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EUCHARISTIEFEIER AM "SONNTAG DER NÄCHSTENLIEBE "

PREDIGT VON JOHANNES PAUL II.

Petersplatz - Sonntag, 16. Mai 1999

   

1. »Ich schaue Gottes Güte im Land der Lebenden« (Ps 27 [26], 4).

Diese Worte des Antwortpsalms sind ein Echo auf die bewegenden Zeugnisse, die der Eucharistiefeier vorausgegangen sind und die das Leitthema dieses Welttreffens »Versöhnung in der Nächstenliebe« eindringlich illustriert haben. In jeder Lage, auch in einer sehr dramatischen, macht der Christ sich den Ruf des Psalmisten zu eigen: »Der Herr ist mein Licht und mein Heil: Vor wem sollte ich mich fürchten? …Mein Herz denkt an dein Wort: ›Sucht mein Angesicht! ‹ Dein Angesicht, Herr, will ich suchen. Verbirg nicht dein Gesicht vor mir« (Ps 27 [26], 1. 8–9). Dieser Ruf flößt Mut ein, er gibt der Hoffnung Nahrung und drängt dazu, alle Energie dafür aufzubieten, daß das Angesicht des Herrn als Licht in unser Dasein strahle. Das Angesicht des Herrn suchen heißt also, die volle Gemeinschaft mit ihm ersehnen; es heißt, ihn über alles und mit allen Kräften lieben. Der konkreteste Weg, ihm zu begegnen, ist aber der, den Menschen zu lieben, in dessen Gesicht das Antlitz des Schöpfers aufleuchtet.

Auf diesem Platz wurde soeben Zeugnis abgelegt für Geschehnisse, in denen Wunder aufschienen, von Gott gewirkt durch den hochherzigen Dienst vieler Männer und Frauen, die ihr Leben zu einem Geschenk der Liebe an die anderen machen, einem Geschenk, das nicht zurückgehalten wird, selbst dem gegenüber nicht, der es nicht annimmt. Diese unsere Brüder und Schwestern bezeugen durch ihr Beispiel, zusammen mit vielen anderen Freiwilligen in jedem Winkel der Erde, daß die Liebe zum Nächsten der Weg ist, um zu Gott zu gelangen und seine Anwesenheit auch in unserer so zerstreuten und gleichgültigen Welt erkennen zu lassen.

2. »Ich schaue Gottes Güte im Land der Lebendigen.«

Auf das Wort Gottes gestützt, hört die Kirche nicht auf, die Güte des Herrn zu verkünden. Wo Haß ist, verkündet sie die Liebe und die Vergebung; wo Krieg ist, die Versöhnung und den Frieden; wo Einsamkeit – Aufnahmebereitschaft und Solidarität. Sie setzt in allen Gegenden der Erde das Gebet Christi fort, das im heutigen Evangelium aufklingt: »Daß alle dich, den einzigen, wahren Gott erkennen, und Jesus Christus, den du gesandt hast« (vgl. Joh 17,3). Der Mensch hat es heute mehr denn je nötig, Gott zu erkennen, um ihm in vertrauensvoller Hingabe die Schwäche seiner verwundeten Natur anheimzugeben. Er empfindet, manchmal sogar unbewußt, das Bedürfnis, Beweise der göttlichen Liebe zu erfahren, die wieder zu neuem Leben aufblühen läßt.

Durch die verschiedenen Formen des Apostolats, die sie mit alten und neuen Arten geistiger und materieller Armut in Berührung bringen, ist jede kirchliche Gemeinschaft berufen, diese Begegnung mit dem »einzigen wahren Gott« und dem, den er gesandt hat, Jesus Christus, zu fördern. Es bewegt und drängt sie die Erkenntnis, daß »den anderen helfen« nicht einfach darin besteht, materielle Unterstützung und Hilfe anzubieten, sondern daß es vor allem heißt, den anderen durch das Zeugnis der eigenen Verfügbarkeit die Erfahrung der göttlichen Güte nahezubringen, die sich besonders nachhaltig in menschlicher Vermittlung durch geschwisterliche Nächstenliebe zeigt.

3. Ich freue mich, euch, liebe Brüder und Schwestern, heute an dem vom Päpstlichen Rat Cor Unum veranstalteten »Tag der Nächstenliebe« in großer Zahl zu empfangen. Sehr gern feiere ich die Eucharistie mit euch und für euch und denke dabei an alle »Zeugen der Nächstenliebe«, die sich in jedem Teil der Welt im Kampf gegen die leider noch zahlreichen offenkundigen und versteckten Formen von Ungerechtigkeit und Elend einsetzen. Ich denke hier an die unzählbaren Erscheinungsformen des Freiwilligendienstes, das sein Handeln am Evangelium inspiriert: an Ordensinstitute und Verbände christlicher Caritas, an Organisationen zu menschlicher Förderung und missionarischem Dienst, an Gruppen zivilen Einsatzes und Organisationen mit sozialer, erzieherischer und kultureller Tätigkeit. Eure Tätigkeiten umfassen jeden Bereich des menschlichen Daseins, und eure Hilfe gelangt zu zahllosen Menschen, die sich in Schwierigkeiten befinden. Jedem von euch spreche ich meine Hochschätzung und meine Ermutigung aus.

Mein Dank gilt Erzbischof Paul Josef Cordes und seinen Mitarbeitern des Päpstlichen Rates Cor Unum, die dieses Treffen angeregt haben. Es findet im Jahr der unmittelbaren Vorbereitung auf das Große Jubiläum des Jahres Zweitausend statt, im Jahr, das dem himmlischen Vater geweiht ist, der reich ist an Güte und Erbarmen. Ich danke allen, die ihr Zeugnis dargeboten haben, und allen, die an dieser so bedeutungsvollen Versammlung teilnehmen.

Ich möchte im übrigen jeden von euch ermutigen, diese edle Sendung fortzusetzen. Als Kinder der Kirche sieht sie euch dort am Werk, wo der Mensch leidet und in Entbehrungen lebt. Bringt allen, denen ihr begegnet, den Trost der christlichen Solidarität. Verkündet und bezeugt mit Entschiedenheit Christus, den Erlöser des Menschen. Er ist die Hoffnung, die den Weg der Menschheit erhellt. Das Zeugnis der Heiligen, insbesondere das des hl. Vinzenz von Paul, des Patrons aller karitativen Vereinigungen, sporne euch an und unterstütze euch.

4. Es ist tröstlich, festzustellen, wie in unserer Zeit die Hilfen des freiwilligen Dienstes sich vervielfachen. Sie bringen Menschen verschiedener Herkunft, Kultur und Religion in humanitären Unternehmungen zusammen. Im Herzen steigt spontan der Wunsch auf, dem Herrn für diese zunehmende Bewegung menschlicher Achtung, großherziger Menschenliebe und teilnehmender Solidarität zu danken. Der Christ ist berufen, zu dieser umfassenden humanitären Aktion seinen besonderen Beitrag zu leisten. Er weiß, daß in der Heiligen Schrift der Aufruf zur Nächstenliebe verbunden ist mit dem Gebot, Gott von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und aller Kraft zu lieben (vgl. Mk 12, 29–31).

Wie sollte man nicht diese göttliche Quelle des Dienstes an den Brüdern hervorheben? Ja, die Liebe zum Nächsten entspricht dem Gebot und dem Beispiel Christi nur dann, wenn sie sich mit der Liebe zu Gott verbindet. Jesus, der sein Leben für die Sünder hingibt, ist das lebendige Zeichen der Güte Gottes. In gleicher Weise läßt der Christ durch seine großherzige Hingabe die Brüder und Schwestern, mit denen er in Berührung kommt, die erbarmende und vorsorgliche Liebe des himmlischen Vaters erfahren.

Die höchste Offenbarung der göttlichen Liebe ist gewiß die Vergebung, die aus der Feindesliebe hervorgeht. In dieser Hinsicht sagt Jesus, daß es kein besonderes Verdienst ist, den zu lieben, der unser Freund ist und uns Gutes erweist (vgl. Mt 5, 46–47). Ein wirkliches Verdienst hat derjenige, der seinen Feind liebt. Aber wer hätte die Kraft, einen so erhabenen Gipfel zu erreichen, wenn er nicht von der Liebe Gottes gestützt würde? In diesem Augenblick zeichnen sich vor unseren Augen die edlen Gestalten heroischer Diener der Liebe ab, die in diesem unserem Jahrhundert in der Erfüllung des größten Gebotes Christi den Brüdern sterbend das Leben dargeboten haben. Wenn wir das annehmen, was sie uns lehren, sind wir zugleich aufgefordert, ihren Spuren zu folgen in dem Bewußtsein, daß der Christ seine Liebe zu Jesus in der Hingabe seiner selbst an den andern zum Ausdruck bringt. Denn das, was er für den Geringsten der Brüder tut, das tut er für seinen Herrn (vgl. Mt 25, 31–46).

5. »Sie alle verharrten einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu …« (Apg 1,14).

Das Bild des Freiwilligendienstes ist gewiß das des Guten Samariters, der sich unverzüglich über die Wunden des unbekannten Reisenden beugt, der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho von Räubern überfallen wurde (vgl. Lk 10,30–37). Neben diesem Bild, das wirt stets betrachten müssen, bietet uns die Liturgie des heutigen Sonntags noch ein anderes an: Im Abendmahlssaal verweilen die Apostel und Maria in gemeinsamem Gebet in der Erwartung, den Heiligen Geist zu empfangen.

Aktion setzt Kontemplation voraus: aus ihr entspringt sie, und von ihr nährt sie sich. Man kann nicht den Brüdern und Schwestern Liebe schenken, wenn man nicht zuvor aus der echten Quelle der göttlichen Liebe schöpft, und das geschieht nur in einem längeren Verweilen im Gebet, im Hören auf das Wort Gottes, in der Anbetung der Eucharistie, die Quelle und Gipfelpunkt des christlichen Lebens ist. Gebet und aktiver Einsatz bilden ein lebenswichtiges, untrennbares und fruchtbares Begriffspaar.

Liebe Brüder und Schwestern, mögen diese beiden »Ikonen der Liebe« jede eurer Tätigkeiten und euer ganzes Leben inspirieren. Maria, die »Jungfrau des Anhörens«, erlange vom Heiligen Geist für jeden die Gabe der Nächstenliebe. Sie mache alle zu Bildnern einer Kultur der Solidarität und Erbauern der Zivilisation der Liebe.
Amen.

 

 

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