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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS NACH KOLUMBIEN
(6.-11. SEPTEMBER 2017)

HEILIGE MESSE

PREDIGT DES HEILIGEN VATERS

Hafen von Contecar (Cartagena)
Sonntag, 10. September 2017

[Multimedia]


»Die Würde der Person und die Menschenrechte«

 

In dieser Stadt, die wegen ihrer Ausdauer bei der Verteidigung der errungenen Freiheit vor zweihundert Jahren die „Heldenhafte“ genannt wurde, feiere ich die letzte heilige Messe während dieser Reise. Zudem ist Cartagena de Indias seit 32 Jahren Sitz der Menschenrechte in Kolumbien, weil man als Volk hier würdigt, dass »dank der Gruppe von Missionaren, die von den jesuitischen Geistlichen Pedro Claver y Corberó und Alonso de Sandoval sowie Bruder Nicolás González gebildet wurde und der sich viele Söhne und Töchter der Stadt Cartagena de Indias im 17. Jahrhundert angeschlossen haben, die Bemühung entstand, die Situation der Unterdrückten jener Epoche leichter zu machen, vornehmlich der Sklaven, für die sie Respekt und Freiheit verlangten« (Kolumbien-Kongress 1985, Gesetz 95, Art. 1).

Hier am Gnadenort des heiligen Petrus Claver, wo auf kontinuierliche und systematische Weise die Besprechung, die Reflexion und die Überprüfung hinsichtlich der Fortschritte und der Gültigkeit der Menschenrechte in Kolumbien stattfinden, spricht das Wort Gottes heute von Vergebung, Korrektur, Gemeinschaft und Gebet.

In der vierten Rede des Matthäusevangeliums spricht Jesus zu uns, die wir uns entschieden haben, auf die Gemeinschaft zu setzen, die wir das Leben in Gemeinschaft schätzen und von einem Plan träumen, der alle einbezieht. Der vorausgehende Text ist die Stelle des Guten Hirten, der die neunundneunzig Schafe zurücklässt, um dem verlorenen nachzugehen, und dieser Duft durchzieht die ganze Rede, die wir gerade gehört haben: Es gibt keinen noch so Verlorenen, der nicht unsere Sorge verdiente, unsere Nähe und unsere Vergebung. Aus diesem Blickwinkel heraus versteht man also, dass ein Versagen, eine von jemandem begangene Sünde uns alle fragend macht, aber zunächst einmal das Opfer der Sünde des Bruders angeht; und dieser ist aufgerufen, die Initiative zu ergreifen, damit der, der ihm Böses getan hat, nicht verloren gehe. Die Initiative ergreifen: Wer die Initiative ergreift, ist immer der Mutigere.

In diesen Tagen habe ich viele Zeugnisse von Personen gehört, die auf jene zugegangen sind, die ihnen Böses getan haben. Furchtbare Verletzungen habe ich an ihren Körpern gesehen; nicht wieder gutzumachende Verluste, über die sie immer noch weinen. Und doch sind diese Menschen losgegangen und haben den ersten Schritt getan auf einer anderen Straße als denen, die schon beschrittenen wurden. Denn Kolumbien sucht seit Jahrzehnten den Frieden, und es war, wie Jesus lehrt, nicht genug, dass die beiden Parteien sich annäherten und einen Dialog führten. Es war nötig, dass sich viele andere Akteure in diesen Dialog der Wiedergutmachung der Sünden einschalteten. »Hört [dein Bruder] aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei mit dir« (Mt 18,16), sagt uns der Herr im Evangelium.

Wir haben gelernt, dass diese Wege der Versöhnung, des Vorrangs der Vernunft über die Vergeltung, der zerbrechlichen Harmonie zwischen Politik und Recht nicht die Vorgänge im Volk umgehen können. Es genügt nicht, gesetzliche Rahmen und institutionelle Vereinbarungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Gruppen guten Willens zu planen. Jesus findet die Lösung zum vollbrachten Bösen in der persönlichen Begegnung zwischen den Parteien. Zudem ist es immer wertvoll, in unsere Friedensprozesse die Erfahrungen von Bereichen einzubeziehen, die vielfach aus dem Blickfeld geraten sind, damit eben die Gemeinschaften die Abläufe des kollektiven Gedächtnisses färben mögen. »Der hauptsächliche Urheber und der historische Träger dieses Prozesses sind die Menschen und ihre Kultur, nicht eine Klasse, eine Fraktion, eine Gruppe, eine Elite – alle Menschen und ihre Kultur –. Wir brauchen keinen Plan einiger weniger für einige wenige, oder einer erleuchteten bzw. stellvertretenden Minderheit, die sich ein Kollektiv-Empfinden aneignet. Es geht um ein Abkommen für das Zusammenleben, um eine gesellschaftliche und kulturelle Übereinkunft« (Apost. Schreiben Evangelii gaudium, 239).

Wir können einen großen Beitrag zu dieser neuen Gangart leisten, die Kolumbien durchführen will. Jesus weist uns darauf hin, dass dieser Weg der Wiedereingliederung in die Gemeinschaft mit einem Dialog zu zweit beginnt. Nichts kann diese wiedergutmachende Begegnung ersetzen; kein kollektiver Prozess kann uns von der Herausforderung entbinden, sich zu begegnen, sich auszusprechen und zu verzeihen. Die tiefen Wunden der Geschichte erfordern notwendigerweise Instanzen, wo Gerechtigkeit walte; wo es den Opfern ermöglicht werde, die Wahrheit zu erfahren; wo der Schaden gebührend wiedergutgemacht werde und wo man eindeutig handeln möge, um eine Wiederholung derartiger Untaten zu vermeiden. Aber mit all dem stehen wir noch an der Schwelle der christlichen Erfordernisse. Uns Christen ist aufgegeben, „von unten her“ einen kulturellen Wandel zu vollbringen: Auf die Kultur des Todes und der Gewalt mit der Kultur des Lebens und der Begegnung zu antworten. Dies sagte schon jener Schriftsteller, der euch und ebenso allen gehört: »Jetzt ist es Zeit zu begreifen, dass man dieses kulturelle Unglück nicht mit Blei und nicht mit Geld beheben kann, sondern mit einer Erziehung zum Frieden, der mit Liebe auf den Trümmern eines erhitzten Landes aufgebaut wird, wo wir beizeiten aufstehen, um uns immer wieder gegenseitig abzuschlachten … eine legitime Revolution des Friedens, die die immense schöpferische Energie auf das Leben hin kanalisiert; jene Energie, die wir ungefähr zweihundert Jahre lang benutzt haben, um uns zu zerstören, und die jetzt einfordern und hervorheben möge die Vorherrschaft der Fantasie« (Gabriel García Márquez, Botschaft über den Frieden 1998).

Wieviel haben wir zugunsten der Begegnung und des Friedens unternommen? Wieviel haben wir unterlassen, als wir zuließen, dass die Barbarei im Leben unseres Volkes Gestalt annahm. Jesus gebietet uns, uns mit diesen Verhaltensmustern auseinanderzusetzen, jenen Lebensstilen, die dem Gemeinwesen weh tun und die Gemeinschaft zerstören. Wie oft werden Vorgänge der Gewalt und soziale Ausschließung „normalisiert“, als normal hingenommen, ohne dass sich unsere Stimme erhebt und unsere Hände prophetisch anklagen! Neben dem heiligen Petrus Claver gab es Tausende Christen, viele von ihnen waren Ordensleute … aber nur eine Handvoll Menschen begann eine Gegenkultur der Begegnung. Der heilige Petrus Claver vermochte es, Hunderttausenden von Schwarzen und von Sklaven, die unter absolut menschenunwürdigen Bedingungen völlig verängstigt und ihrer Hoffnungen beraubt ankamen, wieder Würde und Zuversicht zu geben. Er besaß keine namhaften akademischen Titel; man ging so weit zu behaupten, dass er nur von „mittelmäßiger“ Begabung wäre; er besäße aber den „Genius“, das Evangelium völlig zu leben und denen zu begegnen, die die anderen nur als Ausschuss betrachteten. Einige Jahrhunderte später ist die Spur dieses Missionars und Apostels der Gesellschaft Jesu von der heiligen María Bernarda Bütler aufgenommen worden. Sie hat ihr Leben den Armen und den Ausgestoßenen in dieser Stadt Cartagena gewidmet[1].

Bei der Begegnung, die sich unter uns vollzieht, entdecken wir unsere Rechte wieder und erschaffen unser Leben neu, damit es wieder echt menschlich sei. »Das gemeinsame Haus aller Menschen muss sich weiterhin über dem Fundament eines rechten Verständnisses der universalen Brüderlichkeit und der Achtung der Unantastbarkeit jedes menschlichen Lebens erheben – jedes Mannes und jeder Frau; der Armen, der Alten, der Kinder, der Kranken, der Ungeborenen, der Arbeitslosen, der Verlassenen und derer, die man meint „wegwerfen“ zu können, weil man sie nur als Nummern der einen oder anderen Statistik betrachtet. Das gemeinsame Haus aller Menschen muss auch auf dem Verständnis einer gewissen Unantastbarkeit der erschaffenen Natur errichtet werden« (Ansprache an die Mitglieder der UN-Vollversammlung, 25 September 2015).

Jesus weist uns im Evangelium auf die Möglichkeit hin, dass der andere sich verschließt, eine Veränderung verweigert und an seinem Übel festhält. Wir können nicht verhehlen, dass es Menschen gibt, die in Sünden verharren, welche das Zusammenleben und die Gemeinschaft verletzen. »Ich denke an das erschütternde Drama der Droge, mit der zum Hohn der moralischen und zivilen Gesetze Gewinn gemacht wird«. Dieses Übel bedroht direkt die Würde des Menschen und zerbricht fortschreitend das Abbild, das der Schöpfer in uns hineingelegt hat. Ich verurteile entschlossen diese Wunde, die so viele Menschenleben ausgelöscht hat und die von skrupellosen Zeitgenossen aufrecht erhalten und gefördert wird. Mit dem Leben unserer Brüder und Schwestern darf man nicht spielen, noch ihre Würde beeinträchtigen. Ich mache einen Appell, damit man nach Wegen sucht, dem Rauschgifthandel ein Ende zu bereiten, der nichts anderes tut als überall Tod zu säen, so viele Hoffnungen zunichte zu machen und so viele Familie zu zerstören. Ich denke auch an ein anderes Drama: »an die Zerstörung der natürlichen Ressourcen und die gegenwärtige Umweltverschmutzung, an die Tragödie der Ausbeutung der Arbeitskraft; ich denke an den illegalen Geldhandel wie an die Finanzspekulation, die oft räuberische Züge annimmt und schädlich ist für ganze Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, indem sie Millionen von Menschen der Armut aussetzt; ich denke an die Prostitution, die täglich unschuldige Opfer fordert, vor allem unter den Jüngsten, indem sie ihnen die Zukunft nimmt; ich denke an die Abscheulichkeit des Menschenhandels, an die Verbrechen gegen Minderjährige und die Missbräuche Minderjähriger, an die Sklaverei, die in vielen Teilen der Welt immer noch ihren Schrecken verbreitet, an die oft nicht gehörte Tragödie der Migranten, mit denen in der Illegalität in unwürdiger Weise spekuliert wird« (Botschaft zum Weltfriedenstag 2014, 8). Und man spekuliert sogar mit einer “aseptischen Legalität” des Pazifismus, die nicht auf das Fleisch des Bruders oder der Schwester achtet, welches das Fleisch Christi ist. Auch dafür müssen wir vorbereitet sein und unbeirrt Position beziehen auf den Prinzipien der Gerechtigkeit, die nichts von der Nächstenliebe wegnehmen. Es ist nicht möglich, in Frieden zusammenzuleben, ohne nichts mit dem zu tun zu haben, was das Leben korrumpiert und es gefährdet. In diesem Zusammenhang erinnere ich an alle, die mutig und unermüdlich für die Verteidigung und die Wahrung der Rechte der menschlichen Person und ihrer Würde gearbeitet und sogar ihr Leben gelassen haben. Wie von ihnen, so fordert die Geschichte auch von uns, die Verteidigung der Menschenrechte endgültig auf uns zu nehmen, hier in Cartagena de Indias, dem Ort, den ihr zum nationalen Sitz dafür gewählt habt.

Schließlich bittet uns Jesus, gemeinsam zu beten. Unser Gebet möge symphonisch sein, mit persönlichem Klang und verschiedenem Akzent, das aber auf einmütige Weise einen einzigen Schrei erhebt. Ich bin gewiss, dass wir heute gemeinsam für die Rettung jener beten, die im Irrtum waren, und nicht für ihre Vernichtung; dass wir für die Gerechtigkeit beten und nicht für die Rache, für den Wiederaufbau in der Wahrheit und nicht im Vergessen. Beten wir dafür, dass das Motto dieses Besuchs eingelöst werde: „Machen wir den ersten Schritt!“; und dass dieser erste Schritt in eine gemeinsame Richtung gehe.

„Den ersten Schritt machen“ heißt vor allem, den anderen mit Christus, dem Herrn, entgegenzugehen. Er bittet uns immer, einen entschiedenen und sicheren Schritt hin zu den Brüdern und Schwestern zu machen und dabei auf den Anspruch zu verzichten, Verzeihung zu erlangen, ohne zu verzeihen, und geliebt zu werden, ohne zu lieben. Wenn Kolumbien einen stabilen und dauerhaften Frieden will, muss es dringend einen Schritt in diese Richtung tun, die jene des Gemeinguts, der Chancengleichheit, der Gerechtigkeit, der Achtung der menschlichen Natur und ihrer Bedürfnisse ist. Nur wenn wir dabei helfen, die Knoten der Gewalt zu lösen, entwirren wir das komplizierte Knäuel der Zusammenstöße: Von uns wird verlangt, den Schritt zur Begegnung mit den Geschwistern zu tun und dabei den Mut zu einer Korrektur zu haben, die nicht zurückweisen, sondern einbeziehen will; von uns wird verlangt, in Liebe darin fest zu bleiben, was nicht verhandelbar ist; schließlich ist die Aufgabe, den Frieden aufzubauen, indem man »nicht mit dem Mund, sondern mit den Händen und den Werken« spricht (heiliger Petrus Claver) und indem man gemeinsam die Augen zum Himmel erhebt: Er ist imstande, jenes zu lösen, was uns unmöglich erscheint. Er hat uns verheißen, uns bis zum Ende der Zeiten zu begleiten, und Er wird eine so große Bemühung nicht ohne Frucht lassen.


Verabschiedung (nach der Kommunion)

Zum Abschluss dieser Feier möchte ich mich beim Erzbischof von Cartagena Jorge Enrique Jiménez Carvajal für die freundlichen Worte bedanken, die er im Namen seiner Brüder im Bischofsamt und des ganzen Volkes Gottes an mich gerichtet hat.

Ich danke dem Präsidenten Juan Manuel Santos für seine Einladungen, das Land zu besuchen, den Vertretern des öffentlichen Lebens sowie allen, die sich mit uns in dieser Eucharistiefeier hier oder durch die Medien verbunden haben.

Ich bin dankbar für den Einsatz und die Zusammenarbeit, die diesen Besuch möglich gemacht haben. Es sind so viele, die mitgearbeitet und ihre Zeit und ihre Verfügbarkeit geschenkt haben. Es waren intensive und schöne Tage, in denen ich so vielen Menschen begegnen und viele Aktivitäten kennenlernen konnte, die mein Herz berührt haben. Ihr habt mir viel Gutes getan.

Liebe Brüder und Schwestern, ich möchte euch noch ein letztes Wort sagen: Bleiben wir nicht dabei stehen, den „ersten Schritt zu tun“, sondern machen wir uns weiterhin täglich zusammen auf den Weg, um dem anderen auf der Suche nach Harmonie und Brüderlichkeit entgegenzugehen. Wir können nicht stillstehen. Am 8. September 1654 starb genau hier der heilige Petrus Claver. Er hatte vierzig Jahre der freiwilligen Sklaverei, der unermüdlichen Arbeit für die Ärmsten hinter sich. Er blieb nicht stehen; nach dem ersten Schritt folgten viele weitere. Sein Beispiel hilft uns, aus uns selbst herauszugehen, um dem Nächsten entgegenzugehen. Kolumbien, dein Bruder braucht dich. Geh ihm entgegen und bring ihm die Umarmung des Friedens, frei von aller Gewalt, „Sklaven des Friedens für immer“.


 
[1] Auch sie hatte die Klugheit der Liebe und vermochte Gott im Nächsten zu finden. Keiner von beiden legte angesichts der Ungerechtigkeit und der Schwierigkeiten die Hände in den Schoß. Denn »wenn ein Konflikt entsteht, schauen einige nur zu und gehen ihre Wege, als ob nichts passiert wäre. Andere gehen in einer Weise darauf ein, dass sie zu seinen Gefangenen werden, ihren Horizont einbüßen und auf die Institutionen ihre eigene Konfusion und Unzufriedenheit projizieren. Damit wird die Einheit unmöglich. Es gibt jedoch eine dritte Möglichkeit, und dies ist der beste Weg, dem Konflikt zu begegnen. Es ist die Bereitschaft, den Konflikt zu erleiden, ihn zu lösen und ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Prozesses zu machen« (Apost. Schreiben Evangelii gaudium, 227).
 


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