Index   Back Top Print

[ DE  - EN  - ES  - FR  - IT  - PL  - PT ]

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT
JOHANNES PAUL II.

ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES
1. JANUAR 1998


AUS DER GERECHTIGKEIT DES EINZELNEN
ERWÄCHST DER FRIEDEN FÜR ALLE

 

1. Die Gerechtigkeit geht mit dem Frieden Hand in Hand und steht mit ihm in konstanter und dynamischer Beziehung. Gerechtigkeit und Frieden haben das Wohl des einzelnen und aller zum Ziel und erfordern deshalb Ordnung und Wahrheit. Wenn der eine bedroht ist, wanken beide; verletzt man die Gerechtigkeit, setzt man auch den Frieden aufs Spiel.

Die Gerechtigkeit des einzelnen und der Frieden aller sind miteinander eng verbunden. Deshalb möchte ich mich in der vorliegenden Botschaft zum Welttag des Friedens vor allem an die Staatsoberhäupter wenden, wobei ich mir immer gegenwärtig halte, dass die Welt von heute in vielen Regionen von Spannungen, Gewalttätigkeit und Konflikten gezeichnet ist, aber nach neuen Gefügen und stabileren Gleichgewichten sucht im Hinblick auf einen wahren und dauerhaften Frieden für die ganze Menschheit.

Gerechtigkeit und Frieden sind keine abstrakten Begriffe oder fernliegende Ideale; sie sind dem Herzen jeder Person als gemeinsames Erbe eingepflanzt. Einzelpersonen, Familien, Gemeinschaften und Nationen, alle sind aufgerufen, in der Gerechtigkeit zu leben und für den Frieden zu wirken. Keiner kann sich dieser Verantwortung entziehen.

In diesem Augenblick denke ich an diejenigen, die wider Willen in schmerzliche Konflikte verwickelt sind: die Ausgegrenzten, die Armen und die Opfer aller Art von Ausbeutung. Sie sind Menschen, die am eigenen Leib den Mangel an Frieden und die schmerzlichen Auswirkungen der Ungerechtigkeit verspüren. Wer könnte angesichts ihrer Sehnsucht nach einem in Gerechtigkeit und wahrem Frieden wurzelnden Leben gleichgültig bleiben? Es ist die Pflicht aller, dafür zu sorgen, dass ihnen das ermöglicht wird: Volle Gerechtigkeit herrscht erst dann, wenn alle an ihr gleicherweise Anteil haben können.

Die Gerechtigkeit ist gleichzeitig eine moralische Tugend und ein Begriff des Gesetzes. Manchmal wird sie mit verbundenen Augen dargestellt; in Wirklichkeit gehört es sich gerade für die Gerechtigkeit, aufmerksam darüber zu wachen, dass das Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten gesichert ist und die gerechte Aufteilung der Kosten und Nutzen gefördert wird. Die Gerechtigkeit baut auf, sie zerstört nicht; sie versöhnt und trachtet nicht nach Rache. Genaugenommen hat sie ihre tiefste Wurzel in der Liebe, die ihren höchsten Ausdruck in der Barmherzigkeit findet. Darum wird die Gerechtigkeit, wenn sie sich von der barmherzigen Liebe trennt, kalt und zerstörerisch.

Die Gerechtigkeit ist eine dynamische und lebendige Tugend: Sie schützt und fördert die unschätzbare Würde der Person und sorgt sich um das Gemeinwohl, weil sie Hüterin der Beziehungen zwischen den einzelnen und den Völkern ist. Der Mensch lebt nicht allein, sondern steht vom ersten Augenblick seines Daseins an mit den anderen in Beziehung, so dass sein Wohl als Einzelmensch und das der Gesellschaft miteinander fortschreiten: Zwischen diesen beiden Aspekten besteht ein empfindliches Gleichgewicht.

Die Gerechtigkeit gründet auf der Achtung der Menschenrechte

2. Die menschliche Person ist von Natur aus mit allgemeinen, unantastbaren und unveräußerlichen Rechten ausgestattet. Aber diese sind nicht für sich allein da. Mein verehrungswürdiger Vorgänger Papst Johannes XXIII. sagt dazu, dass die Person »sowohl Rechte als auch Pflichten hat, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur selbst erwachsen«.(1) Auf dem richtigen anthropologischen Fundament dieser Rechte und Pflichten sowie auf ihrer engen wechselseitigen Beziehung gründet der ganze Schutzwall des Friedens.

Diese Menschenrechte wurden in den letzten Jahrhunderten in verschiedenen maßgebenden Deklarationen wie auch in verbindlichen Gesetzgebungen formuliert. Ihre Proklamation wird in der Geschichte der nach Gerechtigkeit und Freiheit strebenden Völker und Nationen mit berechtigtem Stolz erwähnt auch aus dem Grund, weil sie nach offensichtlichen Verletzungen der Würde von einzelnen und von ganzen Völkern oft als ein Wendepunkt erlebt wurde.

Vor fünfzig Jahren, nach einem Krieg, der für manche Völker sogar die Verneinung des Rechtes auf Dasein bedeutete, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet. Es handelte sich um einen formalen Akt, zu dem man nach der traurigen Kriegserfahrung gelangt war, angetrieben von dem Willen, feierlich allen Personen und Völkern die gleichen Rechte zuzuerkennen. In diesem Dokument ist die folgende Bekräftigung zu lesen, die dem Lauf der Zeit standgehalten hat: »Die Anerkennung der allen Mitgliedern der Menschheitsfamilie angeborenen Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet das Fundament der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt«.(2) Nicht weniger Aufmerksamkeit verdienen die Worte, mit denen das Dokument endet: »Nichts in der vorliegenden Erklärung darf in dem Sinn ausgelegt werden, dass es ein Recht irgendeines Staates, einer Gruppe oder Person impliziert, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Tat zu begehen, die auf die Zerstörung einiger in ihr formulierten Rechte und Freiheiten abzielt«.(3) Es ist tragisch, dass diese Anordnung auch heute noch offenkundig verletzt wird, sei es durch Unterdrückung, Konflikte, Korruption oder in noch heimtückischerer Weise durch den Versuch, selbst die in der Allgemeinen Erklärung enthaltenen Formulierungen neu zu interpretieren, indem man sogar bewusst ihren Sinn verdreht. Die Erklärung ist unverkürzt dem Geist und dem Buchstaben nach einzuhalten. Sie bleibt — wie Papst Paul VI. ehrwürdigen Andenkens zu sagen pflegte — einer der rühmlichsten Verdienste der Vereinten Nationen, »besonders wenn man an die Bedeutung denkt, die ihr als sicherer Weg zum Frieden zugeschrieben wird«.(4)

Anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der in diesem Jahr feierlich begangen wird, ist es angebracht daran zu erinnern, dass »die Förderung und der Schutz der Menschenrechte ein Gegenstand von vorrangiger Bedeutung für die internationale Gemeinschaft ist«.(5) Auf diesem Jahrestag lasten jedoch die Schatten mancher Vorbehalte, die im Hinblick auf zwei wesentliche Eigenschaften des Begriffs der Menschenrechte selbst angemeldet wurden, und zwar in bezug auf ihre Universalität und auf ihre Unteilbarkeit. Diese Wesensmerkmale müssen entschieden bekräftigt werden, um die Kritikpunkte derer zu widerlegen, die das Argument der kulturellen Besonderheit dazu benützen wollen, um Verletzungen der Menschenrechte zu verdecken, wie auch derer, die den Begriff der Menschenwürde aushöhlen, indem sie den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten jeden gesetzlichen Gehalt absprechen. Universalität und Unteilbarkeit sind zwei Grundprinzipien, die jedenfalls die Forderung voraussetzen, die Menschenrechte in den verschiedenen Kulturen zu verwurzeln und ihr gesetzliches Profil zu vertiefen, um ihre volle Respektierung sicherzustellen.

Die Achtung der Menschenrechte bedeutet nicht nur ihren Schutz auf gesetzlicher Ebene, sondern muss alle Aspekte berücksichtigen, die aus dem Begriff der Menschenwürde erwachsen, die die Grundlage jeden Rechtes ist. Aus dieser Sicht wird es besonders wichtig, dem Erziehungsbereich die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Außerdem muss man auf die Förderung der Menschenrechte achten: Sie ist die Frucht der Liebe zur menschlichen Person als solcher, weil die Liebe »über das hinausgeht, was die Gerechtigkeit zu leisten vermag«.(6) Insbesondere im Hinblick auf diese Förderung bedarf es weiterer Anstrengungen, um die Rechte der Familie zu schützen, die »der natürliche und grundlegende Baustein der Gesellschaft«(7) ist.

Globalisierung in Solidarität

3. Die ausgedehnten geopolitischen Wandlungen, die 1989 aufeinander folgten, wurden von wahren Umwälzungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich begleitet. Die Globalisierung der Wirtschaft und Finanzen ist nunmehr Wirklichkeit geworden, und die Auswirkungen der mit der Informatiktechnologie verbundenen rapiden Fortschritte sind immer greifbarer wahrzunehmen. Wir stehen an der Schwelle eines neuen Zeitalters, das große Hoffnungen und beunruhigende Fragen mit sich bringt. Welche Folgen werden sich aus den gegenwärtig stattfindenden Wandlungen ergeben? Werden alle Menschen aus einem weltumspannenden Markt Nutzen ziehen können? Werden schließlich alle die Möglichkeit haben, im Frieden zu leben? Werden die Beziehungen zwischen den Staaten ausgewogener sein, oder werden die zwischen Völkern und Nationen bestehenden wirtschaftlichen Wettbewerbe und Rivalitäten die Menschheit in eine noch viel unsicherere Lage bringen?

Um eine gerechtere Gesellschaft und einen stabileren Frieden in einer Welt auf dem Weg zur Globalisierung zu erzielen, ist es dringende Pflicht der internationalen Organisationen, dazu beizutragen, dass das Verantwortungsbewußtsein für das Gemeinwohl gefördert wird. Zu diesem Zweck darf man aber nie die menschliche Person außer acht lassen, die in den Mittelpunkt jedes sozialen Projektes zu stellen ist. Nur so können die Vereinten Nationen zu einer wahren »Familie der Nationen« werden, wie es ihrem ursprünglichen Auftrag entspricht, »den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen in einer größeren Freiheit zu fördern«.(8) Das ist der Weg, um eine Weltgemeinschaft aufzubauen, die auf »gegenseitigem Vertrauen, gegenseitiger Unterstützung und gegenseitiger Achtung«(9) gegründet ist. Die Herausforderung besteht also darin, eine Globalisierung in Solidarität, eine Globalisierung ohne Ausgrenzung zu sichern. Das ist eine offensichtliche Pflicht der Gerechtigkeit, die beachtliche moralische Implikationen in sich birgt, wenn das wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Leben der Nationen gestaltet werden soll.

Die schwere Last der Auslandsverschuldung

4. Auf Grund ihres schwachen finanziellen und wirtschaftlichen Potentials laufen manche Nationen und ganze Weltregionen Gefahr, aus einer sich weltweit zusammenschließenden Wirtschaft ausgeschlossen zu werden. Andere haben zwar größere Ressourcen, können aber aus verschiedenen Gründen daraus leider keinen Nutzen ziehen: wegen Unruhen, interner Konflikte wegen des Mangels an angemessenen Strukturen, der Umweltverschmutzung, der verbreiteten Korruption, der Kriminalität und aus noch anderen Gründen. Globalisierung muss sich mit Solidarität verbinden. Deshalb müssen besondere Mittel bereitgestellt werden, mit deren Hilfe Länder, die aus eigenen Kräften dem Weltmarkt nicht beitreten können, ihre derzeitige benachteiligte Lage zu überwinden vermögen. Dies ist man ihnen um der Gerechtigkeit willen schuldig. In einer wahren »Familie der Nationen« darf niemand ausgeschlossen werden; im Gegenteil, der Schwächste, der Zerbrechlichste muss unterstützt werden, damit er seine Leistungsfähigkeit voll entfalten kann.

Hier denke ich an eine der größten Schwierigkeiten, die die ärmeren Nationen heute überwinden müssen. Ich möchte auf die schwere Last der Auslandsverschuldung eingehen, die die Wirtschaft dieser Völker beeinträchtigt, indem sie ihren sozialen und politischen Fortschritt bremst. In dieser Hinsicht haben jüngste Initiativen der internationalen Finanzinstitutionen einen bedeutenden Versuch zur koordinierten Reduzierung dieses Schuldenberges unternommen. Ich wünsche von Herzen, dass man auf diesem Weg unter flexibler Anwendung der vorgesehenen Bedingungen weiter so fortschreite, dass alle dazu berechtigten Nationen vor Beginn des Jahres 2000 daraus Nutzen ziehen können. Die reicheren Länder können dazu viel beitragen, indem sie bei der Anwendung der genannten Initiativen ihre Unterstützung anbieten.

Die Schuldenfrage gehört zu einem weiterreichenden Problem: die anhaltende, oftmals auch äußerste Armut und die wachsenden neuen Ungleichheiten, die den Globalisierungsprozess begleiten. Wenn das Ziel eine Globalisierung ohne Ausgrenzung ist, kann man eine Welt nicht mehr ertragen, in der Steinreiche und Allerärmste Seite an Seite leben, Besitzlose ohne das Lebensnotwendigste und Leute, die hemmungslos das vergeuden, was andere notwendig brauchen. Solche Kontraste sind eine Beleidigung für die Würde der menschlichen Person. Es mangelt gewiss nicht an geeigneten Mitteln, um der Not abzuhelfen, wie z. B. die Förderung konsistenter sozialer und produktiver Investitionen seitens aller weltwirtschaftlichen Instanzen. Das setzt jedoch voraus, dass die internationale Gemeinschaft mit der nötigen Entschlossenheit handeln will. Lobenswerte Schritte wurden in dieser Richtung bereits unternommen, aber eine dauernde Lösung erfordert die konzertierte Anstrengung aller, einschließlich die der betroffenen Staaten selbst.

Gefragt ist eine Kultur, auf dem Boden des Gesetzes zu handeln

5. Was ist über die im Innern der Nationen bestehenden schwerwiegenden Ungleichheiten zu sagen? Äußerste Armut ist, wo immer sie auftritt, die erste Ungerechtigkeit. Sie auszumerzen muss für alle auf nationaler und internationaler Ebene Priorität genießen.

Man darf auch das Laster der Korruption nicht verschweigen, das die gesellschaftliche und politische Entwicklung vieler Völker unterminiert. Sie ist ein wachsendes Phänomen, das sich heimtückisch in viele Sektoren der Gesellschaft einschleicht, wobei das Gesetz umgangen und die Regeln der Gerechtigkeit und Wahrheit mißachtet werden. Die Korruption ist schwer zu bekämpfen, weil sie vielfältige Formen annimmt: Wird sie in einem Bereich getilgt, tritt sie bisweilen in einem anderen wieder auf. Man braucht schon Mut, um sie nur anzuprangern. Um sie zu tilgen, bedarf es des zähen Willens der Obrigkeiten wie auch der hochherzigen Mithilfe aller Bürger, die von einem ausgeprägten moralischen Gewissen gestützt sind.

Schwere Verantwortung in diesem Kampf haben offenkundig die öffentlichen Amtsträger. Ihre Aufgabe ist es, sich für die gerechte Anwendung des Gesetzes und die Transparenz in allen Handlungen der öffentlichen Verwaltung einzusetzen. Zum Dienst an den Bürgern bestellt, ist der Staat der Verwalter der Güter eines Volkes, die er zugunsten des Gemeinwohls einsetzen soll. Gutes Regieren erfordert pünktliche Kontrolle und volle Korrektheit aller wirtschaftlichen und finanziellen Transaktionen. Auf keinen Fall darf es erlaubt sein, dass die für das Gemeinwohl bestimmten Mittel anderen Interessen privater oder sogar krimineller Natur dienen.

Die betrügerische Verwendung der öffentlichen Geldmittel trifft besonders die Armen, die als erste unter dem Mangel der Grunddienste leiden, die für die Entfaltung der Person unerlässlich sind. Wenn dann die Korruption in die Verwaltung der Gerichtsbarkeit eindringt, sind es wiederum die Armen, die die Folgen am deutlichsten zu spüren bekommen: Verzögerungen, fehlerhafte Leistung, Notstände in der Struktur und Mangel an angemessenem Schutz. Oft bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Missstand zu ertragen.

Besonders schwere Formen der Ungerechtigkeit

6. Es gibt noch andere Formen von Ungerechtigkeit, die den Frieden gefährden. Ich möchte hier zwei davon nennen: vor allem die fehlenden Mittel für einen gerecht verteilten Zugang zum Kredit. Die Armen sind oft gezwungen, den normalen wirtschaftlichen Kreisläufen fernzubleiben oder sich an skrupellose Geldverleiher zu wenden, die übertriebene Zinsen verlangen; das hat die Verschlechterung einer schon von sich aus misslichen Lage zufolge. Deshalb ist es die Pflicht aller, sich dafür einzusetzen, dass ihnen der Zugang zum Kredit mit gleichen Bedingungen und günstigen Zinsen ermöglicht wird. In der Tat gibt es in verschiedenen Teilen der Welt bereits finanzielle Institutionen, die den Mikrokredit mit günstigen Bedingungen für Personen in Schwierigkeiten anwenden. Diese Initiativen sind zu ermutigen, denn das ist der Weg, auf dem man die schändliche Plage des Wuchers an der Wurzel fassen kann: dass man dafür sorgt, dass die für die menschenwürdige Entwicklung der Familien und Gemeinschaften notwendigen finanziellen Mittel allen zugänglich sind.

Und was ist über die leider zunehmende Epidemie der Gewalt gegenüber Frauen, Mädchen und Jungen zu sagen? Sie ist heute eine der weitestverbreiteten Verletzungen der Menschenrechte und tragischerweise zu einer Kriegswaffe und einem Instrument des Schreckens geworden: als Geiseln genommene Frauen, barbarisch ermordete Minderjährige. Hinzu kommt die Gewalt der Zwangsprostitution und der Kinderpornographie wie auch die Ausbeutung der Arbeitskraft von Minderjährigen unter den Bedingungen der Sklaverei. Um zu helfen, diese Formen der Gewalt aufzuhalten, sind konkrete Initiativen notwendig, insbesondere angemessene gesetzliche Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene. Eine schwierige Arbeit durch Erziehung und kulturelle Förderung scheint hier geboten, damit, wie ich häufig in früheren Botschaften betonte, die Würde jeder Person anerkannt und geachtet wird. Denn eine Komponente darf in dem ethisch-kulturellen Erbe der ganzen Menschheit und jeder einzelnen Person auf keinen Fall fehlen: das Bewusstsein, dass die Menschen in ihrer Würde alle gleich sind, dass sie denselben Respekt verdienen und dass sie Personen mit gleichen Rechten und Pflichten sind.

Frieden in Gerechtigkeit bauen ist Aufgabe aller und jedes einzelnen

7. Der Frieden für alle erwächst aus der Gerechtigkeit des einzelnen. Niemand kann sich einer für die Menschheit so entscheidenden und wichtigen Aufgabe entziehen. Sie ruft jeden Mann und jede Frau zum Einsatz auf entsprechend der jeweiligen Kompetenz und Verantwortung.

Ich appelliere vor allem an euch, Staatsoberhäupter und Verantwortliche der Nationen, denen die höchste Überwachung des Rechtsstaates in den einzelnen Ländern übertragen ist. Dieses hohe Amt auszuüben ist gewiss nicht leicht, aber es ist eine eurer vordringlichsten Aufgaben. Mögen die Staatsordnungen, denen ihr dient, Gerechtigkeit garantieren und Ansporn sein für die fortschreitende Entwicklung des Bürgersinns.

Frieden in Gerechtigkeit bauen erfordert außerdem die Mithilfe aller gesellschaftlicher Kategorien, jede im eigenen Bereich und im Zusammenwirken mit den anderen Gliedern der Gemeinschaft. Ich ermutige besonders euch Lehrer, die ihr in der Bildung und Erziehung der jungen Generationen auf allen Ebenen tätig seid: Bildet sie heran nach den moralischen und gesellschaftlichen Werten, indem ihr in ihnen einen ausgeprägten Sinn für die Rechte und Pflichten weckt, ausgehend von der Schulgemeinschaft selbst. Zur Gerechtigkeit erziehen, um dadurch zum Frieden zu erziehen: Das ist eine eurer vorrangigsten Aufgaben.

Für den Bildungsweg ist die Familie unersetzlich, die das günstigste Umfeld für die menschliche Formung der jungen Generationen darstellt. Von eurem Beispiel, liebe Eltern, hängt zum großen Teil die moralische Haltung eurer Kinder ab: Sie erwerben sie durch den Stil der Beziehungen, den ihr innerhalb und außerhalb der Familie bestimmt. Die Familie ist die erste Lebensschule, und die in ihr erworbenen Charaktereigenschaften sind entscheidend für die zukünftige Entwicklung der Person.

Schließlich sage ich zu Euch, liebe Jugendlichen auf der ganzen Welt, die ihr spontan nach Gerechtigkeit und Frieden trachtet: Haltet das Streben nach diesen Idealen aufrecht, und habt die Geduld und Ausdauer, sie in euren konkreten Lebensumständen zu verwirklichen. Seid bereit, den Versuchungen von gesetzwidrigen Seitenwegen mit trügerischen Vorspiegelungen von Erfolg oder Reichtum zu widerstehen; habt hingegen das Gespür für das, was recht und wahr ist, auch wenn diese Ausrichtung Opfer verlangt und dazu verpflichtet, gegen den Strom zu schwimmen. So »erwächst aus der Gerechtigkeit des einzelnen der Frieden für alle«.

Die Bereitschaft zum Teilen als Weg zum Frieden

8. Mit großen Schritten naht das Jubiläum des Jahres 2000, eine Zeit, die besonders Gott, dem Herrn der Geschichte, gewidmet wird; ein Anruf für alle im Hinblick auf die vollkommene Abhängigkeit des Geschöpfes vom Schöpfer. Aber in der biblischen Tradition war es auch eine Zeit der Sklavenbefreiung, der Landrückgabe an den rechtmäßigen Eigentümer, des Schuldenerlasses und der konsequenten Wiederherstellung der Formen von Gleichheit unter allen Volksangehörigen. Es ist deshalb eine günstige Zeit, um jene Gerechtigkeit zu verwirklichen, die zum Frieden führt.

Kraft des Glaubens an Gott, der die Liebe ist, und der Teilhabe an der universalen Erlösung Christi sind die Christen gerufen, sich gerecht zu verhalten und mit allen in Frieden zu leben, weil »Jesus uns nicht einfach den Frieden geschenkt hat. Er hat uns seinen Frieden zusammen mit seiner Gerechtigkeit gegeben. Weil er Frieden und Gerechtigkeit ist, kann er unser Frieden und unsere Gerechtigkeit werden«.(10) Ich habe diese Worte vor fast zwanzig Jahren gesprochen, aber vor dem Hintergrund der derzeitigen tiefgreifenden Wandlungen wird ihr Sinn noch konkreter und aktueller.

Das Zeugnis des Christen, die Liebe zu den Armen, Schwachen und Leidenden ist heute mehr denn je gefragt. Diesen anspruchsvollen Auftrag zu erfüllen, erfordert eine totale Umkehrung der scheinbaren Werte, die dazu verleiten, das eigene Wohl zu suchen: die Macht, das Vergnügen, die skrupellose Bereicherung. Ja, gerade zu dieser radikalen Umkehr sind die Jünger Christi aufgerufen. Diejenigen, die sich diesen Weg zu gehen bemühen, werden wahrhaftig »Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist« (Röm 14, 17) erfahren und »als Frucht den Frieden und die Gerechtigkeit« kosten (Hebr 12, 11).

Für die Christen in aller Welt möchte ich die Mahnung des II. Vatikanischen Konzils wiederholen: »Zuerst muss man den Forderungen der Gerechtigkeit Genüge tun, und man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist«.(11) Eine wirklich solidarische Gesellschaft wird dadurch aufgebaut, dass sich die Wohlhabenden nicht darauf beschränken, von ihrem Überfluss zu geben, um den Armen zu helfen. Es genügt auch nicht, materielle Güter anzubieten: Gefordert wird Bereitschaft zum Teilen, so dass die Möglichkeit, den Brüdern und Schwestern in Not eigene Hilfe und Aufmerksamkeit zu widmen, als Ehrensache betrachtet werden kann. Sowohl die Christen als auch die Anhänger anderer Religionen und vieler Männer und Frauen guten Willens erhebt sich heute der Ruf zu einem einfachen Lebensstil als Voraussetzung dazu, dass die gerechte Verteilung der Güter der Schöpfung Gottes Wirklichkeit werden kann. Wer in Not lebt, kann nicht länger warten: Jetzt braucht er das Lebensnotwendige und hat deshalb ein Recht darauf, es sofort zu bekommen.

Der Heilige Geist wirkt in der Welt

9. Am ersten Adventssonntag hat das zweite Jahr der unmittelbaren Vorbereitung auf das Große Jubiläum des Jahres 2000 begonnen. Es ist dem Heiligen Geist gewidmet. Der Geist der Hoffnung wirkt in der Welt. Er ist gegenwärtig im selbstlosen Dienst dessen, der an der Seite der Ausgegrenzten und Leidenden arbeitet, der die Einwanderer und Flüchtlinge aufnimmt, der sich mutig weigert, eine Person oder ganze Gruppe aus ethnischen, kulturellen und religiösen Gründen abzuweisen; er ist ganz besonders gegenwärtig im hochherzigen Handeln derer, die mit Geduld und Ausdauer den Frieden und die Versöhnung unter denen weiter fördern, die einst Feinde und Gegner waren. Auch diese sind Zeichen der Hoffnung, die dazu ermutigen, die Gerechtigkeit zu suchen, die zum Frieden führt. Der Kern der Botschaft des Evangeliums ist Christus, der Frieden und die Versöhnung für alle. Sein Antlitz erhelle den Weg der Menschheit, die sich anschickt, die Schwelle des 3. Jahrtausends zu überschreiten.

Seine Gerechtigkeit und sein Frieden mögen allen Menschen ohne Ausnahme geschenkt werden!
»... dann wird die Wüste zum Garten,
und der Garten wird zu einem Wald.
In der Wüste wohnt das Recht,
die Gerechtigkeit weilt in den Gärten.
Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein,
der Ertrag der Gerechtigkeit
sind Ruhe und Sicherheit
für immer« (Jes 32, 15-17).

Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1997.


(1) Enzyklika Pacem in terris (11. April 1963), I: AAS 55 (1963), 259.

(2) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Präambel.

(3) Ebd., Art. 30.

(4) Botschaft an den Präsidenten der 28. Vollversammlung der Vereinten Nationen anlässlich des 25. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10. Dezember 1973): AAS 65 (1973), 674.

(5) Erklärung von Wien, Weltkonferenz über die Menschenrechte (Juni 1993), Präambel.

(6) II. Ökumenisches Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 78.

(7) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 16 § 3. Vgl. Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983) in L'Osservatore Romano deutsch Nr. 48 (2. Dezember 1983), S. 1. 4-5.

(8) Statut der Vereinten Nationen, Präambel.

(9) Johannes Paul II., Ansprache an die 50. Generalversammlung der Vereinten Nationen (5. Oktober 1995), 14: L'Osservatore Romano deutsch Nr. 41 (13. Oktober 1995), S. 4.

(10) Johannes Paul II., Homilie im Yankee Stadium von New York (2. Oktober 1979), 1: AAS 71 (1979), 1169.

(11) Dekret über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem, 8.



Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana