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ENZYKLIKA
LUMEN FIDEI
VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE BISCHÖFE, AN DIE PRIESTER UND DIAKONE,
AN DIE GOTTGEWEIHTEN PERSONEN
UND AN ALLE CHRISTGLÄUBIGEN
ÜBER DEN GLAUBEN

 

 

1. Das Licht des Glaubens: Mit diesem Ausdruck hat die Tradition der Kirche das große Geschenk bezeichnet, das Jesus gebracht hat, der im Johannesevangelium über sich selber sagt: »Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt« (Joh 12,46). Auch der heilige Paulus drückt dies mit ähnlichen Worten aus: »Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet« (2 Kor 4,6). In der heidnischen, lichthungrigen Welt hatte sich der Kult für den Sonnengott Sol invictus entwickelt, der beim Sonnenaufgang angerufen wurde. Auch wenn die Sonne jeden Tag wiedergeboren wurde, verstand man sehr wohl, dass sie nicht imstande war, ihr Licht über das ganze Sein des Menschen auszustrahlen. Die Sonne erleuchtet ja nicht die ganze Wirklichkeit, ihr Strahl vermag nicht bis in den Schatten des Todes vorzudringen, dorthin, wo das menschliche Auge sich ihrem Licht verschließt. »Niemals konnte jemand beobachtet werden, der bereit gewesen wäre, für seinen Glauben an die Sonne zu sterben«, sagt der heilige Märtyrer Justinus.[1] Im Bewusstsein des weiten Horizonts, den der Glaube ihnen eröffnete, nannten die Christen Christus die wahre Sonne, »deren Strahlen Leben schenken«.[2] Zu Martha, die über den Tod ihres Bruders Lazarus weint, sagt Jesus: »Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?« (Joh 11,40). Wer glaubt, sieht; er sieht mit einem Licht, das die gesamte Wegstrecke erleuchtet, weil es vom auferstandenen Christus her zu uns kommt, dem Morgenstern, der nicht untergeht.

Ein trügerisches Licht?

2. Und doch können wir, wenn wir von diesem Licht des Glaubens sprechen, den Einwand vieler unserer Zeitgenossen hören. Mit dem Aufkommen der Neuzeit meinte man, ein solches Licht sei für die antiken Gesellschaften ausreichend gewesen, für die neuen Zeiten, den erwachsen gewordenen Menschen, der stolz ist auf seine Vernunft und die Zukunft auf neue Weise erforschen möchte, sei es jedoch nutzlos. In diesem Sinn erschien der Glaube als ein trügerisches Licht, das den Menschen hinderte, sich wagemutig auf die Ebene des Wissens zu begeben. Der junge Nietzsche forderte seine Schwester Elisabeth auf zu wagen, »in der Unsicherheit des selbständigen Gehens« »neue Wege« zu beschreiten. Und er fügte hinzu: »Hier scheiden sich nun die Wege der Menschheit; willst du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche«.[3] Glauben stehe dem Suchen entgegen. Davon ausgehend entwickelte Nietzsche dann seine Kritik am Christentum, die Reichweite des menschlichen Seins verringert zu haben, indem es dem Leben Neuheit und Abenteuer genommen habe. Demnach wäre der Glaube gleichsam eine Licht-Illusion, die unseren Weg als freie Menschen in die Zukunft behindert.

3. In diesem Prozess wurde der Glaube am Ende mit der Dunkelheit in Verbindung gebracht. Man meinte, ihn bewahren zu können, einen Raum für ihn zu finden, um ihm ein Miteinander mit dem Licht der Vernunft zu ermöglichen. Der Raum für den Glauben öffnete sich da, wo die Vernunft kein Licht zu bringen vermochte, wo der Mensch keine Sicherheiten mehr erlangen konnte. So wurde der Glaube wie ein Sprung ins Leere verstanden, den wir aus Mangel an Licht vollziehen, getrieben von einem blinden Gefühl; oder wie ein subjektives Licht, das vielleicht das Herz zu erwärmen und einen persönlichen Trost zu bringen vermag, sich aber nicht den anderen als objektives und gemeinsames Licht zur Erhellung des Weges anbieten kann. Nach und nach hat sich jedoch gezeigt, dass das Licht der eigenständigen Vernunft nicht imstande ist, genügend Klarheit über die Zukunft zu vermitteln; sie verbleibt schließlich in ihrem Dunkel und lässt den Menschen in der Angst vor dem Unbekannten zurück. Und so hat der Mensch auf die Suche nach einem großen Licht, nach einer großen Wahrheit verzichtet, um sich mit kleinen Lichtern zu begnügen, die den kurzen Augenblick erhellen, doch unfähig sind, den Weg zu eröffnen. Wenn das Licht fehlt, wird alles verworren, und es ist unmöglich, das Gute vom Bösen, den Weg, der zum Ziel führt, von dem zu unterscheiden, der uns richtungslos immer wieder im Kreis gehen lässt.

Ein Licht, das wiederentdeckt werden muss

4. Darum ist es dringend, die Art von Licht wiederzugewinnen, die dem Glauben eigen ist, denn wenn seine Flamme erlischt, verlieren am Ende auch alle anderen Leuchten ihre Kraft. Das Licht des Glaubens besitzt nämlich eine ganz besondere Eigenart, da es fähig ist, das gesamte Sein des Menschen zu erleuchten. Um so stark zu sein, kann ein Licht nicht von uns selber ausgehen, es muss aus einer ursprünglicheren Quelle kommen, es muss letztlich von Gott kommen. Der Glaube keimt in der Begegnung mit dem lebendigen Gott auf, der uns ruft und uns seine Liebe offenbart, eine Liebe, die uns zuvorkommt und auf die wir uns stützen können, um gefestigt zu sein und unser Leben aufzubauen. Von dieser Liebe verwandelt, empfangen wir neue Augen, erfahren wir, dass in ihr eine große Verheißung von Fülle liegt, und es öffnet sich uns der Blick in die Zukunft. Der Glaube, den wir von Gott als eine übernatürliche Gabe empfangen, erscheint als Licht auf dem Pfad, das uns den Weg weist in der Zeit. Einerseits kommt er aus der Vergangenheit, ist er das Licht eines grundlegenden Gedächtnisses, des Gedenkens des Lebens Jesu, in dem sich dessen absolut verlässliche Liebe gezeigt hat, die den Tod zu überwinden vermag. Da Christus aber auferstanden ist und über den Tod hinaus uns an sich zieht, ist der Glaube zugleich ein Licht, das von der Zukunft her kommt, vor uns großartige Horizonte eröffnet und uns über unser isoliertes Ich hinaus in die Weite der Gemeinschaft hineinführt. Wir begreifen also, dass der Glaube nicht im Dunkeln wohnt; dass er ein Licht für unsere Finsternis ist. Nachdem Dante in der „Göttlichen Komödie" vor dem heiligen Petrus seinen Glauben bekannt hat, beschreibt er ihn mit den Worten: »Dies ist der Funke, dies der Glut Beginn / die dann lebendig in mir aufgestiegen / der Stern, von welchem ich erleuchtet bin«.[4] Genau von diesem Licht des Glaubens möchte ich sprechen, damit es zunimmt und die Gegenwart erleuchtet, bis es ein Stern wird, der die Horizonte unseres Weges aufzeigt in einer Zeit, in der der Mensch des Lichtes ganz besonders bedarf.

5. Vor seinem Leiden hat der Herr dem Petrus versichert: »Ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt« (Lk 22,32). Und dann hat er ihm aufgetragen, in ebendiesem Glauben „die Brüder zu stärken". Im Bewusstsein der Aufgabe, die dem Nachfolger Petri anvertraut ist, hat Benedikt XVI. dieses Jahr des Glaubens ausgerufen. Diese Zeit der Gnade hilft uns dabei, die große Freude im Glauben zu spüren und die Weite der Horizonte, die der Glaube erschließt, wieder kraftvoll wahrzunehmen, um ihn in seiner Einheit und Unversehrtheit zu bekennen in Treue zum Gedächtnis des Herrn und getragen durch seine Gegenwart und das Wirken des Heiligen Geistes. Die Überzeugung eines Glaubens, der das Leben groß macht und erfüllt, es auf Christus und die Kraft seiner Gnade hin ausrichtet, beseelte die Sendung der ersten Christen. In den Akten der Märtyrer steht dieser Dialog zwischen dem römischen Präfekten Rusticus und dem Christen Hierax: »Wo sind deine Eltern?«, fragte der Richter den Märtyrer, und dieser antwortete: »Unser wahrer Vater ist Christus und unsere Mutter der Glaube an ihn«.[5] Für jene Christen war der Glaube als Begegnung mit dem in Christus geoffenbarten lebendigen Gott eine „Mutter", denn er gebar sie, zeugte in ihnen das göttliche Leben, bewirkte eine neue Erfahrung, eine lichtvolle Sicht des Lebens, wofür man bereit war, öffentlich Zeugnis zu geben bis zum Äußersten.

6. Das Jahr des Glaubens begann am fünfzigsten Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dieses Zusammentreffen verhilft uns zu der Einsicht, dass das Zweite Vatikanum ein Konzil über den Glauben war[6], insofern es uns aufgefordert hat, den Vorrang Gottes in Christus wieder zum Zentrum unseres kirchlichen und persönlichen Lebens zu machen. Die Kirche setzt den Glauben nämlich niemals als etwas Selbstverständliches voraus, sondern weiß, dass dieses Geschenk Gottes genährt und gestärkt werden muss, damit es weiterhin ihren Weg lenkt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Glauben innerhalb der menschlichen Erfahrung erstrahlen lassen und ist so die Wege des heutigen Menschen gegangen. Auf diese Weise ist sichtbar geworden, wie der Glaube das menschliche Leben in allen seinen Dimensionen bereichert.

7. Diese Gedanken über den Glauben möchten — in Kontinuität mit all dem, was das Lehramt der Kirche über diese theologale Tugend ausgesagt hat[7] — eine Ergänzung zu dem sein, was Benedikt XVI. in den Enzykliken über die Liebe und die Hoffnung geschrieben hat. Er hatte eine erste Fassung einer Enzyklika über den Glauben schon nahezu fertig gestellt. Dafür bin ich ihm zutiefst dankbar. In der Brüderlichkeit in Christus übernehme ich seine wertvolle Arbeit und ergänze den Text durch einige weitere Beiträge. Der Nachfolger Petri ist ja gestern, heute und morgen immer aufgerufen, „die Brüder zu stärken" in jenem unermesslichen Gut des Glaubens, das Gott jedem Menschen als Licht für seinen Weg schenkt.

Im Glauben — der ein Geschenk Gottes ist, eine übernatürliche Tugend, die er uns eingießt — erkennen wir, dass uns eine große Liebe angeboten und ein gutes Wort zugesprochen wurde und dass wir, wenn wir dieses Wort — Jesus Christus, das Mensch gewordene Wort — aufnehmen, durch den Heiligen Geist verwandelt werden; er erhellt den Weg in die Zukunft und lässt uns die Flügel der Hoffnung wachsen, um diesen Weg freudig zurückzulegen. Glaube, Hoffnung und Liebe bilden in wunderbarer Verflechtung die Dynamik des christlichen Lebens auf die volle Gemeinschaft mit Gott hin. Wie ist dieser Weg, den der Glaube vor uns auftut? Woher kommt sein mächtiges Licht, das den Weg eines gelungenen, überaus fruchtbaren Lebens zu erleuchten vermag?

 

ERSTES KAPITEL

WIR HABEN DIE LIEBE GLÄUBIG ANGENOMMEN
(vgl. 1 Joh 4,16)

 

Abraham, unser Vater im Glauben

8.  Der Glaube öffnet uns den Weg und begleitet unsere Schritte in der Geschichte. Darum müssen wir, wenn wir verstehen wollen, was der Glaube ist, seinen Verlauf beschreiben, den zuerst im Alten Testament bezeugten Weg der gläubigen Menschen. Ein außergewöhnlicher Platz kommt dabei dem Abraham zu, unserem Vater im Glauben. In seinem Leben ereignet sich etwas Überwältigendes: Gott richtet sein Wort an ihn, er offenbart sich als ein Gott, der redet und ihn beim Namen ruft. Der Glaube ist an das Hören gebunden. Abraham sieht Gott nicht, aber er hört seine Stimme. Auf diese Weise nimmt der Glaube einen persönlichen Charakter an. Gott erweist sich so nicht als der Gott eines Ortes und auch nicht als der Gott, der an eine bestimmte heilige Zeit gebunden ist, sondern als der Gott einer Person, eben als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der fähig ist, mit dem Menschen in Kontakt zu treten und einen Bund mit ihm zu schließen. Der Glaube ist die Antwort auf ein Wort, das eine persönliche Anrede ist, auf ein Du, das uns bei unserem Namen ruft.

9. Die Aussage dieses Wortes an Abraham besteht in einem Ruf und einer Verheißung. Zu allererst ist es ein Ruf, aus dem eigenen Land auszuziehen, eine Aufforderung, sich einem neuen Leben zu öffnen, der Anfang eines Auszugs, der ihn auf eine unerwartete Zukunft unterwegs sein lässt. Die Sicht, die der Glaube dem Abraham verleiht, wird dann immer mit diesem zu vollziehenden Schritt nach vorn verbunden sein: Der Glaube „sieht" in dem Maße, in dem er vorangeht und in den Raum eintritt, den das Wort Gottes aufgetan hat. Dieses Wort enthält außerdem eine Verheißung: Deine Nachkommen werden zahlreich sein, du wirst Vater eines großen Volkes sein (vgl. Gen 13,16; 15,5; 22,17). Es ist wahr, dass der Glaube Abrahams, insofern er Antwort auf ein vorangegangenes Wort ist, immer ein Akt der Erinnerung sein wird. Doch legt dieses Erinnern nicht auf die Vergangenheit fest, sondern wird, da es Erinnerung an eine Verheißung ist, fähig, auf Zukunft hin zu öffnen, die Schritte auf dem Weg zu erleuchten. So wird sichtbar, dass der Glaube als Erinnerung an die Zukunft — memoria futuri — eng mit der Hoffnung verbunden ist.

10. Von Abraham wird verlangt, sich diesem Wort anzuvertrauen. Der Glaube begreift, dass das Wort, eine scheinbar flüchtige, vorübergehende Wirklichkeit, wenn es vom treuen Gott ausgesprochen wird, das Sicherste und Unerschütterlichste wird, was es geben kann, das, was die Kontinuität unseres Weges in der Zeit ermöglicht. Der Glaube nimmt dieses Wort wie einen sicheren Felsen, auf dem man mit festen Fundamenten bauen kann. Darum wird in der Bibel der Glaube mit dem hebräischen Wort ’emûnah bezeichnet, das von dem Verb ’amàn abgeleitet ist, welches in seiner Wurzel „stützen, tragen" bedeutet. Der Begriff ’emûnah kann sowohl für die Treue Gottes als auch für den Glauben des Menschen stehen. Der gläubige Mensch empfängt seine Kraft aus der vertrauensvollen Selbstübergabe in die Hände des treuen Gottes. Diese zwei Bedeutungen liegen auch den entsprechenden Begriffen in Griechisch (pistós) und in Latein (fidelis) zugrunde. Damit spielt der heilige Cyrill von Jerusalem, wenn er die Würde des Christen rühmt, der Gottes eigenen Namen empfängt, und beide jeweils pistós — treu bzw. gläubig — genannt werden.[8] Der heilige Augustinus erklärt das so: »Der Mensch ist gläubig (fidelis), indem er dem verheißenden Gott glaubt; Gott ist treu (fidelis), indem er gewährt, was er dem Menschen versprochen hat.«[9]

11. Ein letzter Aspekt der Geschichte Abrahams ist wichtig, um seinen Glauben zu verstehen. Auch wenn das Wort Gottes Neuheit und Überraschung mit sich bringt, liegt es durchaus nicht außerhalb des Erfahrungsbereichs des Patriarchen. In der Stimme, die sich an ihn wendet, erkennt Abraham einen tiefen Ruf, der von jeher in das Innerste seines Seins eingeschrieben ist. Gott verbindet seine Verheißung mit dem Punkt, an dem das Leben des Menschen sich von alters her hoffnungsvoll zeigt: mit der Elternschaft, dem Werden eines neuen Lebens — »Deine Frau Sara wird dir einen Sohn gebären, und du sollst ihn Isaak nennen« (Gen 17,19). Der Gott, der von Abraham verlangt, sich ihm völlig anzuvertrauen, erweist sich als die Quelle, aus der alles Leben kommt. Auf diese Weise verbindet sich der Glaube mit der Vaterschaft Gottes, aus der die Schöpfung hervorgeht: Der Gott, der Abraham ruft, ist der Schöpfergott, derjenige, der »das, was nicht ist, ins Dasein ruft« (Röm 4,17), derjenige, der »uns erwählt [hat] vor der Erschaffung der Welt« und uns »dazu bestimmt [hat], seine Söhne zu werden« (Eph 1,4-5). Für Abraham erhellt der Glaube an Gott die tiefsten Wurzeln seines Seins, erlaubt ihm, die Quelle des Guten zu erkennen, die der Ursprung aller Dinge ist, und gibt ihm die Bestätigung, dass sein Leben nicht vom Nichts oder vom Zufall ausgeht, sondern auf eine persönliche Berufung und Liebe zurückzuführen ist. Der geheimnisvolle Gott, der ihn gerufen hat, ist nicht ein fremder Gott, sondern derjenige, der Ursprung von allem ist und alles erhält. Die große Glaubensprüfung Abrahams, das Opfer seines Sohnes Isaak, zeigt dann, bis zu welchem Punkt diese ursprüngliche Liebe fähig ist, für das Leben auch über den Tod hinaus zu bürgen. Das Wort, das imstande war, in seinem „erstorbenen" Leib und dem ebenso „erstorbenen" Mutterschoß der unfruchtbaren Sara einen Sohn hervorzubringen (vgl. Röm 4,19), wird auch imstande sein, jenseits aller Bedrohung oder Gefahr für die Verheißung einer Zukunft zu bürgen (vgl. Hebr 11,19; Röm 4,21).

Der Glaube Israels

12. Die Geschichte des Volkes Israel setzt sich im Buch Exodus auf der Linie des Glaubens Abrahams fort. Wieder geht der Glaube aus einer ursprünglichen Gabe hervor: Israel öffnet sich dem Handeln Gottes, der es aus seinem Elend befreien will. Der Glaube wird auf eine lange Wanderung gerufen, um den Herrn auf dem Sinai anbeten zu können und ein verheißenes Land zu erben. Die göttliche Liebe besitzt die Eigenschaft des Vaters, der seinen Sohn auf dem Weg trägt (vgl. Dtn 1,31). Das Glaubensbekenntnis Israels entfaltet sich in Form einer Erzählung der Wohltaten Gottes, seines Handelns, um das Volk zu befreien und zu führen (vgl. Dtn 26,5-11) — einer Erzählung, die das Volk von Generation zu Generation weitergibt. Das Licht Gottes leuchtet für Israel durch das Gedächtnis der vom Herrn vollbrachten Taten, die im Gottesdienst in Erinnerung gerufen und bekannt und von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Daraus ersehen wir, dass das Licht, das der Glaube bringt, an die konkrete Erzählung des Lebens, an das dankbare Gedenken der Wohltaten Gottes und an die fortschreitende Erfüllung seiner Verheißungen gebunden ist. Das hat die gotische Architektur sehr gut zum Ausdruck gebracht: In die großen Kathedralen dringt das Licht vom Himmel her durch die Glasfenster ein, in denen die heilige Geschichte dargestellt ist. Das Licht Gottes kommt zu uns durch die Erzählung seiner Offenbarung und kann so unseren Weg in der Zeit erhellen, indem es an die göttlichen Wohltaten erinnert und zeigt, wie seine Verheißungen sich erfüllen.

13. Die Geschichte Israels zeigt uns außerdem die Versuchung des Unglaubens, der das Volk mehrmals verfällt. Das Gegenteil des Glaubens erscheint hier als Götzendienst. Während Mose auf dem Sinai mit Gott spricht, erträgt das Volk das Geheimnis des verborgenen Antlitzes Gottes nicht, es erträgt nicht die Wartezeit. Von seiner Natur her verlangt der Glaube, auf den unmittelbaren Besitz zu verzichten, den die Vision anzubieten scheint — es ist eine Einladung, sich der Quelle des Lichtes zu öffnen, indem man das Geheimnis eines Angesichts respektiert, das sich auf persönliche Weise und zum richtigen Zeitpunkt offenbaren will. Martin Buber zitiert die Worte, mit denen der Rabbiner von Kotzk den Götzendienst definierte: »Wenn ein Mensch ein Gesicht macht vor einem Gesicht, das kein Gesicht ist, das ist Götzendienst.«[10] Anstelle des Glaubens an Gott zieht man vor, den Götzen anzubeten, dem man ins Gesicht blicken kann, dessen Herkunft bekannt ist, weil er von uns gemacht ist. Vor dem Götzen geht man nicht das mögliche Risiko eines Rufes ein, der einen aus den eigenen Sicherheiten herausholt, denn die Götzen »haben einen Mund und reden nicht« (Ps 115,5). So begreifen wir, dass der Götze ein Vorwand ist, sich selbst ins Zentrum der Wirklichkeit zu setzen, in der Anbetung des Werkes der eigenen Hände. Wenn der Mensch die Grundorientierung verloren hat, die seinem Leben Einheit verleiht, verliert er sich in der Vielfalt seiner Wünsche; indem er sich weigert, auf die Zeit der Verheißung zu warten, zerfällt er in die tausend Augenblicke seiner Geschichte. Darum ist der Götzendienst immer Polytheismus, eine ziellose Bewegung von einem Herrn zum andern. Der Götzendienst bietet nicht einen Weg, sondern eine Vielzahl von Pfaden, die anstatt zu einem sicheren Ziel zu führen, vielmehr ein Labyrinth bilden. Wer sich nicht Gott anvertrauen will, muss die Stimmen der vielen Götzen hören, die ihm zurufen: „Vertraue dich mir an!" Der Glaube ist, insofern er an die Umkehr gebunden ist, das Gegenteil des Götzendienstes und heißt, sich von den Götzen loszusagen, um zum lebendigen Gott zurückzukehren durch eine persönliche Begegnung. Glauben bedeutet, sich einer barmherzigen Liebe anzuvertrauen, die stets annimmt und vergibt, die das Leben trägt und ihm Richtung verleiht und die sich mächtig erweist in ihrer Fähigkeit zurechtzurücken, was in unserer Geschichte verdreht ist. Der Glaube besteht in der Bereitschaft, sich immer neu vom Ruf Gottes verwandeln zu lassen. Das ist das Paradox: In der immer neuen Hinwendung zum Herrn findet der Mensch einen sicheren Weg, der ihn vom Hang zur Zerstreuung befreit, dem ihn die Götzen unterwerfen.

14. Im Glauben Israels erscheint auch die Figur des Mose, des Mittlers. Das Volk kann das Angesicht Gottes nicht sehen; Mose kommt die Aufgabe zu, auf dem Berg mit JHWH zu sprechen und allen den Willen des Herrn mitzuteilen. Mit dieser Präsenz des Mittlers hat Israel gelernt, in Einheit seinen Weg zu gehen. Der Glaubensakt des Einzelnen gliedert sich in eine Gemeinschaft ein, in das gemeinsame Wir des Volkes, das im Glauben wie ein einziger Mensch ist, „mein erstgeborener Sohn", wie Gott ganz Israel nennt (vgl. Ex 4,22). Die Vermittlung wird hier nicht ein Hindernis, sondern eine Öffnung: In der Begegnung mit den anderen öffnet sich der Blick auf eine Wahrheit, die größer ist als wir selbst. Jean Jacques Rousseau beklagte sich, Gott nicht persönlich sehen zu können: »Wie viele Menschen zwischen Gott und mir!« [11] »Ist es so einfach und natürlich, dass Gott zu Mose gegangen ist, um mit Jean Jacques Rousseau zu sprechen?«[12] Von einem individualistischen und begrenzten Verständnis der Erkenntnis her kann man den Sinn der Vermittlung nicht verstehen, diese Fähigkeit, an der Sicht des anderen teilzuhaben, ein Mit-Wissen, welches das ganz eigene Wissen der Liebe ist. Der Glaube ist eine unentgeltliche Gabe Gottes, welche die Demut und den Mut verlangt, zu vertrauen und sich anzuvertrauen, um den lichtvollen Weg der Begegnung zwischen Gott und den Menschen zu sehen, die Heilsgeschichte.

Die Fülle des christlichen Glaubens

15. »Abraham jubelte, weil er meinen Tag sehen sollte. Er sah ihn und freute sich« (Joh 8,56). Diesen Worten Jesu zufolge war der Glaube Abrahams auf ihn hin ausgerichtet, war er in gewissem Sinne eine Voraussicht seines Mysteriums. So versteht es der heilige Augustinus, wenn er sagt, dass die Patriarchen durch den Glauben gerettet wurden — nicht durch einen Glauben an den bereits gekommenen Christus, sondern durch einen Glauben an den kommenden Christus, einen Glauben, der sich dem zukünftigen Ereignis Jesu entgegenstreckt.[13] Der christliche Glaube hat seinen Mittelpunkt in Christus; er ist das Bekenntnis, dass Jesus der Herr ist und dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat (vgl. Röm 10,9). Alle Linien des Alten Testaments laufen in Christus zusammen; er wird das endgültige Ja zu allen Verheißungen, das Fundament unseres abschließenden „Amen" zu Gott (vgl. 2 Kor 1,20). Die Geschichte Jesu ist der vollkommene Erweis der Verlässlichkeit Gottes. Wenn Israel der großen Taten der Liebe Gottes gedachte, die das Eigentliche seines Bekenntnisses bildeten und ihm die Augen des Glaubens auftaten, erscheint nun das Leben Jesu wie der Ort des endgültigen Eingreifens Gottes, als der äußerste Ausdruck seiner Liebe zu uns. Was Gott uns in Jesus zuspricht, ist nicht ein weiteres Wort unter vielen anderen, sondern sein ewiges Wort (vgl. Hebr 1,1-2). Es gibt keine größere Garantie, die Gott geben könnte, um uns seiner Liebe zu versichern, wie der heilige Paulus uns in Erinnerung ruft (vgl. Röm 8,31-39). Der christliche Glaube ist also ein Glaube an die vollkommene Liebe, an ihre wirkungsvolle Macht, an ihre Fähigkeit, die Welt zu verwandeln und die Zeit zu erhellen. »Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen« (1 Joh 4,16a). Der Glaube begreift in der in Jesus offenbarten Liebe Gottes das Fundament, auf dem die Wirklichkeit und ihre letzte Bestimmung gründen.

16. Der äußerste Beweis für die Verlässlichkeit der Liebe Christi findet sich in seinem Tod für den Menschen. Wenn der stärkste Beweis für die Liebe darin liegt, sein Leben für die Freunde hinzugeben (vgl. Joh 15,13), so hat Jesus das seine für alle geopfert, auch für diejenigen, die Feinde waren, um auf diese Weise die Herzen zu verwandeln. Deshalb haben die Evangelisten den Höhepunkt der Sicht des Glaubens in die Stunde des Kreuzes gelegt, denn in dieser Stunde erstrahlt die Größe und Weite der göttlichen Liebe. Der heilige Johannes setzt an diese Stelle, da er gemeinsam mit der Mutter Jesu auf den blickte, den sie durchbohrt haben (vgl. Joh 19,37), sein feierliches Zeugnis: »Und der, der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres berichtet, damit auch ihr glaubt« (Joh 19,35). F. M. Dostojewski lässt in seinem Werk Der Idiot den Protagonisten, den Fürsten Myschkin, beim Anblick des Gemäldes des toten Christus im Grab von Hans Holbein dem Jüngeren sagen: »Aber beim Anblick dieses Bildes kann ja mancher Mensch seinen Glauben verlieren«.[14] Das Gemälde stellt nämlich auf sehr drastische Weise die zerstörende Wirkung des Todes auf den Leichnam Christi dar. Und doch wird gerade in der Betrachtung des Todes Jesu der Glaube gestärkt und empfängt ein strahlendes Licht, wenn er sich als ein Glaube an Jesu unerschütterliche Liebe zu uns erweist, die fähig ist, in den Tod zu gehen, um uns zu retten. An diese Liebe, die sich dem Tod nicht entzogen hat, um zu zeigen, wie sehr sie mich liebt, kann man glauben; ihre Totalität ist über jeden Verdacht erhaben und erlaubt uns, uns Christus voll anzuvertrauen.

17. Nun offenbart jedoch der Tod Christi die völlige Verlässlichkeit der Liebe Gottes im Licht seiner Auferstehung. Als Auferstandener ist Christus zuverlässiger, glaubwürdiger Zeuge (vgl. Offb 1,5; Hebr 2,17), eine feste Stütze für unseren Glauben. »Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos«, sagt der heilige Paulus (1 Kor 15,17). Wenn die Liebe des Vaters Jesus nicht von den Toten hätte auferstehen lassen, wenn sie nicht vermocht hätte, seinem Leib wieder Leben zu geben, dann wäre sie keine vollkommen verlässliche Liebe, die in der Lage wäre, auch das Dunkel des Todes zu erhellen. Wenn der heilige Paulus von seinem neuen Leben in Christus spricht, bezieht er sich auf den »Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat« (Gal 2,20). Dieser „Glaube an den Sohn Gottes" ist sicherlich der Glaube des Völkerapostels an Jesus, doch er setzt auch die Verlässlichkeit Jesu voraus, die sich zwar auf seine Liebe bis in den Tod gründet, aber auch darauf, dass er Sohn Gottes ist. Gerade weil Jesus der Sohn ist, weil er ganz im Vater verwurzelt ist, hat er den Tod überwinden und das Leben in Fülle erstrahlen lassen können. Unsere Kultur hat die Wahrnehmung dieser konkreten Gegenwart Gottes, seines Handelns in der Welt, verloren. Wir meinen, Gott befinde sich nur jenseits, auf einer anderen Ebene der Wirklichkeit, getrennt von unseren konkreten Beziehungen. Wenn es aber so wäre, wenn Gott unfähig wäre, in der Welt zu handeln, wäre seine Liebe nicht wirklich mächtig, nicht wirklich real und wäre folglich nicht einmal eine wahre Liebe, die das Glück zu vollbringen vermag, das sie verspricht. Dann wäre es völlig gleichgültig, ob man an ihn glaubt oder nicht. Die Christen bekennen dagegen die konkrete und mächtige Liebe Gottes, der wirklich in der Geschichte handelt und ihr endgültiges Los bestimmt — eine Liebe, der man begegnen kann, die sich im Leiden und Sterben und in der Auferstehung Christi vollends offenbart hat.

18. Zur Fülle, in die Jesus den Glauben führt, gehört ein weiterer entscheidender Aspekt. Im Glauben ist Christus nicht nur der, an den wir glauben, die größte Offenbarung der Liebe Gottes, sondern auch der, mit dem wir uns verbinden, um glauben zu können. Der Glaube blickt nicht nur auf Jesus, sondern er blickt vom Gesichtspunkt Jesu aus, sieht mit seinen Augen: Er ist eine Teilhabe an seiner Sichtweise. In vielen Lebensbereichen vertrauen wir uns anderen Menschen an, die mehr Sachverständnis besitzen als wir. Wir haben Vertrauen zu dem Architekten, der unser Haus baut, zu dem Apotheker, der uns das Medikament zur Heilung anbietet, zu dem Rechtsanwalt, der uns vor Gericht verteidigt. Wir brauchen auch einen, der glaubwürdig ist und kundig in den Dingen Gottes. Jesus, der Sohn Gottes, bietet sich als derjenige an, der uns Gott „erklärt" (vgl. Joh 1,18). Das Leben Christi, seine Weise, den Vater zu kennen, völlig in der Beziehung zu ihm zu leben, öffnet der menschlichen Erfahrung einen neuen Raum, und wir können in ihn eintreten. Der heilige Johannes hat die Bedeutung der persönlichen Beziehung zu Jesus für unseren Glauben durch einen unterschiedlichen Gebrauch des Verbs glauben ausgedrückt. Zusammen mit der Rede von „glauben, dass" wahr ist, was Jesus uns sagt (vgl. Joh 14,10; 20,31), spricht Johannes auch von „ihm [Jesus] glauben" und „an ihn glauben": Wir „glauben Jesus", wenn wir sein Wort und sein Zeugnis annehmen, weil er glaubhaft ist (vgl. Joh 6,30). Wir „glauben an Jesus", wenn wir ihn persönlich in unser Leben aufnehmen und uns ihm anvertrauen, indem wir ihm zustimmen in der Liebe und unterwegs seinen Spuren folgen (vgl. Joh 2,11; 6,47; 12,44).

Damit wir ihn kennen und aufnehmen und ihm folgen können, hat der Sohn Gottes unser Fleisch angenommen, und so hat er den Vater auch auf menschliche Weise gesehen, über einen Werdegang und einen Weg in der Zeit. Der christliche Glaube ist Glaube an die Inkarnation des Wortes und an die Auferstehung des Fleisches; es ist der Glaube an einen Gott, der uns so nahe geworden ist, dass er in unsere Geschichte eingetreten ist. Der Glaube an den in Jesus Mensch gewordenen Sohn Gottes trennt uns nicht von der Wirklichkeit, sondern erlaubt uns, ihren tieferen Grund zu erfassen und zu entdecken, wie sehr Gott diese Welt liebt und sie unaufhörlich auf sich hin ausrichtet. Und dies führt den Christen dazu, sich darum zu bemühen, den Weg auf Erden in noch intensiverer Weise zu leben.

Das Heil durch den Glauben

19. Von dieser Teilhabe an der Sichtweise Jesu ausgehend hat uns der Apostel Paulus in seinen Schriften eine Beschreibung des Lebens aus dem Glauben hinterlassen. In der Annahme des Geschenks des Glaubens wird der Gläubige in eine neue Schöpfung verwandelt. Er empfängt ein neues Sein, ein Sein als Kind Gottes, er wird Sohn im Sohn. „Abba, Vater" ist der Ausruf, der die Erfahrung Jesu am besten kennzeichnet und der zur Mitte christlicher Erfahrung wird (vgl. Röm 8,15). Das Leben im Glauben heißt, insofern es Gotteskindschaft ist, das ursprüngliche und tief greifende Geschenk anerkennen, auf dem das menschliche Leben beruht, und kann in dem Satz des heiligen Paulus an die Korinther zusammengefasst werden: »Was hast du, das du nicht empfangen hättest?« (1 Kor 4,7). Genau hier ist die Mitte der Polemik des heiligen Paulus gegen die Pharisäer angesiedelt, die Diskussion über das Heil durch den Glauben oder durch die Werke des Gesetzes. Was der heilige Paulus verwirft, ist die Haltung dessen, der sich durch sein eigenes Handeln selbst vor Gott rechtfertigen will. Auch wenn er die Gebote befolgt, auch wenn er gute Werke vollbringt, setzt er sich selber ins Zentrum und erkennt nicht an, dass der Ursprung des Guten Gott ist. Wer so handelt, wer selbst die Quelle seiner Gerechtigkeit sein will, erlebt, dass sie sich bald erschöpft, und entdeckt, dass er sich nicht einmal in der Treue zum Gesetz halten kann. Er schließt sich ein und isoliert sich vom Herrn und den anderen, und darum wird sein Leben leer, werden seine Werke fruchtlos wie ein Baum fern vom Wasser. Der heilige Augustinus drückt das in seiner bündigen und wirkungsvollen Sprache so aus: »Ab eo qui fecit te noli deficere nec ad te« — »Von dem, der dich gemacht hat, entferne dich nicht einmal, um zu dir zu gehen.«[15] Wenn der Mensch meint, zu sich selber zu finden, indem er sich von Gott entfernt, dann scheitert sein Leben (vgl. Lk 15,11-24). Der Anfang des Heiles ist das Sich-Öffnen für etwas Vorausgehendes, für eine ursprüngliche Gabe, die das Leben bekräftigt und im Sein bewahrt. Nur wenn man sich diesem Ursprung öffnet und ihn anerkennt, vermag man verwandelt zu werden, indem man zulässt, dass das Heil in uns wirkt und so unser Leben fruchtbar, reich an guten Früchten macht. Das Heil durch den Glauben besteht in der Anerkennung des Vorrangs der Gabe Gottes, wie der heilige Paulus zusammenfasst: »Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft — Gott hat es geschenkt« (Eph 2,8).

20. Die neue Logik des Glaubens ist auf Christus hin ausgerichtet. Der Glaube an Christus rettet uns, denn in ihm öffnet sich das Leben völlig für eine Liebe, die uns vorausgeht und uns von innen her verwandelt, die in uns und mit uns wirkt. Das erscheint deutlich in der Auslegung, die der Völkerapostel zu einem Text aus dem Buch Deuteronomium macht und die sich in die tiefste Dynamik des Alten Testaments einfügt. Mose sagt zum Volk, dass Gottes Gebot weder zu hoch noch zu weit entfernt für den Menschen ist. Man darf nicht sagen: »Wer steigt für uns in den Himmel hinauf und holt es herunter?« oder »Wer fährt für uns über das Meer und holt es herüber?« (vgl. Dtn 30,11-14). Diese Nähe des Wortes Gottes wird von Paulus dahingehend gedeutet, dass es auf die Gegenwart Christi im Christen bezogen ist. »Sag nicht in deinem Herzen: Wer wird in den Himmel hinaufsteigen? Das hieße: Christus herabholen. Oder: Wer wird in den Abgrund hinabsteigen? Das hieße: Christus von den Toten heraufführen« (Röm 10,6-7). Christus ist auf die Erde herabgestiegen und von den Toten auferstanden. Mit seiner Menschwerdung und Auferstehung hat der Sohn Gottes den ganzen Weg des Menschen umfasst und wohnt in unseren Herzen durch den Heiligen Geist. Der Glaube weiß, dass Gott uns ganz nahe geworden ist, dass Christus uns als großes Geschenk gegeben ist, das in uns eine innere Verwandlung vollzieht, das in uns wohnt und uns so das Licht schenkt, das den Anfang und das Ende des Lebens erhellt, den ganzen Bogen des Weges des Menschen.

21. So können wir die Neuheit erfassen, zu der uns der Glaube führt. Der Glaubende wird von der Liebe verwandelt, der er sich im Glauben geöffnet hat. In seinem Sich-Öffnen für diese Liebe, die ihm angeboten wird, weitet sich sein Leben über sich selbst hinaus. Der heilige Paulus sagt: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Gal 2,20), und fordert dazu auf: »Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen« (Eph 3,17). Im Glauben dehnt sich das Ich des Glaubenden aus, um von einem Anderen bewohnt zu sein, um in einem Anderen zu leben, und so weitet sich sein Leben in der Liebe. Hier hat das besondere Handeln des Heiligen Geistes seinen Platz. Der Christ kann mit den Augen Jesu sehen, seine Gesinnung haben, seine Kind-Vater-Beziehung teilen, weil er seiner Liebe teilhaftig wird, die der Heilige Geist ist. In dieser Liebe empfängt man in gewisser Weise die Sichtweise Jesu. Außerhalb dieser Gleichgestaltung in der Liebe, außerhalb der Gegenwart des Geistes, der sie in unsere Herzen ausgießt (vgl. Röm 5,5), ist es unmöglich, Jesus als den Herrn zu bekennen (vgl. 1 Kor 12,3).

Die kirchliche Gestalt des Glaubens

22. Auf diese Weise wird das Leben aus dem Glauben ein kirchliches Leben. Als der heilige Paulus zu den Christen in Rom von diesem einen Leib spricht, den in Christus alle bilden, ermahnt er sie, sich nicht zu rühmen; jeder soll sich hingegen beurteilen »nach dem Maß des Glaubens, das Gott ihm zugeteilt hat« (Röm 12,3). Der Gläubige lernt, sich selbst von dem Glauben her zu sehen, den er bekennt. Die Gestalt Christi ist der Spiegel, in dem er die Verwirklichung des eigenen Bildes entdeckt. Und wie Christus in sich alle Gläubigen umfasst, die seinen Leib bilden, begreift der Christ sich selbst in diesem Leib, in ursprünglicher Beziehung zu Christus und zu seinen Brüdern und Schwestern im Glauben. Das Bild des Leibes will den Gläubigen nicht auf einen bloßen Teil eines anonymen Ganzen reduzieren, auf ein einfaches Rädchen in einem großen Getriebe, sondern will vielmehr die lebendige Einheit Christi mit den Gläubigen und aller Gläubigen untereinander unterstreichen. Die Christen sind „einer" (vgl. Gal 3,28), ohne ihre Individualität zu verlieren, und im Dienst an den anderen gewinnt jeder sein eigenes Sein bis ins Letzte. Dann versteht man auch, warum außerhalb dieses Leibes, außerhalb dieser Einheit der Kirche in Christus — dieser Kirche, die nach den Worten Romano Guardinis die »geschichtliche Trägerin des vollen Blicks Christi auf die Welt«[16] ist — der Glaube sein „Maß" verliert, nicht mehr sein Gleichgewicht findet, den nötigen Raum, um sich zu stützen. Der Glaube hat eine notwendig kirchliche Gestalt; er wird vom Innern des Leibes Christi aus bekannt, als konkrete Gemeinsamkeit der Gläubigen. Von diesem kirchlichen Ort her macht er den einzelnen Christen offen für alle Menschen. Das einmal gehörte Wort Christi verwandelt sich durch seine Eigendynamik im Christen in Antwort und wird selbst verkündetes Wort, Bekenntnis des Glaubens. Der heilige Paulus sagt, dass man »mit dem Herzen glaubt und mit dem Mund bekennt« (Röm 10,10). Der Glaube ist keine Privatsache, keine individualistische Auffassung, keine subjektive Meinung, sondern er geht aus einem Hören hervor und ist dazu bestimmt, sich auszudrücken und Verkündigung zu werden. Denn »wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündigt?« (Röm 10,14). Der Glaube wird also im Christen wirksam von der empfangenen Gabe her, der Liebe, die zu Christus hinzieht (vgl. Gal 5,6), und lässt ihn teilnehmen am Weg der Kirche, die durch die Geschichte pilgernd unterwegs ist zur Vollendung. Für den, der auf diese Weise verwandelt worden ist, öffnet sich eine neue Sichtweise, wird der Glaube zum Licht für seine Augen.

 

ZWEITES KAPITEL

GLAUBT IHR NICHT, SO VERSTEHT IHR NICHT
(vgl. Jes 7,9)

 

Glaube und Wahrheit

23. Glaubt ihr nicht, so versteht ihr nicht (vgl. Jes 7,9): So gab die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel, die im ägyptischen Alexandrien erstellte Septuaginta, die Worte des Propheten Jesaja an den König Ahas wieder. Auf diese Weise wurde das Problem der Erkenntnis der Wahrheit ins Zentrum des Glaubens gestellt. Im hebräischen Text heißt es allerdings anders. Darin sagt der Prophet zum König: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht". Es handelt sich hier um ein Wortspiel mit zwei Formen des Verbs ’amàn: „ihr werdet glauben" (ta’aminu) und „ihr werdet bleiben" (te’amenu). Verängstigt durch die Macht seiner Feinde, sucht der König die Sicherheit, die ihm ein Bündnis mit dem großen assyrischen Reich geben kann. Da fordert der Prophet ihn auf, sich allein dem wahren Felsen, der nicht wankt, anzuvertrauen, dem Gott Israels. Weil Gott verlässlich ist, ist es vernünftig, an ihn zu glauben, die eigene Sicherheit auf sein Wort zu bauen. Es ist dies der Gott, den Jesaja später zweimal den „Gott, der das Amen ist", nennt (vgl. Jes 65,16), das unerschütterliche Fundament der Bundestreue. Man könnte meinen, die griechische Fassung der Bibel habe mit ihrer Übersetzung von „bleiben" mit „verstehen" eine tief greifende Änderung am Text vorgenommen, indem sie von der biblischen Auffassung des Sich-Gott-Anvertrauens zur griechischen des Verstehens übergegangen sei. Doch ist diese Übersetzung, die sicher den Dialog mit der hellenistischen Kultur zuließ, der tiefen Dynamik des hebräischen Textes nicht fremd. Die Sicherheit, die Jesaja dem König verspricht, kommt nämlich durch das Verstehen des Handelns Gottes und der Einheit, die dieser dem Leben des Menschen und der Geschichte des Volkes verleiht. Der Prophet fordert dazu auf, die Wege des Herrn zu verstehen, indem man in der Treue Gottes den Plan der Weisheit findet, der die Zeiten lenkt. Der heilige Augustinus bringt die Synthese von „verstehen" und „bleiben" in seinen Bekenntnissen zum Ausdruck, wenn er von der Wahrheit spricht, der man sich anvertrauen kann, um stehen zu können: »Dann wird mir Stand und Festigkeit sein in Dir, […] der Wahrheit, die du bist.«[17] Aus dem Zusammenhang entnehmen wir, dass der heilige Augustinus zeigen will, in welcher Weise diese verlässliche Wahrheit Gottes — wie aus der Bibel hervorgeht — seine treue Gegenwart durch die Geschichte hindurch bedeutet, seine Fähigkeit, die Zeiten zusammen zu halten, indem er die Tage des Menschen in ihrer Zersplitterung sammelt.[18]

24. In diesem Licht gelesen, führt der Jesaja-Text zu einer Schlussfolgerung: Der Mensch braucht Erkenntnis, er braucht Wahrheit, denn ohne sie hat er keinen Halt, kommt er nicht voran. Glaube ohne Wahrheit rettet nicht, gibt unseren Schritten keine Sicherheit. Er bleibt ein schönes Märchen, die Projektion unserer Sehnsucht nach Glück, etwas, das uns nur in dem Maß befriedigt, in dem wir uns Illusionen hingeben wollen. Oder er reduziert sich auf ein schönes Gefühl, das tröstet und wärmt, doch dem Wechsel unserer Stimmung und der Veränderlichkeit der Zeiten unterworfen ist und einem beständigen Weg im Leben keinen Halt zu bieten vermag. Wenn der Glaube so wäre, hätte der König Ahas Recht, sein Leben und die Sicherheit seines Reiches nicht auf eine Gefühlsregung zu setzen. Aber gerade durch seine innere Verbindung mit der Wahrheit ist der Glaube fähig, ein neues Licht zu bieten, das den Berechnungen des Königs überlegen ist, weil es weiter sieht, denn es versteht das Handeln Gottes, der seinem Bund und seinen Verheißungen treu ist.

25. An die Verbindung des Glaubens mit der Wahrheit zu erinnern, ist heute nötiger denn je, gerade wegen der Wahrheitskrise, in der wir leben. In der gegenwärtigen Kultur neigt man oft dazu, als Wahrheit nur die der Technologie zu akzeptieren: Wahr ist, was der Mensch mit seiner Wissenschaft zu konstruieren und zu messen vermag — wahr, weil es funktioniert und so das Leben bequemer und müheloser macht. Dies scheint heute die einzige sichere Wahrheit zu sein, die einzige, die man mit anderen teilen kann, die einzige, über die man diskutieren und für die man sich gemeinsam einsetzen kann. Auf der anderen Seite gebe es dann die Wahrheiten des Einzelnen, die darin bestünden, authentisch zu sein gegenüber dem, was jeder innerlich empfindet; sie wären nur für den Einzelnen gültig und könnten den anderen nicht vermittelt werden mit dem Anspruch, dem Gemeinwohl zu dienen. Die große Wahrheit, die Wahrheit, die das Ganze des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens erklärt, wird mit Argwohn betrachtet. War das nicht die Wahrheit, fragt man sich, die sich die großen totalitären Systeme des vergangenen Jahrhunderts anmaßten — eine Wahrheit, die ihre eigene Weltanschauung aufzwang, um die konkrete Geschichte des Einzelnen zu erdrücken? So bleibt dann nur ein Relativismus, in dem die Frage nach der universalen Wahrheit, die im Grunde auch die Frage nach Gott ist, nicht mehr interessiert. Aus dieser Sicht ist es logisch, dass man die Verbindung der Religion mit der Wahrheit lösen möchte, denn diese Verknüpfung stehe an der Wurzel des Fanatismus, der alle überwältigen will, die die eigenen Überzeugungen nicht teilen. Wir können in diesem Zusammenhang von einer großen Vergessenheit in unserer heutigen Welt sprechen. Die Frage nach der Wahrheit ist nämlich eine Frage der Erinnerung, einer tiefen Erinnerung, denn sie wendet sich an etwas, das uns vorausgeht, und auf diese Weise kann sie uns jenseits unseres kleinen und begrenzten Ich vereinen. Es ist eine Frage nach dem Ursprung von allem, in dessen Licht man das Ziel und so auch den Sinn des gemeinsamen Weges sehen kann.

Die Erkenntnis der Wahrheit und die Liebe

26. Kann der christliche Glaube in dieser Situation dem Gemeinwohl in Bezug auf das rechte Verständnis der Wahrheit dienlich sein? Um darauf zu antworten, ist es nötig, über die dem Glauben eigene Art der Erkenntnis nachzudenken. Dabei kann uns ein Wort des heiligen Paulus hilfreich sein, wenn er sagt, dass man »mit dem Herzen glaubt« (Röm 10,10). Das Herz ist in der Bibel die Mitte des Menschen, wo alle seine Dimensionen — Leib und Geist, die Innerlichkeit der Person sowie seine Öffnung für die Welt und die anderen; Verstand, Wille und Gefühlsleben — miteinander verflochten sind. Wenn also das Herz imstande ist, diese Dimensionen zusammenzuhalten, dann deshalb, weil es der Ort ist, an dem wir uns der Wahrheit und der Liebe öffnen und zulassen, dass sie uns anrühren und in der Tiefe verändern. Der Glaube verwandelt den ganzen Menschen, eben insofern er sich der Liebe öffnet. In dieser Verflechtung des Glaubens mit der Liebe versteht man die dem Glauben eigene Gestalt der Erkenntnis, seine Überzeugungskraft und seine Fähigkeit, unsere Schritte zu erhellen. Der Glaube erkennt, weil er an die Liebe gebunden ist, weil die Liebe selber Licht bringt. Das Glaubensverständnis beginnt, wenn wir die große Liebe Gottes empfangen, die uns innerlich verwandelt und uns neue Augen schenkt, die Wirklichkeit zu sehen.

27. Es ist bekannt, wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein die Verbindung zwischen dem Glauben und der Gewissheit erläutert hat. Glauben ist seiner Meinung nach ähnlich wie die Erfahrung des Verliebtseins im Sinne von etwas Subjektivem, das nicht als eine für alle gültige Wahrheit aufgestellt werden kann.[19] Dem modernen Menschen scheint es nämlich, als habe die Frage nach der Liebe nichts mit der Wahrheit zu tun. Die Liebe wird heute als eine Erfahrung angesehen, die an die Welt der unbeständigen Gefühle gebunden ist und nicht mehr an die Wahrheit.

Aber ist das wirklich eine angemessene Beschreibung der Liebe? In Wirklichkeit kann die Liebe nicht auf ein Gefühl reduziert werden, das kommt und geht. Sie berührt zwar unser Gefühlsleben, doch um es für den geliebten Menschen zu öffnen und so einen Weg zu ihm zu beginnen, d. h. aus der Verschlossenheit in das eigene Ich heraus- und auf den anderen zuzugehen, um eine dauerhafte Beziehung aufzubauen. Die Liebe trachtet nach der Einheit mit dem geliebten Menschen. So stellt sich heraus, in welchem Sinn die Liebe der Wahrheit bedarf. Nur insofern sie auf Wahrheit gegründet ist, kann die Liebe in der Zeit fortbestehen, den flüchtigen Augenblick überstehen und unerschütterlich bleiben, um einen gemeinsamen Weg zu stützen. Wenn die Liebe keinen Bezug zur Wahrheit hat, ist sie den Gefühlen unterworfen und übersteht nicht die Prüfung der Zeit. Die wahre Liebe vereint hingegen alle Elemente unserer Person und wird zu einem neuen Licht auf ein großes und erfülltes Leben hin. Ohne Wahrheit kann die Liebe keine feste Bindung geben, vermag sie das Ich nicht über seine Isoliertheit hinauszuführen, noch es von dem flüchtigen Augenblick zu befreien, damit es das Leben aufbaut und Frucht bringt.

Wenn die Liebe der Wahrheit bedarf, so bedarf auch die Wahrheit der Liebe. Liebe und Wahrheit kann man nicht voneinander trennen. Ohne Liebe wird die Wahrheit kalt, unpersönlich und erdrückend für das konkrete Leben des Menschen. Die Wahrheit, die wir suchen, jene, die unseren Schritten Sinn verleiht, erleuchtet uns, wenn wir von der Liebe berührt sind. Wer liebt, begreift, dass die Liebe eine Erfahrung der Wahrheit ist, dass sie selbst unsere Augen öffnet, um die ganze Wirklichkeit in neuer Weise zu sehen, in Einheit mit dem geliebten Menschen. In diesem Sinn hat der heilige Gregor der Große geschrieben, dass »amor ipse notitia est«, dass die Liebe selbst eine Erkenntnis ist, eine neue Logik mit sich bringt.[20] Es handelt sich um eine an die Beziehung gebundene Weise, die Welt zu sehen, die eine miteinander geteilte Erkenntnis wird, eine Sicht aus der Sicht des anderen und eine gemeinsame Sicht aller Dinge. Wilhelm von Saint Thierry folgt im Mittelalter dieser Überlieferung, als er einen Vers aus dem Hohelied kommentiert, in dem der Geliebte zur Geliebten sagt: Augen der Taube sind deine Augen (vgl. Hld 1,15).[21] Diese beiden Augen, erklärt Wilhelm, sind die glaubende Vernunft und die Liebe, die ein einziges Auge werden, um zur Schau Gottes zu gelangen, wenn der Verstand zum »Verstand einer erleuchteten Liebe« wird.[22]

28. Diese Entdeckung der Liebe als Quelle der Erkenntnis, die zur ursprünglichen Erfahrung jedes Menschen gehört, findet maßgeblichen Ausdruck in der biblischen Auffassung des Glaubens. Indem Israel sich der Liebe erfreut, mit der Gott es erwählt und als Volk gezeugt hat, gelangt es dahin, die Einheit des göttlichen Planes vom Anfang bis zur Vollendung zu begreifen. Die Glaubenserkenntnis ist dadurch, dass sie aus der Liebe Gottes hervorgeht, der den Bund schließt, eine Erkenntnis, die einen Weg in der Geschichte erhellt. Aus diesem Grund gehören in der Bibel Wahrheit und Treue zusammen: Der wahre Gott ist der treue Gott, derjenige, der seine Versprechen hält und erlaubt, in der Zeit seinen Plan zu verstehen. Durch die Erfahrung der Propheten, im Schmerz des Exils und in der Hoffnung auf eine endgültige Rückkehr in die Heilige Stadt, hat Israel erahnt, dass diese Wahrheit Gottes sich über seine eigene Geschichte hinaus erstreckte, um die gesamte Geschichte der Welt von der Schöpfung an zu umfassen. Die Glaubenserkenntnis erhellt nicht nur den besonderen Weg eines Volkes, sondern den gesamten Lauf der geschaffenen Welt, von ihrem Ursprung bis zu ihrem Vergehen.

Der Glaube als Hören und Sehen

29. Gerade weil die Glaubenserkenntnis in Zusammenhang mit dem Bund eines treuen Gottes steht, der eine Beziehung der Liebe mit dem Menschen knüpft und an ihn sein Wort richtet, wird sie von der Bibel als ein Hören dargestellt und mit dem Gehörsinn assoziiert. Der heilige Paulus verwendet eine Formulierung, die klassisch geworden ist: fides ex auditu — »der Glaube kommt vom Hören« (Röm 10,17). Die mit dem Wort verbundene Erkenntnis ist immer eine persönliche Erkenntnis, welche die Stimme erkennt, sich ihr in Freiheit öffnet und ihr im Gehorsam folgt. Darum hat der heilige Paulus vom „Gehorsam des Glaubens" (vgl. Röm 1,5; 16,26) gesprochen.[23] Der Glaube ist außerdem eine Erkenntnis, die an den Lauf der Zeit gebunden ist, den das Wort braucht, um sich auszudrücken: Er ist eine Erkenntnis, zu der man nur auf einem Weg der Nachfolge gelangt. Das Hören ist hilfreich, um die Verbindung zwischen Erkenntnis und Liebe treffend darzustellen.

Was die Erkenntnis der Wahrheit betrifft, ist das Hören manchmal dem Sehen entgegengesetzt worden, das der griechischen Kultur eigen sei. Wenn das Licht einerseits die Betrachtung des Ganzen ermöglicht, die der Mensch immer erstrebt hat, scheint es andererseits der Freiheit keinen Raum zu lassen, weil es vom Himmel herabkommt und direkt ins Auge fällt, ohne dessen Reaktion zu verlangen. Außerdem scheine es zu einer statischen Betrachtung einzuladen, getrennt von der konkreten Zeit, in der der Mensch Freude und Leid erlebt. Dieser Auffassung nach stehe der biblische Ansatz der Erkenntnis im Gegensatz zum griechischen Ansatz, der auf der Suche nach einem umfassenden Verstehen des Wirklichen die Erkenntnis mit dem Sehen verbunden hat.

Es ist dagegen klar, dass dieser angebliche Gegensatz nicht der biblischen Gegebenheit entspricht. Das Alte Testament hat beide Arten der Erkenntnis miteinander vereint, denn mit dem Hören des Wortes Gottes verbindet sich der Wunsch, sein Angesicht zu sehen. Auf diese Weise konnte sich ein Dialog mit der hellenistischen Kultur entwickeln, der zum Eigentlichen der Schrift gehört. Das Hören bestätigt die persönliche Berufung und den Gehorsam wie auch die Tatsache, dass die Wahrheit sich in der Zeit offenbart; das Sehen bietet die volle Sicht des gesamten Weges und erlaubt, sich in den großen Plan Gottes einzureihen; ohne diese Sicht würden wir nur über vereinzelte Fragmente eines unbekannten Ganzen verfügen.

30. Die Verbindung zwischen dem Sehen und dem Hören als Organe der Glaubenserkenntnis erscheint mit größter Deutlichkeit im Johannesevangelium. Für das vierte Evangelium bedeutet glauben hören und zugleich sehen. Das Hören des Glaubens geschieht entsprechend der Form von Erkenntnis, die der Liebe eigen ist: Es ist ein persönliches Hören, das die Stimme unterscheidet und die des Guten Hirten erkennt (vgl. Joh 10,3-5); ein Hören, das die Nachfolge verlangt wie bei den ersten Jüngern: Sie »hörten, was er sagte, und folgten Jesus« (Joh 1,37). Andererseits ist der Glaube auch mit dem Sehen verbunden. Manchmal geht das Sehen der Zeichen Jesu dem Glauben voraus wie bei den Juden, die nach der Auferweckung des Lazarus, als sie »gesehen hatten, was Jesus getan hatte, zum Glauben an ihn kamen« (Joh 11,45). Andere Male ist es der Glaube, der zu einer tieferen Sicht führt: »Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen« (Joh 11,40). Schließlich überschneiden glauben und sehen einander: »Wer an mich glaubt, glaubt […] an den, der mich gesandt hat, und wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat« (Joh 12,44-45). Dank dieser Einheit mit dem Hören wird das Sehen zur Nachfolge Christi, und der Glaube erscheint als ein Entwicklungsprozess des Sehens, in dem die Augen sich daran gewöhnen, in die Tiefe zu schauen. Und so geht es am Ostermorgen von Johannes, der — noch im Dunkeln — angesichts des leeren Grabes »sah und glaubte« (Joh 20,8), zu Maria Magdalena, die Jesus bereits sieht (vgl. Joh 20,14) und ihn festhalten möchte, doch aufgefordert wird, Jesus in seinem Weg zum Vater zu betrachten, bis hin zum vollen Bekenntnis derselben Magdalena vor den Jüngern: »Ich habe den Herrn gesehen!« (Joh 20,18).

Wie kommt man zu dieser Synthese von Hören und Sehen? Sie wird möglich von der konkreten Person Jesu her, den man sieht und hört. Er ist das Fleisch gewordene Wort, dessen Herrlichkeit wir gesehen haben (vgl. Joh 1,14). Das Licht des Glaubens ist das eines Angesichts, in dem man den Vater sieht. Tatsächlich ist im vierten Evangelium die Wahrheit, die der Glaube erfasst, die Offenbarung des Vaters im Sohn, in seinem Leib und in seinen irdischen Werken — eine Wahrheit, die man als das „gelichtete Leben" Jesu[24] definieren kann. Das bedeutet, dass die Glaubenserkenntnis uns nicht einlädt, eine rein innere Wahrheit anzusehen. Die Wahrheit, die der Glaube uns erschließt, ist eine Wahrheit, die auf die Begegnung mit Christus ausgerichtet ist, auf die Betrachtung seines Lebens, auf die Wahrnehmung seiner Gegenwart. In diesem Sinn spricht der heilige Thomas von Aquin von der oculata fides der Apostel — vom sehenden Glauben! — angesichts des leiblichen Anblicks des Auferstandenen.[25] Sie haben den auferstandenen Jesus mit eigenen Augen gesehen und haben geglaubt, d. h. sie konnten in die Tiefe dessen eindringen, was sie sahen, um den Sohn Gottes, der zur Rechten des Vaters sitzt, zu bekennen.

31. Nur so, durch die Inkarnation, durch das Teilen unseres Menschseins konnte die der Liebe eigene Erkenntnis zur Fülle gelangen. Das Licht der Liebe leuchtet nämlich auf, wenn wir im Herzen angerührt werden und so in uns die innere Gegenwart des Geliebten empfangen, die uns erlaubt, sein Geheimnis zu erkennen. So verstehen wir auch, warum für den heiligen Johannes der Glaube neben dem Hören und dem Sehen ein Berühren ist, wie er in seinem ersten Brief sagt: »Was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens« (1 Joh 1,1). Mit seiner Inkarnation, mit seinem Kommen in unsere Mitte hat Jesus uns berührt, und durch die Sakramente berührt er uns auch heute. Auf diese Weise, indem er unser Herz verwandelte, hat er uns ermöglicht und ermöglicht er uns weiterhin, ihn als Sohn Gottes zu erkennen und zu bekennen. Mit dem Glauben können wir ihn berühren und die Macht seiner Gnade empfangen. In seiner Auslegung der Erzählung von der blutflüssigen Frau, die Jesus berührt, um geheilt zu werden (vgl. Lk 8,45-46), sagt der heilige Augustinus: »Mit dem Herzen berühren, das ist glauben.«[26] Die Menschenmenge drängt sich um Jesus, doch sie erreicht ihn nicht mit der persönlichen Berührung des Glaubens, der sein Geheimnis erkennt, dass er der Sohn ist, der den Vater offenbart. Nur wenn wir Jesus gleichgestaltet werden, empfangen wir Augen, die geeignet sind, ihn zu sehen.

Der Dialog zwischen Glaube und Vernunft

32. Da der christliche Glaube die Wahrheit der vollkommenen Liebe Gottes verkündet und den Menschen für die Macht dieser Liebe öffnet, erreicht er den eigentlichen Kern der Erfahrung jedes Menschen, der dank der Liebe das Licht erblickt und dazu berufen ist zu lieben, um im Licht zu bleiben. Getrieben von dem Wunsch, die gesamte Wirklichkeit von der in Jesus offenbarten Liebe Gottes her zu erleuchten, und in dem Bemühen, selbst mit ebendieser Liebe zu lieben, fanden die ersten Christen in der griechischen Welt und deren Hunger nach Wahrheit ein geeignetes Gegenüber für den Dialog. Die Begegnung der Botschaft des Evangeliums mit dem philosophischen Denken der Antike bildete einen entscheidenden Schritt, damit das Evangelium zu allen Völkern gelangte. Diese Begegnung begünstigte eine fruchtbare Wechselbeziehung zwischen Glaube und Vernunft, die sich im Laufe der Jahrhunderte weiter entfaltete bis herauf in unsere Tage. Der selige Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika Fides et ratio gezeigt, wie Glaube und Vernunft sich gegenseitig stärken.[27] Wenn wir das volle Licht der Liebe Jesu finden, entdecken wir, dass in all unserer Liebe immer ein Schimmer jenes Lichts vorhanden war, und begreifen, welches ihr letztes Ziel war. Und die Tatsache, dass unsere Liebe ein Licht mit sich bringt, hilft uns zugleich, den Weg der Liebe zu sehen, der in die Fülle der totalen Hingabe des Sohnes Gottes für uns führt. In dieser Kreisbewegung erleuchtet das Licht des Glaubens alle unsere menschlichen Beziehungen, die in Einheit mit der einfühlsamen Liebe Christi gelebt werden können.

33. Im Leben des heiligen Augustinus finden wir ein bedeutsames Beispiel dieses Weges, auf dem die Suche der Vernunft mit ihrem Sehnen nach Wahrheit und Klarheit in den Horizont des Glaubens eingefügt wurde, von dem sie ein neues Verstehen empfing. Einerseits nimmt er die griechische Philosophie des Lichtes mit ihrem Beharren auf dem visuellen Element auf. Durch seine Begegnung mit dem Neuplatonismus hat er das Paradigma des Lichtes kennen gelernt, das von oben herab kommt, um die Dinge zu erleuchten, und das so ein Symbol Gottes ist. Auf diese Weise hat der heilige Augustinus die göttliche Transzendenz begriffen und entdeckt, dass alle Dinge eine Transparenz in sich tragen, d. h. die Güte Gottes, das Gute widerspiegeln können. So hat er sich vom Manichäismus befreit, in dem er vorher lebte und der ihm die Vorstellung nahe legte, das Böse und das Gute lägen in ständigem Kampf miteinander, gingen ineinander über und vermischten sich ohne deutliche Umrisse. Die Einsicht, dass Gott Licht ist, hat ihm eine neue Lebensorientierung gegeben und ihm die Fähigkeit verliehen, das Böse zu erkennen, dessen er schuldig war, und sich dem Guten zuzuwenden.

Andererseits war aber in der konkreten Erfahrung des heiligen Augustinus, die er selber in seinen Bekenntnissen erzählt, der entscheidende Moment auf seinem Glaubensweg nicht eine Vision Gottes jenseits von dieser Welt, sondern vielmehr ein Hören, als er im Garten eine Stimme vernahm, die sagte: „Nimm und lies". Er nahm das Buch mit den Briefen des heiligen Paulus und blieb beim dreizehnten Kapitel des Römerbriefes stehen.[28] So erschien der persönliche Gott der Bibel, der fähig ist, zum Menschen zu sprechen und herabzusteigen, um mit ihm zu leben, sowie seinen Weg in der Geschichte zu begleiten, indem er sich in der Zeit des Hörens und der Antwort zeigt.

Und doch hat diese Begegnung mit dem Gott des Wortes den heiligen Augustinus nicht dazu gebracht, das Licht und das Sehen abzulehnen. Immer geleitet durch die Offenbarung der Liebe Gottes in Jesus, hat er beide Aspekte integriert. Und so hat er eine Philosophie des Lichtes entwickelt, die in sich die dem Wort eigene Gegenseitigkeit aufnimmt und einen Raum öffnet für die Freiheit, den Blick auf das Licht zu richten. Wie dem Wort eine freie Antwort entspricht, so findet das Licht als Antwort ein Bild, das es widerspiegelt. Indem er Hören und Sehen einander zuordnet, kann der heilige Augustinus also Bezug nehmen auf »das Wort, das im Innern des Menschen leuchtet«.[29] Auf diese Weise wird das Licht sozusagen das Licht eines Wortes, weil es das Licht eines persönlichen Antlitzes ist, ein Licht, das uns, indem es uns erleuchtet, ruft und sich in unserem Gesicht widerspiegeln will, um aus unserem Innern heraus zu leuchten. Im Übrigen bleibt der Wunsch nach der Schau des Ganzen — und nicht nur der Fragmente der Geschichte — bestehen und wird sich am Ende erfüllen, wenn der Mensch, wie der heilige Bischof von Hippo sagt, schauen und lieben wird.[30] Und das nicht etwa, weil er fähig sein wird, das ganze Licht zu besitzen, das immer unerschöpflich bleiben wird, sondern weil er ganz und gar in das Licht eingehen wird.

34. Das dem Glauben eigene Licht der Liebe kann die Fragen unserer Zeit über die Wahrheit erhellen. Heute wird die Wahrheit oft auf eine subjektive Authentizität des Einzelnen reduziert, die nur für das individuelle Leben gilt. Eine allgemeine Wahrheit macht uns Angst, weil wir sie mit dem unnachgiebigen Zwang der Totalitarismen identifizieren. Wenn es sich aber bei der Wahrheit um die Wahrheit der Liebe handelt, wenn es die Wahrheit ist, die sich in der persönlichen Begegnung mit dem Anderen und den anderen erschließt, dann ist sie aus der Verschlossenheit in den Einzelnen befreit und kann Teil des Gemeinwohls sein. Da sie die Wahrheit einer Liebe ist, ist sie nicht eine Wahrheit, die sich mit Gewalt durchsetzt, eine Wahrheit, die den Einzelnen erdrückt. Da sie aus der Liebe hervorgeht, kann sie das Herz, die persönliche Mitte jedes Menschen erreichen. So wird deutlich, dass der Glaube nicht unnachgiebig ist, sondern im Miteinander wächst, das den anderen respektiert. Der Gläubige ist nicht arrogant; im Gegenteil, die Wahrheit lässt ihn demütig werden, da er weiß, dass nicht wir sie besitzen, sondern vielmehr sie es ist, die uns umfängt und uns besitzt. Weit davon entfernt, uns zu verhärten, bringt uns die Glaubensgewissheit in Bewegung und ermöglicht das Zeugnis und den Dialog mit allen.

Andererseits hält sich das Licht des Glaubens, da es ja mit der Wahrheit der Liebe vereint ist, nicht etwa fern von der materiellen Welt, denn die Liebe wird immer in Leib und Seele gelebt. Das Licht des Glaubens ist ein inkarniertes Licht, das von dem leuchtenden Leben Jesu ausgeht. Es erleuchtet auch die Materie, baut auf ihre Ordnung und erkennt, dass sich in ihr ein Weg der Harmonie und des immer umfassenderen Verstehens öffnet. So erwächst dem Blick der Wissenschaft ein Nutzen aus dem Glauben: Dieser lädt den Wissenschaftler ein, für die Wirklichkeit in all ihrem unerschöpflichen Reichtum offen zu bleiben. Der Glaube ruft das kritische Bewusstsein wach, insofern er die Forschung daran hindert, sich in ihren Formeln zu gefallen, und ihr zu begreifen hilft, dass die Natur diese immer übersteigt. Indem er zum Staunen angesichts des Geheimnisses der Schöpfung einlädt, weitet der Glaube die Horizonte der Vernunft, um die Welt, die sich der wissenschaftlichen Forschung erschließt, besser zu durchleuchten.

Der Glaube und die Suche nach Gott

35. Das Licht des Glaubens an Jesus erhellt auch den Weg aller, die Gott suchen, und bietet den ganz eigenen Beitrag des Christentums im Dialog mit den Anhängern der verschiedenen Religionen. Der Hebräerbrief spricht uns von dem Zeugnis der Gerechten, die bereits vor dem Bund mit Abraham voll Glauben Gott suchten. Von Henoch wird gesagt, »dass er Gott gefiel« (Hebr 11,5), was ohne den Glauben unmöglich wäre, denn »wer zu Gott kommen will, muss glauben, dass er ist und dass er denen, die ihn suchen, ihren Lohn geben wird« (Hebr 11,6). So können wir verstehen, dass der Weg des religiösen Menschen über das Bekenntnis eines Gottes verläuft, der sich um ihn kümmert und den zu finden nicht unmöglich ist. Welchen anderen Lohn könnte Gott denen anbieten, die ihn suchen, wenn nicht den, sich finden zu lassen? Noch vorher begegnet uns die Gestalt des Abel. Auch sein Glaube wird gelobt: Er ist der Grund, warum Gott an seinen Gaben, am Opfer der Erstlinge seiner Herden Gefallen fand (vgl. Hebr 11,4). Der religiöse Mensch versucht, die Zeichen Gottes in den täglichen Erfahrungen seines Lebens zu erkennen, im Kreislauf der Jahreszeiten, in der Fruchtbarkeit der Erde und in der ganzen Bewegung des Kosmos. Gott ist lichtvoll und kann auch von denen gefunden werden, die ihn mit aufrichtigem Herzen suchen.

Ein Bild dieser Suche sind die Sterndeuter, die von dem Stern bis nach Bethlehem geführt wurden (vgl. Mt 2,1-12). Für sie hat sich das Licht Gottes als Weg gezeigt, als Stern, der einen Pfad der Entdeckungen entlangführt. So spricht der Stern von der Geduld Gottes mit unseren Augen, die sich an seinen Glanz gewöhnen müssen. Der religiöse Mensch ist unterwegs und muss bereit sein, sich führen zu lassen, aus sich herauszugehen, um den Gott zu finden, der immer überrascht. Diese Rücksicht Gottes gegenüber unseren Augen zeigt uns, dass das menschliche Licht, wenn der Mensch ihm näher kommt, sich nicht in der blendend hellen Unendlichkeit Gottes auflöst, als sei es ein im Morgengrauen verblassender Stern, sondern um so strahlender wird, je näher es dem ursprünglichen Feuer kommt, wie der Spiegel, der den Glanz reflektiert. Das christliche Bekenntnis von Jesus als einzigem Retter besagt, dass das ganze Licht Gottes sich in ihm, in seinem „gelichteten Leben" konzentriert hat, in welchem sich der Anfang und das Ende der Geschichte enthüllen.[31] Es gibt keine menschliche Erfahrung, keinen Weg des Menschen zu Gott, der von diesem Licht nicht aufgenommen, erleuchtet und geläutert werden könnte. Je mehr der Christ in den offenen Lichtkegel Christi eindringt, umso fähiger wird er, den Weg eines jeden Menschen zu Gott zu verstehen und zu begleiten.

Da der Glaube sich als Weg gestaltet, betrifft er auch das Leben der Menschen, die zwar nicht glauben, aber gerne glauben möchten und unaufhörlich auf der Suche sind. In dem Maß, in dem sie sich mit aufrichtigem Herzen der Liebe öffnen und sich mit dem Licht, das sie zu erfassen vermögen, auf den Weg machen, sind sie bereits, ohne es zu wissen, unterwegs zum Glauben. Sie versuchen so zu handeln, als gäbe es Gott — manchmal, weil sie seine Bedeutung erkennen, wenn es darum geht, verlässliche Orientierungen für das Gemeinschaftsleben zu finden; oder weil sie inmitten der Dunkelheit die Sehnsucht nach Licht verspüren; doch auch weil sie, wenn sie merken, wie groß und schön das Leben ist, erahnen, dass die Gegenwart Gottes es noch größer machen würde. Der heilige Irenäus von Lyon erzählt, dass Abraham, bevor er die Stimme Gottes hörte, ihn bereits »mit brennender Sehnsucht im Herzen« suchte und, »indem er sich fragte, wo Gott sei, die ganze Welt durchstreifte«, bis »Gott Erbarmen hatte mit dem, der allein ihn in der Stille suchte«.[32] Wer sich aufmacht, um Gutes zu tun, nähert sich bereits Gott und wird schon von seiner Hilfe unterstützt, denn es gehört zur Dynamik des göttlichen Lichts, unsere Augen zu erleuchten, wenn wir der Fülle der Liebe entgegengehen.

Glaube und Theologie

36. Da der Glaube ein Licht ist, lädt er uns ein, in ihn einzudringen, den Horizont, den er erleuchtet, immer mehr zu erforschen, um das, was wir lieben, besser kennen zu lernen. Aus diesem Wunsch geht die christliche Theologie hervor. Es ist also klar, dass Theologie ohne Glauben unmöglich ist und dass sie zur Bewegung des Glaubens selbst gehört, der die Selbstoffenbarung Gottes, die im Geheimnis Christi gipfelte, tiefer zu verstehen sucht. Die erste Konsequenz besteht darin, dass in der Theologie nicht nur die Vernunft bemüht wird, um zu erforschen und zu erkennen wie in den experimentellen Wissenschaften. Gott kann nicht auf einen Gegenstand reduziert werden. Er ist der Handelnde, der sich zu erkennen gibt und sich zeigt in der Beziehung von Person zu Person. Der rechte Glaube richtet die Vernunft daraufhin aus, dass sie sich dem Licht öffnet, das von Gott kommt, damit sie, von der Liebe zur Wahrheit geleitet, Gott in tieferer Weise erkennen kann. Die großen mittelalterlichen Lehrmeister und Theologen haben darauf hingewiesen, dass die Theologie als Wissenschaft des Glaubens Teilhabe am Wissen ist, das Gott von sich selbst hat. Die Theologie ist also nicht nur das Wort über Gott, sondern besteht vor allem im Bemühen, das Wort aufzunehmen und tiefer zu verstehen, das Gott an uns richtet, das Wort, das Gott über sich selber äußert, denn er ist ein ewiger Dialog der Gemeinschaft und gewährt dem Menschen, ins Innere dieses Dialogs einzutreten.[33] Zur Theologie gehört daher die Demut, sich von Gott anrühren zu lassen, die eigenen Grenzen gegenüber dem göttlichen Geheimnis zu erkennen und danach zu streben, mit der Disziplin, die der Vernunft eigen ist, die unergründlichen Reichtümer dieses Geheimnisses zu ergründen.

Die Theologie teilt ferner die kirchliche Gestalt des Glaubens; ihr Licht ist das Licht des glaubenden Subjekts, der Kirche. Das schließt einerseits ein, dass die Theologie im Dienst des Glaubens der Christen steht, sich demütig der Bewahrung und der Vertiefung des Glaubens aller, vor allem der Einfachsten widmet. Außerdem betrachtet die Theologie, da sie vom Glauben lebt, das Lehramt des Papstes und der mit ihm verbundenen Bischöfe nicht als etwas, das von außen kommt, als eine Grenze ihrer Freiheit, sondern im Gegenteil als eines ihrer inneren, konstitutiven Elemente, weil das Lehramt den Kontakt mit der ursprünglichen Quelle gewährleistet und folglich die Sicherheit bietet, aus dem Wort Christi in seiner Unversehrtheit zu schöpfen.

 

DRITTES KAPITEL

ICH ÜBERLIEFERE EUCH, WAS ICH EMPFANGEN HABE
(vgl. 1 Kor 15,3)

 

Die Kirche, Mutter unseres Glaubens

37. Wer sich der Liebe Gottes geöffnet hat, wer seine Stimme gehört und sein Licht empfangen hat, der kann diese Gabe nicht für sich behalten. Da der Glaube Hören und Sehen ist, wird er auch als Wort und Licht weitergegeben. An die Korinther gewandt gebrauchte der Apostel Paulus eben diese beiden Bilder. Einerseits sagt er: »Doch haben wir den gleichen Geist des Glaubens, von dem es in der Schrift heißt: Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet. Auch wir glauben, und darum reden wir« (2 Kor 4,13). Das empfangene Wort wird zur Antwort, zum Bekenntnis und erklingt so für die anderen wieder und lädt sie ein zu glauben. Andererseits bezieht sich der heilige Paulus auch auf das Licht: »Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt« (2 Kor 3,18). Es ist ein Licht, das sich von Gesicht zu Gesicht widerspiegelt, wie Mose den Schein des Glanzes Gottes an sich trug, nachdem er mit ihm geredet hatte: »[Gott] ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi« (2 Kor 4,6). Das Licht Jesu erstrahlt wie in einem Spiegel auf dem Antlitz der Christen, und so verbreitet es sich, so gelangt es bis zu uns, damit auch wir an diesem Schauen teilhaben können und anderen sein Licht widerspiegeln, wie bei der Osterliturgie das Licht der Osterkerze viele andere Kerzen entzündet. Der Glaube wird sozusagen in der Form des Kontakts von Person zu Person weitergegeben, wie eine Flamme sich an einer anderen entzündet. Die Christen säen in ihrer Armut einen so fruchtbaren Samen, dass er ein großer Baum wird und die Welt mit Früchten zu erfüllen vermag.

38. Die Weitergabe des Glaubens, der für alle Menschen an allen Orten strahlt, verläuft auch über die Achse der Zeit, von Generation zu Generation. Da der Glaube aus einer Begegnung innerhalb der Geschichte hervorgeht und unseren Weg in der Zeit erleuchtet, muss er durch die Zeiten hindurch weitergegeben werden. Mittels einer ununterbrochenen Kette von Zeugnissen kommt die Gestalt Jesu zu uns. Wie ist das möglich? Wie können wir sicher sein, über die Jahrhunderte hinweg auf den „wahren Jesus" zurückzugehen? Wenn der Mensch ein vereinzeltes Wesen wäre, wenn wir allein vom individuellen „Ich", das die Sicherheit seiner Erkenntnis in sich suchen möchte, ausgehen wollten, wäre diese Gewissheit unmöglich. Von mir selbst aus kann ich nicht sehen, was in einer von mir so weit entfernten Epoche geschehen ist. Doch ist dies nicht die einzige Art und Weise, wie der Mensch Kenntnis erwirbt. Der Mensch lebt stets in Beziehung. Er kommt von anderen, gehört anderen, und sein Leben wird größer durch die Begegnung mit anderen. Und auch die eigene Kenntnis, das Selbstbewusstsein ist von relationaler Art und ist an andere gebunden, die uns vorangegangen sind — an erster Stelle unsere Eltern, die uns das Leben und den Namen gegeben haben. Die Sprache selbst, die Worte, mit denen wir unser Leben und unsere Wirklichkeit deuten, kommt durch andere auf uns; sie ist im lebendigen Gedächtnis der anderen bewahrt. Die Kenntnis unserer selbst ist nur möglich, wenn wir an einem größeren Gedächtnis teilhaben. So geschieht es auch im Glauben, der die menschliche Weise des Verstehens zur Fülle bringt. Die Vergangenheit des Glaubens, jener Akt der Liebe Jesu, der in der Welt ein neues Leben hervorgebracht hat, kommt auf uns durch das Gedächtnis der anderen, der Zeugen, und ist lebendig in dem einzigartigen Subjekt des Gedächtnisses, der Kirche. Die Kirche ist eine Mutter, die uns lehrt, die Sprache des Glaubens zu sprechen. In seinem Evangelium hat der heilige Johannes Nachdruck auf diesen Aspekt gelegt, indem er Glaube und Gedächtnis zusammenfügte und beide dem Wirken des Heiligen Geistes assoziierte, der — wie Jesus sagt — »euch an alles erinnern wird« (Joh 14,26). Die Liebe, die der Geist ist und in der Kirche wohnt, hält alle Zeiten untereinander geeint und macht uns zu „Zeitgenossen" Jesu. So leitet er unser Unterwegssein im Glauben.

39. Es ist unmöglich, allein zu glauben. Der Glaube ist nicht bloß eine individuelle Option, die im Innersten des Glaubenden geschieht, er ist keine isolierte Beziehung zwischen dem „Ich" des Gläubigen und dem göttlichen „Du", zwischen dem autonomen Subjekt und Gott. Der Glaube öffnet sich von Natur aus auf das „Wir" hin und vollzieht sich immer innerhalb der Gemeinschaft der Kirche. Daran erinnert uns das in der Taufliturgie verwendete Glaubensbekenntnis in Dialogform. Das Glauben drückt sich als Antwort auf eine Einladung, auf ein Wort aus, das gehört werden muss und nicht aus einem selbst kommt. Deshalb fügt es sich innerhalb eines Dialogs ein und kann nicht das bloße Bekenntnis sein, das vom Einzelnen kommt. Es ist nur deshalb möglich, in erster Person mit „Ich glaube" zu antworten, weil man zu einer größeren Gemeinschaft gehört, weil man auch „wir glauben" sagt. Diese Öffnung gegenüber dem „Wir" der Kirche geschieht gemäß der eigenen Öffnung gegenüber der Liebe Gottes, die nicht nur eine Beziehung zwischen Vater und Sohn, zwischen einem „Ich" und einem „Du" ist, sondern im Geist auch ein „Wir", ein Miteinander von Personen. Deshalb gilt, wer glaubt, ist nie allein, und deshalb breitet der Glaube sich aus, lädt er andere zu dieser Freude ein. Wer den Glauben empfängt, entdeckt, dass die Räume seines „Ich" weiter werden, und in ihm wachsen neue Beziehungen, die sein Leben bereichern. Tertullian hat dies wirkungsvoll ausgedrückt, wenn er vom Katechumenen spricht, der „nach dem Bad der Wiedergeburt" im Haus der Mutter aufgenommen wird, um die Arme auszubreiten und gleichsam in einer neuen Familie gemeinsam mit den Brüdern zu unserem Vater zu beten.[34]

Die Sakramente und die Weitergabe des Glaubens

40. Die Kirche gibt wie jede Familie den Inhalt ihres Gedächtnisses an ihre Kinder weiter. Wie kann man dies vollbringen, so dass dabei nichts verloren geht und im Gegenteil alles immer mehr vertieft wird im Erbe des Glaubens? Durch die in der Kirche mit Hilfe des Heiligen Geistes bewahrte apostolische Überlieferung stehen wir in lebendiger Verbindung mit dem grundlegenden Gedächtnis. Und »was von den Aposteln überliefert wurde«, sagt das Zweite Vatikanische Konzil, »umfasst alles, was dem Volk Gottes hilft, ein heiliges Leben zu führen und den Glauben zu mehren. So führt die Kirche in Lehre, Leben und Kult durch die Zeiten weiter und übermittelt allen Geschlechtern alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt.«[35]

Der Glaube benötigt in der Tat einen Bereich, in dem er bezeugt und mitgeteilt werden kann und der dem entsprechend und angemessen ist, was mitgeteilt wird. Um einen bloß lehrmäßigen Inhalt, eine Idee weiterzugeben, würde vielleicht ein Buch oder die Wiederholung einer mündlichen Botschaft genügen. Aber was in der Kirche mitgeteilt wird, was in ihrer lebendigen Tradition weitergegeben wird, ist das neue Licht, das aus der Begegnung mit dem lebendigen Gott kommt; es ist ein Licht, das den Menschen in seinem Innern, im Herzen anrührt und dabei seinen Verstand, seinen Willen und sein Gefühlsleben mit einbezieht und ihn für lebendige Beziehungen in der Gemeinschaft mit Gott und den anderen offen macht. Um diese Fülle weiterzugeben, gibt es ein besonderes Mittel, das den ganzen Menschen ins Spiel bringt: Leib und Geist, Innerlichkeit und Beziehungen. Dieses Mittel sind die Sakramente, die in der Liturgie der Kirche gefeiert werden. In ihnen wird ein inkarniertes Gedächtnis mitgeteilt, das an Räume und Zeiten des Lebens gebunden ist und alle Sinne anspricht; in ihnen ist der Mensch als Mitglied eines lebendigen Subjekts in ein Geflecht gemeinschaftlicher Beziehungen miteinbezogen. Wenn es stimmt, dass die Sakramente die Sakramente des Glaubens[36] sind, muss man daher auch sagen, dass der Glaube eine sakramentale Struktur hat. Die Wiederbelebung des Glaubens führt über die Wiederbelebung eines neuen sakramentalen Sinns des Lebens des Menschen und der christlichen Existenz. Dabei zeigt sich, wie das Sichtbare und Materielle sich auf das Geheimnis der Ewigkeit hin öffnen.

41. Die Weitergabe des Glaubens erfolgt an erster Stelle durch die Taufe. Es könnte scheinen, dass die Taufe nur eine Gelegenheit sei, um das Bekenntnis des Glaubens zu versinnbildlichen, eine pädagogische Handlung für den, der Bilder und Gesten braucht, von denen man aber im Grunde absehen könnte. Ein Wort des heiligen Paulus bezüglich der Taufe erinnert uns daran, dass es nicht so ist. Er sagt: »Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben« (Röm 6,4). In der Taufe werden wir zu einer neuen Schöpfung und zu Söhnen und Töchtern Gottes. Der Apostel sagt dann, dass der Christ einer „Gestalt der Lehre" (typos didachés) übergeben wurde, der er von Herzen gehorcht (vgl. Röm 6,17). In der Taufe erhält der Mensch auch eine zu bekennende Lehre und eine konkrete Lebensform, welche die Einbeziehung seiner ganzen Person erfordert und ihn auf den Weg zum Guten bringt. Er wird in einen neuen Bereich überführt, einem neuen Umfeld übergeben, einer neuen Weise des gemeinschaftlichen Handelns in der Kirche. So erinnert uns die Taufe daran, dass der Glaube nicht Werk eines Einzelwesens ist, nicht eine Tat, die der Mensch allein im Vertrauen auf seine eigenen Kräfte vollbringen kann, sondern dass er empfangen werden muss, und zwar mit dem Eintritt in die kirchliche Gemeinschaft, die das Geschenk Gottes weitergibt: Niemand tauft sich selber, so wie niemand von allein zum Dasein geboren wird. Wir sind getauft worden.

42. Welche sind nun die Taufelemente, die uns in diese neue „Gestalt der Lehre" einführen? Über den Katechumenen wird an erster Stelle der Name der Dreifaltigkeit angerufen: Vater, Sohn und Heiliger Geist. So wird von Anfang an eine Zusammenfassung des Glaubensweges geboten. Der Gott, der Abraham gerufen hatte und sein Gott genannt werden wollte; der Gott, der dem Mose seinen Namen geoffenbart hat; der Gott, der uns dadurch, dass er uns seinen Sohn übergeben hat, das Geheimnis seines Namens vollkommen geoffenbart hat — er gibt dem Getauften eine neue Identität als Kind Gottes. Auf diese Weise erscheint der Sinn der Handlung, die in der Taufe vollzogen wird, das Eintauchen ins Wasser: Das Wasser ist Symbol des Todes, das uns einlädt, über die Bekehrung des eigenen „Ich" dieses auf ein größeres „Ich" hin zu öffnen; aber das Wasser ist zugleich auch Symbol des Lebens, des Mutterschoßes, aus dem wir wiedergeboren werden hinein in das neue Leben Christi. Auf diese Weise, durch das Eintauchen ins Wasser, spricht die Taufe zu uns von der inkarnierten Gestalt des Glaubens. Die Handlung Christi betrifft uns in unserer persönlichen Wirklichkeit, indem sie uns radikal verwandelt, zu Söhnen und Töchtern Gottes macht und an der göttlichen Natur teilhaben lässt. So verändert sie alle unsere Beziehungen — unsere konkrete Situation in der Welt und im Kosmos –, indem sie diese öffnet auf sein eigenes Leben hin, das Gemeinschaft ist. Die der Taufe eigene Dynamik der Verwandlung hilft uns, die Bedeutung des Katechumenats zu erfassen, das heute auch in den Gesellschaften mit alten christlichen Wurzeln, in denen eine zunehmende Zahl von Erwachsenen zum Taufsakrament hinzutritt, von außerordentlicher Bedeutung für die Evangelisierung ist. Es ist der Weg der Vorbereitung auf die Taufe, der Verwandlung des ganzen Lebens in Christus.

Um den Zusammenhang zwischen Taufe und Glaube zu verstehen, kann es hilfreich sein, an einen Text des Propheten Jesaja zu erinnern, der in der frühchristlichen Literatur mit der Taufe in Verbindung gebracht wurde: »Felsenburgen sind seine Zuflucht … seine Wasserquellen versiegen nicht« (Jes 33,16).[37] Der durch das Wasser des Todes befreite Getaufte konnte sich auf dem starken Felsen aufrichten, da er die Festigkeit gefunden hatte, der man vertrauen kann. So ist das Wasser des Todes in Wasser des Lebens verwandelt worden. Der griechische Text beschreibt das Wasser als pistós, als „zuverlässiges" Wasser. Das Wasser der Taufe ist zuverlässig: Man kann ihm vertrauen, weil seine Strömung in die Dynamik der Liebe Jesu einführt, der Quelle der Sicherheit für unseren Lebensweg.

43. Die Struktur der Taufe, seine Gestalt als Wiedergeburt, in der wir einen neuen Namen und ein neues Leben erhalten, hilft uns, die Bedeutung und die Wichtigkeit der Taufe von Kindern zu verstehen. Das Kind ist nicht fähig zu einem freien Akt, den Glauben anzunehmen, es kann ihn noch nicht allein bekennen, und eben deshalb bekennen ihn seine Eltern und Paten in seinem Namen. Der Glaube wird innerhalb der Gemeinschaft der Kirche gelebt, er ist in ein gemeinschaftliches „Wir" eingefügt. So kann das Kind von anderen, von seinen Eltern und Paten, unterstützt und in ihrem Glauben aufgenommen werden, der der Glaube der Kirche ist und der durch das Licht symbolisiert wird, das der Vater während der Taufliturgie von der Osterkerze entnimmt. Diese Struktur der Taufe hebt die Bedeutung des Zusammenwirkens von Kirche und Familie bei der Weitergabe des Glaubens hervor. Nach einem Wort des heiligen Augustinus sind die Eltern berufen, ihre Kinder nicht nur zum Leben zu zeugen, sondern sie zu Gott zu bringen, damit sie durch die Taufe als Kinder Gottes wiedergeboren werden und das Geschenk des Glaubens empfangen.[38] So werden ihnen zusammen mit dem Leben die Grundorientierung des Daseins und die Sicherheit einer guten Zukunft gegeben. Diese Grundorientierung wird dann im Sakrament der Firmung mit dem Siegel des Heiligen Geistes weiter gestärkt.

44. Die sakramentale Natur des Glaubens findet in der Eucharistie ihren höchsten Ausdruck. Sie ist kostbare Nahrung des Glaubens, Begegnung mit Christus, der wirklich gegenwärtig ist mit dem höchsten Akt der Liebe, der Hingabe seiner selbst, die Leben hervorbringt. In der Eucharistie kreuzen sich die beiden Achsen, auf denen der Glaube seinen Weg geht. Zum einen die Achse der Geschichte: Die Eucharistie ist Gedächtnishandlung, Vergegenwärtigung des Geheimnisses, wo Vergangenes als Geschehen von Tod und Auferstehung sich fähig erweist, auf Zukunft hin zu öffnen, die endgültige Fülle vorwegzunehmen. Die Liturgie erinnert uns daran mit ihrem hodie, dem „Heute" der Heilsgeheimnisse. Zum anderen findet sich hier auch die Achse, die von der sichtbaren Welt zum Unsichtbaren führt. In der Eucharistie lernen wir, die Tiefe des Wirklichen zu sehen. Brot und Wein werden in Leib und Blut Christi verwandelt, der auf seinem österlichen Weg zum Vater gegenwärtig wird: Diese Bewegung führt uns mit Leib und Seele hinein in die Bewegung der ganzen Schöpfung hin auf ihre Fülle in Gott.

45. Bei der Feier der Sakramente gibt die Kirche ihr Gedächtnis insbesondere durch das Glaubensbekenntnis weiter. Dabei geht es nicht so sehr darum, seine Zustimmung zu einer Sammlung von abstrakten Wahrheiten zu geben. Im Gegenteil, durch das Bekenntnis des Glaubens tritt das ganze Leben ein in einen Weg hin auf die volle Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Wir können sagen, dass beim Credo der Glaubende eingeladen wird, in das Geheimnis einzutreten, das er bekennt, und von dem verwandelt zu werden, was er bekennt. Um den Sinn dieser Aussage zu verstehen, denken wir vor allem an den Inhalt des Credos. Dieses hat einen trinitarischen Aufbau: Der Vater und der Sohn sind eins im Geist der Liebe. Der Glaubende sagt so, dass die Mitte des Seins, das tiefste Geheimnis aller Dinge die innergöttliche Gemeinschaft ist. Außerdem enthält das Credo auch ein christologisches Bekenntnis: Es werden die Geheimnisse des Lebens Jesu bis zu seinem Tod, seiner Auferstehung und Himmelfahrt durchlaufen in der Erwartung seiner Wiederkunft in Herrlichkeit. Es wird also gesagt, dass dieser Gott, der Gemeinschaft ist — Austausch der Liebe von Vater und Sohn im Geist —, die ganze Geschichte des Menschen zu umfangen vermag und fähig ist, ihn in die Dynamik seiner Gemeinschaft hineinzuführen, die ihren Ursprung und ihr Endziel im Vater hat. Wer den Glauben bekennt, sieht sich in die Wahrheit, die er bekennt, einbezogen. Er kann die Worte des Credos nicht in Wahrheit aussprechen, ohne dadurch verwandelt zu werden, ohne sich auf die Geschichte der Liebe einzulassen, die ihn umfängt, die sein Leben weitet und ihn zu einem Teil einer großen Gemeinschaft werden lässt, des eigentlichen Subjekts, das das Credo spricht, nämlich die Kirche. Alle Wahrheiten, an die man glaubt, sprechen vom Geheimnis des neuen Lebens im Glauben als einem Weg der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott.

Glaube, Gebet und Dekalog

46. Zwei weitere Elemente sind bei der treuen Weitergabe des Gedächtnisses der Kirche wesentlich. An erster Stelle das Gebet des Herrn, das Vaterunser. Mit diesem Gebet lernt der Christ, die persönliche geistliche Erfahrung Christi zu teilen, und beginnt, mit den Augen Christi zu sehen. Von ihm her, dem Licht vom Licht, vom eingeborenen Sohn des Vaters lernen auch wir Gott kennen und können wir in anderen den Wunsch entfachen, sich ihm zu nähern.

Ebenso wichtig ist ferner die Verbindung zwischen Glaube und Dekalog. Wir haben gesagt, der Glaube erscheint als ein Unterwegssein, als ein Weg, der beschritten werden muss, der offen ist für die Begegnung mit dem lebendigen Gott. Im Licht des Glaubens, der völligen Hingabe an den rettenden Gott erhält deshalb der Dekalog seine tiefere Wahrheit, die in den Einleitungsworten zu den zehn Geboten enthalten ist: »Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat« (Ex 20,2). Der Dekalog ist nicht eine Sammlung von negativen Vorschriften, sondern von konkreten Weisungen, um aus der Wüste des selbstbezogenen, in sich verschlossenen Ich herauszukommen und in Dialog mit Gott treten zu können, während man sich von seiner Barmherzigkeit umfangen lässt, um selber Barmherzigkeit zu bringen. So bekennt der Glaube die Liebe Gottes, von der alles kommt und die alles trägt; er lässt sich von dieser Liebe bewegen, um unterwegs zu sein zur Fülle der Gemeinschaft mit Gott. Der Dekalog erscheint als der Weg der Dankbarkeit, der Antwort aus Liebe, der möglich ist, weil wir uns im Glauben für die Erfahrung der verwandelnden Liebe Gottes zu uns geöffnet haben. Und dieser Weg wird von dem neu beleuchtet, was Jesus in der Bergpredigt lehrt (vgl. Mt 5-7).

Ich habe so die vier Elemente angesprochen, die den Schatz des Gedächtnisses zusammenfassen, den die Kirche weitergibt: das Bekenntnis des Glaubens, die Feier der Sakramente, der Weg des Dekalogs, das Gebet. Die Katechese der Kirche wurde traditionsgemäß um diese Elemente herum aufgebaut, einschließlich des Katechismus der Katholischen Kirche. Dieser ist ein Grundwerkzeug für jenes einheitliche Wirken, mit dem die Kirche den ganzen Inhalt des Glaubens übermittelt, nämlich »alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt«.[39]

Die Einheit und die Unversehrtheit des Glaubens

47. Die Einheit der Kirche in Zeit und Raum ist mit der Einheit des Glaubens verknüpft: »Ein Leib und ein Geist, […] ein Glaube« (Eph 4,4-5). Heute mag eine Einheit der Menschen in einem gemeinsamen Einsatz, im gegenseitigen Wohl wollen, im Teilen ein und desselben Loses, in einem gemeinsamen Ziel realisierbar erscheinen. Aber wir haben große Schwierigkeiten damit, eine Einheit in derselben Wahrheit zu sehen. Es scheint, eine solche Einheit setze sich der Freiheit des Denkens und der Autonomie des Subjekts entgegen. Die Erfahrung der Liebe sagt uns hingegen, dass es gerade in der Liebe möglich ist, eine gemeinsame Vorstellung zu haben, dass wir in ihr lernen, die Wirklichkeit mit den Augen des anderen zu sehen, und dass uns dies nicht ärmer macht, sondern unsere Sicht bereichert. Die wirkliche Liebe nach dem Maß der göttlichen Liebe erfordert die Wahrheit, und in der gemeinsamen Sicht der Wahrheit, die Jesus Christus ist, wird sie tief und fest. Dies ist auch die Freude am Glauben, die Einheit der Sicht in einem Leib und einem Geist. In diesem Sinn konnte der heilige Leo der Große sagen: »Wenn der Glaube nicht einer ist, ist er kein Glaube«.[40]

Welches ist das Geheimnis dieser Einheit? Der Glaube ist erstens einer wegen der Einheit des erkannten und bekannten Gottes. Alle Glaubensartikel beziehen sich auf ihn, sind Wege, um sein Sein und Handeln zu erkennen. Sie besitzen deshalb eine Einheit, die jeder anderen überlegen ist, die wir mit unserem Denken bewerkstelligen können; sie besitzen die Einheit, die uns bereichert, weil sie sich uns mitteilt und uns eins macht.

Der Glaube ist sodann einer, weil er sich an den einen Herrn richtet, an das Leben Jesu, an seine konkrete Geschichte, die er mit uns teilt. Der heilige Irenäus von Lyon hat dies in Abgrenzung von den Häretikern der Gnosis klargestellt. Diese behaupteten, dass es zwei Arten von Glauben gäbe: einen rohen, unvollkommenen Glauben, den Glauben der Einfachen, der auf der Stufe des Fleisches Christi und der Betrachtung seiner Geheimnisse bleibt; und dann einen tieferen und vollkommeneren Glauben, den wahren Glauben, der einem kleinen Kreis von Eingeweihten vorbehalten ist und der sich mit dem Verstand über das Fleisch Christi hinaus zu den Geheimnissen der unbekannten Gottheit erhebt. Gegenüber diesem Anspruch, der weiterhin seinen Reiz ausübt und selbst in unseren Tagen seine Anhänger hat, bekräftigt der heilige Irenäus, dass der Glaube ein einziger ist, da er immer über den konkreten Punkt der Menschwerdung geht, ohne je das Fleisch und die Geschichte Christi zu überwinden, denn darin wollte Gott sich vollkommen offenbaren. Deswegen besteht kein Unterschied zwischen dem Glauben dessen, „der viel über ihn zu sagen weiß", und dessen, „der nur wenig sagen kann", zwischen dem Besseren und dem weniger Fähigen: weder kann der Erste den Glauben vermehren, noch der Zweite ihn verringern.[41]

Schließlich ist der Glaube einer, weil er von der ganzen Kirche geteilt wird, die ein Leib und ein Geist ist. In der Gemeinschaft des einen Subjekts — der Kirche — erhalten wir einen gemeinsamen Blick. Da wir denselben Glauben bekennen, ruhen wir auf demselben Felsen, werden wir von demselben Geist der Liebe verwandelt, strahlen wir ein einziges Licht aus und sehen auf gleiche Weise die Wirklichkeit.

48. Da der Glaube einer ist, muss er in seiner ganzen Reinheit und Unversehrtheit bekannt werden. Gerade weil alle Glaubensartikel in Einheit verbunden sind, bedeutet, einen von ihnen zu leugnen, selbst von denen, die weniger wichtig zu sein scheinen, gleichsam dem Ganzen zu schaden. Jede Epoche macht die Erfahrung, dass einzelne Aspekte des Glaubens leichter oder schwieriger angenommen werden können: Deswegen ist es wichtig, wachsam zu sein, damit das ganze Glaubensgut weitergegeben wird (vgl. 1 Tim 6,20), damit in angemessener Weise auf alle Aspekte des Bekenntnisses des Glaubens bestanden wird. Insofern die Einheit des Glaubens die Einheit der Kirche ist, heißt etwas vom Glauben wegnehmen in der Tat etwas von der Wahrheit der Gemeinschaft wegnehmen. Die Kirchenväter haben in Analogie zum Leib Christi und seinem Fortbestehen in der Kirche den Glauben als einen Leib mit verschiedenen Gliedern, als den Leib der Wahrheit beschrieben.[42] Die Unversehrtheit des Glaubens wurde auch in Verbindung mit dem Bild der Kirche als Jungfrau gesehen, mit ihrer Treue in der bräutlichen Liebe zu Christus: Den Glauben zu beschädigen bedeutet, der Gemeinschaft mit dem Herrn Schaden zuzufügen.[43] Die Einheit des Glaubens ist also die eines lebendigen Organismus. Das hat der selige John Henry Newman sehr schön hervorgehoben, als er unter den Kennzeichen zur Unterscheidung der Kontinuität der Lehre in der Zeit ihr Vermögen aufzählte, alles in sich zu assimilieren, was sie in den verschiedenen Bereichen, wo sie hingelangt, und in den verschiedenen Kulturen, denen sie begegnet, vorfindet.[44] Dabei läutert sie alles und bringt es zu seinem besten Ausdruck. So zeigt sich der Glaube als universal, katholisch, da sein Licht zunimmt, um den ganzen Kosmos und die ganze Geschichte zu erleuchten.

49. Als Dienst an der Einheit des Glaubens und an seiner unversehrten Weitergabe hat der Herr der Kirche die Gabe der apostolischen Sukzession geschenkt. Durch sie wird die Kontinuität des Gedächtnisses der Kirche gewährleistet und ist es möglich, sicher aus der reinen Quelle zu schöpfen, aus der der Glaube kommt. Die Garantie der Verbindung mit dem Ursprung wird also von lebendigen Personen gegeben, was dem lebendigen Glauben entspricht, den die Kirche weitergibt. Er stützt sich auf die Treue der Zeugen, die vom Herrn für diese Aufgabe ausgewählt werden. Deshalb spricht das Lehramt immer in Gehorsam gegenüber dem ursprünglichen Wort, auf das sich der Glaube gründet; und es ist verlässlich, weil es dem Wort vertraut, das es hört, bewahrt und auslegt.[45] In seiner Abschiedsrede an die Ältesten von Ephesus in Milet, die vom heiligen Lukas in die Apostelgeschichte aufgenommen wurde, bezeugt der heilige Paulus, den ihm vom Herrn anvertrauten Auftrag erfüllt zu haben, »den ganzen Willen Gottes zu verkünden« (Apg 20,27). Dank des Lehramts der Kirche kann dieser Wille unversehrt auf uns kommen und mit ihm die Freude, ihn vollkommen zu erfüllen.

 

VIERTES KAPITEL

GOTT BEREITET FÜR SIE EINE STADT
(vgl. Hebr 11,16)

 

Der Glaube und das Gemeinwohl

50. Bei der Vorstellung der Geschichte der Patriarchen und der Gerechten des Alten Testaments hebt der Hebräerbrief einen wesentlichen Aspekt ihres Glaubens hervor. Dieser gestaltet sich nicht nur als ein Weg, sondern auch als die Errichtung, als die Vorbereitung eines Ortes, an dem der Mensch gemeinsam mit den anderen wohnen kann. Der erste Erbauer ist Noach, der in der Arche seine Familie retten kann (vgl. Hebr 11,7). Dann erscheint Abraham, von dem gesagt wird, dass er aufgrund des Glaubens in Zelten wohnte, da er die Stadt mit festen Grundmauern erwartete (vgl. Hebr 11,9-10). In Bezug auf den Glauben entsteht also eine neue Verlässlichkeit, eine neue Festigkeit, die allein Gott schenken kann. Wenn der Mensch des Glaubens auf Gott baut, der das Amen ist, auf Gott, den Getreuen (vgl. Jes 65,16), und er so selbst fest wird, können wir hinzufügen, dass die Festigkeit des Glaubens sich auch auf die Stadt bezieht, die Gott für den Menschen vorbereitet. Der Glaube offenbart, wie fest die Bande zwischen den Menschen sein können, wenn Gott in ihrer Mitte gegenwärtig wird. Der Glaube ruft nicht nur eine innere Festigkeit wach, eine feste Überzeugung des Glaubenden; er erleuchtet auch die zwischenmenschlichen Beziehungen, weil er aus der Liebe kommt und der Dynamik der Liebe Gottes folgt. Der verlässliche Gott schenkt den Menschen eine verlässliche Stadt.

51. Dank seiner Verbindung mit der Liebe (vgl. Gal 5,6) stellt sich das Licht des Glaubens in den konkreten Dienst der Gerechtigkeit, des Rechts und des Friedens. Der Glaube geht aus der Begegnung mit der ursprünglichen Liebe Gottes hervor, aus der der Sinn und die Güte unseres Lebens deutlich werden; das Leben wird in dem Maß erleuchtet, in dem es in die von dieser Liebe eröffnete Dynamik eintritt, insofern es nämlich Weg und Übung hin zur Fülle der Liebe wird. Das Licht des Glaubens ist in der Lage, den Reichtum der menschlichen Beziehungen zur Geltung zu bringen sowie ihre Fähigkeit, bestehen zu bleiben, verlässlich zu sein und das Leben in Gemeinschaft zu bereichern. Der Glaube entfernt nicht von der Welt und steht dem konkreten Einsatz unserer Zeitgenossen nicht unbeteiligt gegenüber. Ohne eine verlässliche Liebe könnte nichts die Menschen wirklich geeint halten. Die Einheit zwischen ihnen wäre nur denkbar als eine Einheit, die auf Nützlichkeit, auf die Zusammenlegung der Interessen oder auf Angst gegründet ist, aber nicht auf das Gut des Miteinanders und auf die Freude, die die bloße Gegenwart des anderen hervorrufen kann. Der Glaube macht die Strukturen der menschlichen Beziehungen einsichtig, weil er deren Urgrund und letzte Bestimmung in Gott, in seiner Liebe erfasst. Sein Licht fördert die Fähigkeit, solche Strukturen aufzubauen. So wird er zu einem Dienst am Gemeinwohl. Ja, der Glaube ist ein Gut für alle, er ist ein Gemeingut; sein Licht erleuchtet nicht nur das Innere der Kirche, noch dient er allein der Errichtung einer ewigen Stadt im Jenseits; er hilft uns, unsere Gesellschaften so aufzubauen, dass sie einer Zukunft voll Hoffnung entgegengehen. Diesbezüglich bietet der Hebräerbrief ein Beispiel, wenn er unter den Gestalten des Glaubens Samuel und David erwähnt, denen es der Glaube ermöglichte, »Gerechtigkeit zu üben« (11,33). Der Ausdruck bezieht sich hier auf ihre Gerechtigkeit beim Regieren, auf jene Klugheit, die dem Volk den Frieden bringt (vgl. 1 Sam 12,3-5; 2 Sam 8,15). Die Hände des Glaubens erheben sich zum Himmel, aber gleichzeitig bauen sie in der Liebe eine Stadt auf, die auf Beziehungen gründet, deren Fundament die Liebe Gottes ist.

Der Glaube und die Familie

52. Auf dem Weg Abrahams zur künftigen Stadt erwähnt der Hebräerbrief den Segen, der von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird (vgl. Hebr 11,20-21). Der erste Bereich, in dem der Glaube die Stadt der Menschen erleuchtet, findet sich in der Familie. Vor allem denke ich an die dauerhafte Verbindung von Mann und Frau in der Ehe. Sie entsteht aus ihrer Liebe, die Zeichen und Gegenwart der Liebe Gottes ist, und aus der Anerkennung und Annahme des Gutes der geschlechtlichen Verschiedenheit, durch welche die Ehegatten ein Fleisch werden können (vgl. Gen 2,24) und fähig sind, neues Leben zu zeugen, das Ausdruck der Güte des Schöpfers, seiner Weisheit und seines Plans der Liebe ist. Auf diese Liebe gegründet, können sich Mann und Frau mit einer Geste, die ihr ganzes Leben mit einbezieht und in vielen Zügen an den Glauben erinnert, die gegenseitige Liebe versprechen. Eine Liebe zu versprechen, die für immer gilt, ist möglich, wenn man einen Plan entdeckt, der größer ist als die eigenen Pläne, der uns trägt und uns erlaubt, der geliebten Person die ganze Zukunft zu schenken. Der Glaube hilft auch, die Zeugung von Kindern in ihrer ganzen Tiefe und ihrem ganzen Reichtum zu erfassen, da er darin die Schöpferliebe erkennen lässt, die uns das Geheimnis eines neuen Menschen schenkt und anvertraut. So ist Sara aufgrund ihres Glaubens Mutter geworden, da sie auf Gottes Treue zu seiner Verheißung zählte (vgl. Hebr 11,11).

53. In der Familie begleitet der Glaube alle Lebensalter, angefangen von der Kindheit: Die Kinder lernen, der Liebe ihrer Eltern zu trauen. Deshalb ist es wichtig, dass die Eltern gemeinsam den Glauben in der Familie praktizieren und so die Reifung des Glaubens der Kinder begleiten. Vor allem die jungen Menschen, die in einem Lebensalter stehen, das für den Glauben so vielschichtig, reich und wichtig ist, sollen die Nähe und Zuwendung der Familie und der kirchlichen Gemeinde auf ihrem Weg des Wachsens im Glauben spüren. Wir alle haben gesehen, wie auf den Weltjugendtagen die jungen Menschen ihre Freude am Glauben und das Bemühen erkennen lassen, einen immer festeren und großherzigeren Glauben zu leben. Die jungen Menschen wollen Großes im Leben. Christus zu begegnen und sich von seiner Liebe ergreifen und führen zu lassen weitet den Horizont des Lebens und gibt ihm eine feste Hoffnung, die nicht zugrunde gehen lässt. Der Glaube ist nicht eine Zuflucht für Menschen ohne Mut, er macht vielmehr das Leben weit. Er lässt eine große Berufung entdecken, die Berufung zur Liebe, und er garantiert, dass diese Liebe verlässlich ist und es wert ist, sich ihr zu übereignen, da ihr Fundament auf der Treue Gottes steht, die stärker ist als all unsere Schwäche.

Ein Licht für das Leben in der Gesellschaft

54. In der Familie aufgenommen und vertieft, wird der Glaube ein Licht, um alle sozialen Beziehungen zu erleuchten. Als Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes des Vaters weitet er sich dann zu einem Unterwegssein als Brüder und Schwestern. In der „Moderne" wurde versucht, eine universale Brüderlichkeit unter den Menschen auf der Grundlage ihrer Gleichheit aufzubauen. Nach und nach haben wir aber verstanden, dass diese Brüderlichkeit, die des Bezugs auf einen gemeinsamen Vater als ihr letztes Fundament entbehrt, nicht zu bestehen vermag. Es ist also nötig, zur wahren Wurzel der Brüderlichkeit zurückzukehren. Die Geschichte des Glaubens ist von ihrem Anbeginn an eine Geschichte der Brüderlichkeit gewesen, wenn auch nicht frei von Konflikten. Gott ruft Abraham, aus seinem Land wegzuziehen, und verspricht ihm, ihn zu einer großen Nation, zu einem großen Volk zu machen, auf dem der göttliche Segen liegt (vgl. Gen 12,1-3). Während die Heilsgeschichte fortschreitet, entdeckt der Mensch, dass Gott alle als Brüder und Schwestern an dem einen Segen teilhaben lassen will, der in Jesus seine Fülle findet, damit alle eins würden. Die unerschöpfliche Liebe des Vaters wird uns in Jesus auch durch die Gegenwart des Bruders mitgeteilt. Der Glaube lehrt uns zu sehen, dass in jedem Menschen ein Segen für mich gegeben ist, dass das Licht des Antlitzes Gottes mich durch das Gesicht des Bruders erleuchtet.

Wie viele Wohltaten hat die Sicht des christlichen Glaubens der Stadt der Menschen für ihr Gemeinschaftsleben gebracht! Dank des Glaubens haben wir die einzigartige Würde jedes einzelnen Menschen erfasst, die in der antiken Welt nicht so klar ersichtlich war. Im zweiten Jahrhundert warf der Heide Celsus den Christen vor, was er für eine Illusion und eine Täuschung hielt: nämlich zu meinen, Gott habe die Welt für den Menschen erschaffen und ihn an die Spitze des ganzen Kosmos gesetzt. Er fragte sich: »Wenn man sagt, dass diese Dinge [die Pflanzen] für die Menschen wachsen, warum wird man dann sagen, dass sie eher für die Menschen wachsen als für die vernunftlosen und wildesten Tiere?«[46] »Nun, wenn jemand vom Himmel herabschauen könnte, worin würden sich dann unsere Tätigkeiten von denen der Ameisen und Bienen unterscheiden?«[47] In der Mitte des biblischen Glaubens steht die Liebe Gottes, seine konkrete Sorge um jeden Menschen, sein Heilsplan, der die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung umfasst und seinen Höhepunkt in der Menschwerdung, im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi erreicht. Wenn diese Wirklichkeit verdunkelt wird, fällt das Kriterium weg, um zu unterscheiden, was das Leben des Menschen kostbar und einzigartig macht. Der Mensch verliert seine Stellung im Universum; er verliert sich in der Natur und verzichtet auf seine moralische Verantwortung, oder er maßt sich an, absoluter Herr zu sein, und schreibt sich grenzenlose Macht zur Manipulation zu.

55. Der Glaube lässt uns außerdem durch die Offenbarung der Liebe Gottes des Schöpfers die Natur mehr achten, da er uns in ihr eine von Gott eingeschriebene Grammatik und eine Wohnstatt erkennen lässt, die uns anvertraut ist, damit wir sie pflegen und hüten. Er hilft uns, Entwicklungsmodelle zu finden, die nicht allein auf Nutzen und Profit gründen, sondern die Schöpfung als Gabe anerkennen, deren Schuldner wir alle sind. Er lehrt uns, gerechte Regierungsformen zu ermitteln und dabei anzuerkennen, dass die Autorität von Gott kommt, um sich in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen. Der Glaube bietet auch die Möglichkeit zur Vergebung, die oftmals Zeit, Mühe, Geduld und Einsatz benötigt; eine Vergebung, die möglich ist, wenn man entdeckt, dass das Gute stets ursprünglicher und stärker ist als das Böse, dass das Wort, mit dem Gott unser Leben bejaht, tiefer ist als all unser Nein. Übrigens ist die Einheit auch unter rein anthropologischem Gesichtspunkt dem Konflikt überlegen; wir müssen auch den Konflikt auf uns nehmen, aber das Einlassen auf ihn muss uns dazu bringen, ihn zu lösen, zu überwinden, indem wir ihn in ein Glied einer Kette, in Entwicklung zur Einheit hin verwandeln.

Wenn der Glaube schwindet, besteht die Gefahr, dass auch die Grundlagen des Lebens dahinschwinden, wie der Dichter T. S. Eliot mahnte: »Muss man euch denn sagen, dass sogar so bescheidene Errungenschaften, mit denen ihr angeben könnt nach Art einer gesitteten Gesellschaft, kaum den Glauben überleben werden, dem sie ihre Bedeutung schulden?«[48] Wenn wir den Glauben an Gott aus unseren Städten wegnehmen, dann würde das Vertrauen unter uns schwächer werden, würden wir nur aus Angst geeint bleiben, und die Stabilität wäre gefährdet. Der Hebräerbrief sagt: »Er schämt sich nicht, ihr Gott genannt zu werden; denn er hat für sie eine Stadt vorbereitet« (Hebr 11,16). Der Ausdruck „sich nicht schämen" wird mit einer öffentlichen Anerkennung assoziiert. Das will heißen, dass Gott mit seinem konkreten Handeln seine Gegenwart unter uns, seinen Wunsch, die zwischenmenschlichen Beziehungen zu festigen, öffentlich bekennt. Sind es vielleicht wir, die wir uns schämen, Gott unseren Gott zu nennen? Sind wir es, die ihn als solchen in unserem Leben in der Öffentlichkeit nicht bekennen und die Größe des Lebens der Gemeinschaft nicht darstellen, die er möglich macht? Der Glaube macht das Leben in der Gesellschaft hell. Er besitzt ein schöpferisches Licht für jeden neuen Moment der Geschichte, weil er alle Ereignisse in Beziehung setzt zum Ursprung und Ziel von allem im Vater, der uns liebt.

Eine tröstende Kraft im Leiden

56. Der heilige Paulus stellt, als er den Christen in Korinth von seinen Schwierigkeiten und Sorgen schreibt, seinen Glauben mit der Verkündigung des Evangeliums in Zusammenhang. Er sagt nämlich, dass sich in ihm die Schriftstelle erfüllt: »Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet« (2 Kor 4,13). Der Apostel bezieht sich auf ein Wort des Psalms 116, wo der Psalmist ausruft: »Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich bin so tief gebeugt« (V. 10). Vom Glauben zu reden schließt oft ein, auch von schmerzlichen Prüfungen zu reden, aber genau darin sieht der heilige Paulus die überzeugendere Verkündigung des Evangeliums, weil in der Schwachheit und im Leiden Gottes Kraft zutage tritt und entdeckt wird, die unsere Schwachheit und unser Leiden übersteigt. Der Apostel selbst befindet sich in einer todesähnlichen Situation, die zum Leben wird für die Christen (vgl. 2 Kor 4,7-12). In der Stunde der Prüfung erleuchtet uns der Glaube, und gerade im Leiden und in der Schwachheit wird deutlich: »Wir verkündigen […] nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn« (2 Kor 4,5). Das elfte Kapitel des Hebräerbriefes schließt mit dem Hinweis auf diejenigen, die aufgrund des Glaubens gelitten haben (vgl. Vv. 35-38), unter denen Mose eine besondere Stellung einnimmt, der die Schmach des Messias auf sich genommen hat (vgl. V. 26). Der Christ weiß, dass das Leiden nicht beseitigt werden, aber einen Sinn erhalten kann, dass es zu einem Akt der Liebe und des Sich-Anvertrauens in die Hände Gottes, der uns nicht verlässt, und auf diese Weise zu einer Stufe des Wachstums im Glauben und in der Liebe werden kann. Wenn er betrachtet, wie Christus auch im Augenblick des größten Leidens am Kreuz (vgl. Mk 15,34) mit dem Vater eins ist, lernt der Christ, an der Sicht Jesu selbst teilzunehmen. Sogar der Tod wird hell und kann als letzter Ruf des Glaubens erlebt werden, als letztes „Zieh weg aus deinem Land" (Gen 12,1), als letztes „Komm", das der Vater spricht. Ihm übergeben wir uns in dem Vertrauen, dass er uns auch beim endgültigen Schritt stark machen wird.

57. Das Licht des Glaubens lässt uns nicht die Leiden der Welt vergessen. Für wie viele Männer und Frauen des Glaubens waren die Leidenden Mittler des Lichts! So der Leprakranke für den heiligen Franz von Assisi oder für die selige Mutter Teresa von Kalkutta ihre Armen. Sie haben das Geheimnis verstanden, das in ihnen zugegen ist. Sicher haben sie nicht alle ihre Leiden getilgt, wenn sie sich ihnen genähert haben, und konnten auch nicht jedes Übel erklären. Der Glaube ist nicht ein Licht, das all unsere Finsternis vertreibt, sondern eine Leuchte, die unsere Schritte in der Nacht leitet, und dies genügt für den Weg. Dem Leidenden gibt Gott nicht einen Gedanken, der alles erklärt, sondern er bietet ihm seine Antwort an in Form einer begleitenden Gegenwart, einer Geschichte des Guten, die sich mit jeder Leidensgeschichte verbindet, um in ihr ein Tor zum Licht aufzutun. In Christus wollte Gott selbst diesen Weg mit uns teilen und sein Sehen schenken, um darin das Licht zu schauen. Christus, der den Schmerz erduldet hat, ist »der Urheber und Vollender des Glaubens« (Hebr 12,2).

Das Leiden erinnert uns daran, dass der Dienst des Glaubens am Gemeinwohl immer ein Dienst der Hoffnung ist, die vorwärts blickt. Denn sie weiß, dass unsere Gesellschaft allein von Gott her, von der Zukunft, die vom auferstandenen Jesus kommt, eine feste und dauerhafte Basis finden kann. In diesem Sinn ist der Glaube mit der Hoffnung verbunden, da wir, auch wenn unsere irdische Wohnung zerfällt, eine ewige Wohnung haben, die Gott bereits in Christus, in seinem Leib errichtet hat (vgl. 2 Kor 4,16-5,5). Die Dynamik des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe (vgl. 1 Thess 1,3; 1 Kor 13,13) lässt uns so auf unserem Weg hin zu jener Stadt, »die Gott selbst geplant und gebaut hat« (Hebr 11,10), für die Sorgen aller Menschen eintreten, denn »die Hoffnung lässt nicht zugrunde gehen« (Röm 5,5).

In Einheit mit dem Glauben und der Liebe leitet uns die Hoffnung in eine sichere Zukunft, die sich von den trügerischen Angeboten der Götzen der Welt deutlich unterscheidet, aber dem täglichen Leben neuen Schwung und neue Kraft verleiht. Lassen wir uns nicht die Hoffnung stehlen; lassen wir nicht zu, dass sie vereitelt wird durch unmittelbare Lösungen und Angebote, die uns auf dem Weg aufhalten und die Zeit „aufsplittern" und in Raum umwandeln. Die Zeit steht immer über dem Raum. Der Raum lässt die Vorgänge erstarren, die Zeit hingegen führt sie in die Zukunft und drängt, voll Hoffnung voranzugehen.

Selig, die geglaubt hat (vgl. Lk 1,45)

58. Im Gleichnis vom Sämann überliefert uns der heilige Lukas die folgenden Worte, mit denen der Herr die Bedeutung des „guten Bodens" erklärt: »Auf guten Boden ist der Samen bei denen gefallen, die das Wort mit gutem und aufrichtigem Herzen hören, daran festhalten und durch ihre Ausdauer Frucht bringen« (Lk 8,15). Im Kontext des Lukasevangeliums stellt die Erwähnung des guten und aufrichtigen Herzens, der Hinweis auf das gehörte und bewahrte Wort, eine indirekte Abbildung des Glaubens der Jungfrau Maria dar. Derselbe Evangelist spricht von dem Erinnern Marias, davon, wie sie alles, was sie gehört und gesehen hat, in ihrem Herzen bewahrte, so dass das Wort in ihrem Leben Frucht bringen konnte. Die Mutter des Herrn ist eine vollkommene Ikone des Glaubens, wie die heilige Elisabeth ausrief: »Selig ist die, die geglaubt hat« (Lk 1,45).

In Maria, der Tochter Sion, erfüllt sich die lange Geschichte des Glaubens im Alten Testament mit der Erzählung vieler gläubiger Frauen, angefangen von Sara, die neben den Patriarchen der Ort waren, an dem sich die Verheißung Gottes erfüllte und das neue Leben erblühte. In der Fülle der Zeit erging das Wort Gottes an Maria, und mit ihrem ganzen Sein nahm sie es in ihrem Herzen auf, damit es in ihr Fleisch annehme und aus ihr geboren werde als Licht für die Menschen. Der heilige Märtyrer Justinus verwendet in seinem Dialog mit Tryphon einen schönen Ausdruck, wenn er sagt, dass Maria, als sie die Botschaft des Engels annahm, „Glaube und Freude"[49] empfing. In der Mutter Jesu zeigte sich der Glaube in der Tat reich an Frucht, und wenn unser geistliches Leben Frucht bringt, werden wir mit Freude erfüllt, was das deutlichste Zeichen der Größe des Glaubens ist. Maria hat in ihrem Leben den Pilgerweg des Glaubens in der Nachfolge ihres Sohnes erfüllt.[50] So wurde in Maria der Glaubensweg des Alten Testaments aufgenommen in die Nachfolge Jesu hinein und lässt sich von ihm verwandeln, indem er in die dem menschgewordenen Gottessohn eigene Sichtweise eintritt.

59. Wir können sagen, dass an der seligen Jungfrau Maria sich erfüllt, was ich vorhin nachdrücklich betont habe, nämlich dass der Glaubende in sein Bekenntnis des Glaubens ganz und gar mit hinein genommen ist. Maria ist durch ihre Beziehung zu Jesus eng mit dem verbunden, was wir glauben. In der jungfräulichen Empfängnis Jesu in Maria haben wir ein klares Zeichen der Gottessohnschaft Christi. Der ewige Ursprung Christi ist im Vater; er ist der Sohn in vollem und einzigartigem Sinn; und deshalb wird er in der Zeit geboren ohne Zutun eines Mannes. Als Sohn kann Jesus der Welt einen neuen Anfang und ein neues Licht bringen, die Fülle der treuen Liebe Gottes, der sich den Menschen übergibt. Andererseits hat die wirkliche Mutterschaft Marias sichergestellt, dass der Sohn Gottes eine echte menschliche Geschichte hat und ein wahres Fleisch, in dem er am Kreuz sterben und von den Toten auferstehen konnte. Maria begleitete ihn bis unter das Kreuz (vgl. Joh 19,25), von wo aus sich ihre Mutterschaft auf jeden Jünger ihres Sohnes erstrecken sollte (vgl. Joh 19,26-27). Nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu war sie auch im Abendmahlssaal zugegen, um mit den Aposteln um die Gabe des Geistes zu bitten (vgl. Apg 1,14). Der Strom der Liebe zwischen Vater und Sohn im Geist hat unsere Geschichte durchlaufen; Christus zieht uns zu sich, um uns retten zu können (vgl. Joh 12,32). In der Mitte des Glaubens steht das Bekenntnis zu Jesus, dem Sohn Gottes, geboren von einer Frau, der uns durch die Gabe des Heiligen Geistes in die Gotteskindschaft hineinführt (vgl. Gal 4,4-6).

60. Im Gebet wenden wir uns an Maria, die Mutter der Kirche und die Mutter unseres Glaubens.

     Hilf, o Mutter, unserem Glauben!
     Öffne unser Hören dem Wort, damit wir die Stimme Gottes
und seinen Anruf erkennen.
     Erwecke in uns den Wunsch, seinen Schritten zu folgen,
indem wir aus unserem Land wegziehen und seine Verheißung annehmen.
     Hilf uns, dass wir uns von seiner Liebe anrühren lassen, damit wir ihn im Glauben berühren können.
    Hilf uns, dass wir uns ihm ganz anvertrauen, an seine Liebe glauben, vor allem in den Augenblicken der Bedrängnis und des Kreuzes, wenn unser Glaube gerufen ist zu reifen.
     Säe in unseren Glauben die Freude des Auferstandenen.
     Erinnere uns daran: Wer glaubt, ist nie allein.
     Lehre uns, mit den Augen Jesu zu sehen, dass er Licht sei auf unserem Weg; und dass dieses Licht des Glaubens in uns immerfort wachse, bis jener Tag ohne Untergang kommt, Jesus Christus selbst, dein Sohn, unser Herr!

Gegeben zu Rom, bei St. Peter, am 29. Juni, dem Hochfest der heiligen Apostel Petrus und Paulus, im Jahr 2013, dem ersten meines Pontifikats.

 

FRANCISCUS

 


FUSSNOTEN

[1] Dialogus cum Tryphone Iudaeo 121, 2: PG 6, 758.

[2] Clemens von Alexandrien, Protrepticus IX: PG 8, 195.

[3] Brief an Elisabeth Nietzsche vom 11. Juni 1865, in: Werke in drei Bänden, München 1954, 953f.

[4] Paradies XXIV, 145-147.

[5] Acta Sanctorum, Bollandistae, Junii, I, 21.

[6] »Wenn das Konzil auch nicht ausdrücklich vom Glauben handelt, so spricht es von ihm doch auf jeder Seite, erkennt seinen lebenswichtigen und übernatürlichen Charakter an, setzt ihn als unverkürzt und stark voraus und baut auf ihm seine Lehren auf. Es würde genügen, sich die Konzilsaussagen ins Gedächtnis zu rufen […], um sich der wesentlichen Bedeutung bewusst zu werden, die das Konzil in Übereinstimmung mit der Lehrüberlieferung der Kirche dem Glauben beimisst — dem wahren Glauben, dessen Quelle Christus und dessen Kanal das Lehramt der Kirche ist« (Paul VI., Generalaudienz, 8. März 1967: Insegnamenti V [1967], 705).

[7] Vgl. z. B. Erstes Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, 3. Kap.: DS 3008-3020; Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 5; Katechismus der Katholischen Kirche, 153-165.

[8] Vgl. Katechese V, 1: PG 33, 505A.

[9] In Psal. 32, II, s. I, 9: PL 36, 284.

[10] Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, 793.

[11] Émile, Paris 1966, 387.

[12] Lettre à Christophe de Beaumont (1793), Lausanne 1993, 110.

[13] Vgl. In Ioh. Evang. 45, 9: PL 35, 1722-1723.

[14] Teil II, IV.22

[15] De continentia 4,11: PL 40, 356.

[16] Vom Wesen katholischer Weltanschauung (1923), in: Unterscheidung des Christlichen. Gesammelte Studien 1923-1963, Mainz 19632, 24.

[17] XI, 30, 40: PL 32, 825.

[18] Vgl. ebd., 825-826.

[19] Vgl. Vermischte Bemerkungen / Culture and Value, G. H. von Wright (ed.), Oxford 1991, 32-33; 61-64.

[20] Vgl. Homiliae in Evangelia II, 27, 4: PL 76, 1207.

[21] Vgl. Expositio super Cantica Canticorum XVIII, 88: CCL, Continuatio Mediaevalis 87, 67.

[22] Ebd., XIX, 90: CCL, Continuatio Mediaevalis 87, 69.

[23] »Dem offenbarenden Gott ist der „Gehorsam des Glaubens" (Röm 16, 26; vgl. Röm 1,5; 2 Kor 10, 5-6) zu leisten. Darin überantwortet sich der Mensch Gott als Ganzer in Freiheit, indem er sich dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft und seiner Offenbarung willig zustimmt. Dieser Glaube kann nicht vollzogen werden ohne die zuvorkommende und helfende Gnade Gottes und ohne den inneren Beistand des Heiligen Geistes, der das Herz bewegen und Gott zuwenden, die Augen des Verstandes öffnen und es jedem leicht machen muss, der Wahrheit zuzustimmen und zu glauben. Dieser Geist vervollkommnet den Glauben ständig durch seine Gaben, um das Verständnis der Offenbarung mehr und mehr zu vertiefen« (Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 5).

[24] Vgl. Heinrich Schlier, Meditationen über den Johanneischen Begriff der Wahrheit, in: Besinnung auf das Neue Testament. Exegetische Aufsätze und Vorträge 2, Freiburg, Basel, Wien 1959, 272.

[25] Vgl. Summa Theologiae III, q. 55, a. 2, ad 1.

[26] Sermo 229/L, 2: PLS 2, 576: »Tangere autem corde, hoc est credere«.

[27] Vgl. Nr. 73: AAS (1999), 61-62.

[28] Vgl. Confessiones VIII,12,29: PL 32, 762.

[29] De Trinitate XV,11,20: PL 42, 1071: «Verbum quod intus lucet».

[30] Vgl. De civitate Dei XXII, 30, 5: PL 41, 804.

[31] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Iesus (6. August 2000), 15: AAS 92 (2000), 756.

[32] Demonstratio apostolicae praedicationis 24, SC 406, 117.

[33] Vgl. Bonaventura, Breviloquium, Prol.: Opera Omnia, V, Quaracchi 1891, 201; In I Sent., proem, q. 1, resp.: Opera Omnia, I, Quaracchi 1891, 7; Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, q. 1.

[34] Vgl. De Baptismo 20, 5: CCL I, 295.

[35] Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 8.

[36] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, 59.

[37] Vgl. Epistula Barnabae 11, 5: SC 172, 162.

[38] Vgl. De nuptiis et concupiscentia I, 4, 5: PL 44, 413: »Habent quippe intentionem generandi regenerandos, ut qui ex eis saeculi filii nascuntur in Dei filios renascantur.«

[39] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 8.

[40] In nativitate Domini sermo 4, 6: SC 22, 110.

[41] Vgl. Irenäus, Adversus haereses I, 10, 2: SC 264, 160.

[42] Vgl. ebd., II, 27, 1: SC 294, 264.

[43] Vgl. Augustinus, De sancta virginitate 48,48: PL 40, 424-425: »Servatur et in fide inviolata quaedam castitas virginalis, qua Ecclesia uni viro virgo casta cooptatur «.

[44] Vgl. An essay on the development of Christian Doctrine (1878), Uniform Edition: Longmans, Green and Company, London, 1868-1881, 185-189.

[45] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 10.

[46] Origenes, Contra Celsum IV, 75: SC 136, 372.

[47] Ebd., 85: SC 136, 394.

[48] Choruses from The Rock, in: The Collected Poems and Plays 1909-1950, New York 1980, 106.

[49] Vgl. Dialogus cum Tryphone Iudaeo 100, 5: PG 6, 710.

[50] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 58. 

 



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