JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 26. Januar 2005
Lesung: Psalm 116, 1–2.5–7.9.
1 Ich liebe den Herrn; denn er hat mein lautes Flehen gehört
2 und sein Ohr mir zugeneigt an dem Tag, als ich zu ihm rief.
3 Mich umfingen die Fesseln des Todes, / mich befielen die Ängste der Unterwelt, mich trafen Bedrängnis und Kummer.
4 Da rief ich den Namen des Herrn an: »Ach Herr, rette mein Leben!«
5 Der Herr ist gnädig und gerecht, unser Gott ist barmherzig.
6 Der Herr behütet die schlichten Herzen; ich war in Not, und er brachte mir Hilfe.
7 Komm wieder zur Ruhe, mein Herz! Denn der Herr hat dir Gutes getan.
8 Ja, du hast mein Leben dem Tod entrissen, / meine Tränen (getrocknet), meinen Fuß (bewahrt vor) dem Gleiten.
9 So gehe ich meinen Weg vor dem Herrn im Land der Lebenden.
1. In Psalm 116, der soeben verkündet wurde, drückt der Psalmist, nachdem seine inständige Bitte erhört worden ist, seine dankbare Liebe zum Herrn aus: »Ich liebe den Herrn; denn er hat mein lautes Flehen gehört und sein Ohr mir zugeneigt an dem Tag, als ich zu ihm rief« (V. 1–2). Gleich nach dieser Liebeserklärung folgt eine genaue Beschreibung der Todesgefahr, die das Leben des Betenden bedroht hatte (vgl. V. 3–6).
Das Drama wird durch die in den Psalmen gebräuchlichen Symbole dargestellt. Die Stricke, die das Dasein umschlingen, sind die des Todes; die Fesseln, die es bedrücken, sind die Windungen der Unterwelt, die die Lebenden unaufhörlich hinunter ziehen wollen (vgl. Spr 30,15–16).
2. Der Mensch wird mit einer Beute verglichen, die dem unerbittlichen Jäger in die Falle gegangen ist. Der Tod umfängt ihn wie eine Fessel (vgl. Ps 116,3). Der Betende befand sich in Todesgefahr, in einer schmerzlichen psychischen Lage. »Mich trafen Bedrängnis und Kummer« (V. 3). Aber aus dem tiefen Abgrund kam ein lauter Hilferuf an den einzigen, der die Hand ausstrecken und den angsterfüllten Beter aus dem unentwirrbaren Durcheinander befreien konnte: »Ach Herr, rette mein Leben!« (V. 4).
Es ist ein kurzes, flehentliches Gebet des Menschen, der sich in einer verzweifelten Lage befindet und sich an den einzigen Rettungsanker klammert. So schrien die Jünger im Sturm (vgl. Mt 8,25), so flehte Petrus, als er über das Wasser ging und begann unterzugehen (vgl. Mt 14,30).
3. Nachdem er gerettet worden ist, verkündet der Betende, daß der Herr »gnädig und gerecht«, ja »barmherzig« ist (Ps 116,5). Das letzte Eigenschaftswort deutet im hebräischen Original die Zärtlichkeit der Mutter an und erinnert an deren »Innerstes«.
Das wahre Vertrauen empfindet Gott den Herrn immer als Liebe, auch wenn es manchmal schwer ist, den Verlauf seines Handelns zu erahnen. Jedenfalls ist es sicher, daß »der Herr die schlichten Herzen behütet« (V. 6). In Not und Verlassenheit kann man immer auf ihn, den »Vater der Waisen und Anwalt der Witwen« (Ps 68,6), zählen.
4. Jetzt beginnt der Psalmist in seinem Herzen ein Gespräch, das im nachfolgenden Psalm wiedergegeben wird und mit unserem Psalm verbunden wurde. Das geschah in der jüdischen Tradition, so daß nach der hebräischen Numerierung des Psalteriums ein einziger Psalm 116 entstanden ist. Der Psalmist versucht, nach der tödlichen Gefahr wieder innerlich zur Ruhe zu kommen (vgl. Ps 116,7).
Der Herr, der mit Glauben angerufen wurde, hat die Hand ausgestreckt, hat die Fesseln durchschnitten, die den Beter gefangen hielten, hat die Tränen in seinen Augen getrocknet und hat seinen raschen Absturz in die Tiefe der Unterwelt verhindert (vgl. V. 8). Die Wende ist jetzt klar, und das Lied endet mit einem leuchtenden Bild: Der Betende kehrt in das »Land der Lebenden« zurück, das heißt auf die Straßen der Welt, um seinen »Weg vor dem Herrn« zu gehen. Er vereint sich mit der betenden Gemeinschaft im Tempel, eine Vorwegnahme der Gemeinschaft mit Gott, die am Ende seines Lebens auf ihn wartet (vgl. V. 9).
5. Wir möchten zum Schluß die wichtigsten Stellen des Psalms wiederholen, indem wir uns von einem großen christlichen Schriftsteller des 3. Jahrhunderts, Origenes, führen lassen, dessen griechischer Kommentar zu Psalm 116 in der lateinischen Version des hl. Hieronymus auf uns gekommen ist.
Während er liest, daß der Herr »sein Ohr zugeneigt« hat, kommentiert er: »Wir sind klein und niedrig, aber wir können uns nicht größer machen und in die Höhe strecken; deshalb neigt der Herr sein Ohr und läßt sich herab, uns anzuhören. Schließlich sind wir Menschen und können keine Götter werden; Gott ist Mensch geworden und hat sich uns zugeneigt, wie es geschrieben steht: ›Er neigte den Himmel und fuhr herab‹ (Ps 18,10).«
In der Tat, so fährt der Psalm fort, »der Herr behütet die schlichten Herzen« (Ps 116,6). »Wenn jemand groß ist, erhebt er sich und wird stolz. Diesen beschützt der Herr nicht; und wenn jemand sich für groß hält, hat der Herr kein Erbarmen mit ihm; aber wenn sich jemand erniedrigt, erweist sich der Herr barmherzig ihm gegenüber und behütet ihn. So daß er sagt: ›Seht, ich und die Kinder, die der Herr mir geschenkt hat‹ (Jes 8,18). Und weiter: ›Ich habe mich erniedrigt, und er hat mich gerettet‹.«
So kann derjenige, der klein und in Not ist, zur Ruhe kommen, wie es im Psalm heißt (vgl. Ps 116,7) und wie Origenes kommentiert: »Wenn es heißt: ›Komm wieder zur Ruhe‹, dann bedeutet das, daß dieser Mensch zuerst ruhig war, aber dann die Ruhe verloren hat … Gott hat uns gut erschaffen, und er hat uns zu Herren über unsere Entscheidungen gemacht, und er hat uns alle mit Adam ins Paradies gesetzt. Aber auf Grund unserer freien Entscheidung sind wir von dieser Seligkeit hinabgestürzt und in diesem Tal der Tränen gelandet; deshalb fordert der Gerechte sein Herz auf, dorthin zurückzukehren, von wo er abgestürzt ist … ›Komm wieder zur Ruhe, mein Herz! Denn der Herr hat dir Gutes getan‹. Wenn du, Herz, ins Paradies zurückkehrst, dann nicht, weil du dessen würdig bist, sondern weil es Werk der göttlichen Barmherzigkeit ist. Wenn du aus dem Paradies ausgezogen bist, dann aus eigener Schuld; deine Rückkehr hingegen ist Werk der Barmherzigkeit des Herrn. Laßt auch uns zu unserem Herzen sagen: ›Komm wieder Ruhe‹. Unsere Ruhe ist Christus, unser Gott« (Origene-Gerolamo, 74 Omelie sul libro dei Salmi, Milano 1993, Ss. 409.412–413).
Psalm 116 bringt die große Bedeutung des Gebets zum Ausdruck. In Not und Gefahr ruft der gläubige Mensch zum Herrn. Er klammert sich an Gott, sein einziges Heil. Ihm erweist er dankbare Liebe für alle Hilfe, die er erfahren darf.
Wahrer Glaube erkennt Gott als Liebe, auch wenn die tiefsten Gründe der Geschehnisse oftmals schwer zu begreifen sind. Das Gebet ist eine sichere Hilfe, um das liebevolle Antlitz des Herrn neu zu entdecken. Gott verläßt seine Gläubigen nicht. Er bürgt dafür, daß trotz aller Prüfungen und Leiden am Ende das Gute siegen wird.
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Von Herzen grüße ich die deutschsprachigen Pilger und Besucher. Gott hört das Rufen der Gläubigen und ist den Seinen nahe. Wendet euch mit Zuversicht an ihn und vertraut auf die Kraft des Gebets! Der Herr zeige euch allezeit seine Güte und Liebe.
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