Gottes), zu jeder Zeit! / Schüttet euer Herz vor ihm aus! Denn Gott ist unsere Zuflucht. [Sela]
12 Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört: Bei Gott ist die Macht;
13 Herr, bei dir ist die Huld. Denn du wirst jedem vergelten, wie es seine Taten verdienen.
1. Soeben sind die milden Worte des Psalms 62 erklungen, der ein Lied des Vertrauens ist, das mit einer Art Antiphon beginnt, die in der Mitte des Textes wiederholt wird. Sie gleicht einem frohen, innigen Stoßgebet, einer Anrufung, die auch ein Lebensprogramm ist: »Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe; denn von ihm kommt mir Hilfe. Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg; darum werde ich nicht wanken« (V. 2–3.6–7).
2. In seinem weiteren Verlauf stellt der Psalm jedoch zwei Arten des Vertrauens einander gegenüber. Es sind zwei Grundentscheidungen, eine gute und eine schlechte, die zwei verschiedene Verhaltensweisen mit sich bringen. Da ist zunächst das Vertrauen auf Gott, das im Anfangsvers gepriesen wird, wo ein Symbol der Festigkeit und Sicherheit angeführt wird, wie der Fels, »die Burg«, das heißt eine Festung, ein Schutzwall.
Der Psalmist bekräftigt: »Bei Gott ist mein Heil, meine Ehre; Gott ist mein schützender Fels, meine Zuflucht« (V. 8). Das sagt er, nachdem er auf die feindseligen Pläne seiner Widersacher hingewiesen hat, die versuchen, »ihn von seiner Höhe zu stürzen« (vgl. V. 4–5).
3. Es gibt aber noch ein anderes Vertrauen in Form des Götzendienstes, auf das der Betende nachdrücklich seine kritische Aufmerksamkeit richtet. Es ist ein Vertrauen, das die Sicherheit und Stabilität in der Gewalt, im Raub und im Reichtum suchen läßt.
Da lautet die Mahnung klar und entschieden: »Vertraut nicht auf Gewalt, verlaßt euch nicht auf Raub! Wenn der Reichtum auch wächst, so verliert doch nicht euer Herz an ihn!« (V. 11).
Drei Götzen werden hier genannt und als unvereinbar mit der Menschenwürde und dem sozialen Zusammenleben geächtet.
4. Der erste falsche Gott ist die Gewalt, die leider von der Menschheit auch in unseren blutbefleckten Tagen ständig angewendet wird. Dieser Götze hat unzählige Kriege, Unterdrückungen, Mißbräuche, Folterungen und grauenhafte Tötungen zur Folge, die ohne einen Anflug von Reue verübt werden.
Der zweite falsche Gott ist der Raub, der in Erpressung, in der sozialen Ungerechtigkeit, im Wucher, in der politischen und ökonomischen Korruption zum Ausdruck kommt. Zu viele Leute hegen die »Illusion«, daß sie auf diese Weise ihre Gier befriedigen können.
Der dritte Götze ist der Reichtum, an den »sich das Herz« des Menschen hängt in der trügerischen Hoffnung, dem Tod entkommen zu können (vgl. Ps 49) und sich den Vorrang von Prestige und Macht zu sichern.
5. Während er dieser teuflischen Dreiheit dient, vergißt der Mensch, daß diese Götzen sich als inhaltslos, ja schädlich erweisen. Indem er den Dingen und sich selbst vertraut, vergißt er, daß er »nur ein Hauch, … nur Lug und Trug« ist, ja, wenn er auf der Waage gewogen wird, ist er »leichter als ein Hauch« (Ps 62,10; vgl. Ps 39,6–7).
Wenn wir uns unserer Vergänglichkeit und der Begrenztheit der Geschöpfe mehr bewußt wären, würden wir nicht den Weg des Vertrauens in die Götzen wählen; ebensowenig würden wir unser Leben auf einer Skala von brüchigen und gehaltlosen Pseudowerten aufbauen. Wir würden uns vielmehr nach einem anderen Vertrauen ausrichten, das sein Zentrum im Herrn, in der Quelle der Ewigkeit und des Friedens, hat. Denn nur »bei Gott ist die Macht«; er allein ist Quelle der Gnade; er allein ist Urheber der Gerechtigkeit, »denn er wird jedem vergelten, wie es seine Taten verdienen« (vgl. Ps 62,12–13).
6. Das II. Vatikanische Konzil hat die Priester mit den Worten von Psalm 62 aufgefordert, »das Herz nicht an den Reichtum zu verlieren« (vgl. V. 11b). Das Dekret über Dienst und Leben der Priester mahnt: »Die Priester sollen … ihr Herz nicht an Reichtümer hängen, jede Habgier meiden und sich vor aller Art weltlichen Handels sorgfältig hüten« (Presbyterorum ordinis, 17).
Diese Aufforderung, das falsche Vertrauen abzulehnen und das Vertrauen zu wählen, das uns zu Gott führt, gilt für alle und soll unser Leitstern im täglichen Verhalten, in den moralischen Entscheidungen und im Lebensstil werden.
7. Es ist gewiß ein steiniger Weg, der auch Prüfungen für den Gerechten und mutige Entscheidungen mit sich bringt, die aber immer vom Vertrauen auf Gott geprägt sind (vgl. Ps 62,2). In diesem Licht haben die Kirchenväter in dem Beter des Psalms 62 die Präfiguration Christi gesehen und haben ihm das anfängliche Gebet des vollen Vertrauens und der Zustimmung zu Gott in den Mund gelegt.
Der hl. Ambrosius merkt in seinem Kommentar zu Psalm 62 (61) an: »Was hätte unser Herr Jesus, als er menschliches Fleisch annahm, um es in seiner Person zu reinigen, anderes tun sollen, als zuerst den schädlichen Einfluß der Ursünde auszulöschen? Die Sünde hatte sich durch den Ungehorsam, das heißt durch die Verletzung der göttlichen Vorschriften eingeschlichen. Jesus mußte also vor allem den Gehorsam wiederherstellen, um den Sündenherd zu löschen … Er hat den Gehorsam auf sich genommen, um ihn uns einzugießen« (Commento a dodici Salmi 61,4: SAEMO, VIII, Milano-Roma 1980, S. 283).
„Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe... Er ist meine Zuflucht" (vgl. Ps 62, 6.8). Dieses Psalmwort ist zugleich Stoßgebet und Lebensprogramm: Denen, die es verinnerlichen, schenkt es gläubige Gelassenheit und Kraft in den Höhen und Tiefen des Daseins.
Das innere Ruhen in Gott ist der Gegenentwurf zu einem Leben in falscher Anhänglichkeit an Reichtum, Macht und Prestige. Nicht wer sich an vergänglichen Werten orientiert, sondern der Mensch, der sein Heil und seine Ehre bei Gott sucht, wird in den Stürmen des Lebens „nicht wanken". Denn beim Herrn ist die Macht, bei ihm ist die Huld (vgl. V. 12-13).
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Mit Freude heiße ich die Pilger und Besucher deutscher Sprache willkommen. Vertraut Gott zu jeder Zeit. „Schüttet euer Herz vor ihm aus!" (Ps 62, 9). Dann wird der Herr euch in allen Lebenslagen stützen. Dazu begleite euch mein Segen!
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