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INTERNATIONALE THEOLOGISCHE KOMMISSION

 

GLAUBE UND INKULTURATION[1]

(1988)

 

Einleitung

1. Die Internationale Theologische Kommission hatte bereits mehrmals Gelegenheit, über die Beziehungen zwischen Glaube und Kultur nachzudenken[2]. 1984 hat sie in der Studie über das Geheimnis der Kirche, die sie im Hinblick auf die außerordentliche Synode von 1985 erstellt hat, direkt über die Inkulturation des Glaubens gesprochen[3]. Die Päpstliche Bibelkommission hat ihrerseits 1979 ihre Vollversammlung dem Thema „Die Inkulturation des Glaubens im Licht der Heiligen Schrift“ gewidmet[4].

2. Nun will die Internationale Theologische Kommission diese Untersuchung vertieft und systematischer durchführen, weil das Thema der Inkulturation des Glaubens in der ganzen christlichen Welt große Bedeutung erlangt hat und weil es vom Lehramt der Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil immer wieder mit Nachdruck aufgegriffen wurde.

3. Grundlage sind die Konzilsdokumente sowie die Texte der Synoden, die daran anknüpfen. So hat das Konzil in der Konstitution Gaudium et spes gezeigt, welche Lehren und Richtlinien die Kirche aus den ersten Erfahrungen der Inkulturation in der griechisch-römischen Welt gewonnen hat (GS 44). Weiterhin ist ein ganzes Kapitel dieses Dokumentes der Förderung des kulturellen Fortschritts gewidmet (De culturae progressu rite promovendo) (GS 53–62). Das Konzil beschreibt zunächst „Kultur“ als ein Streben nach mehr Menschlichkeit und nach einer besseren Gestaltung der Welt und befasst sich dann eingehend mit den Beziehungen zwischen Kultur und Heilsbotschaft. Darüber hinaus benennt es einige der dringlichsten Aufgaben der Christen im Bereich der Kultur: Anerkennung des Rechts aller auf die Wohltaten der Kultur, Erziehung zur menschlichen Gesamtkultur, rechtes Verhältnis der menschlichen und mitmenschlichen Kultur zur christlichen Bildung. Das Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche und die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen nehmen einige dieser Richtlinien wieder auf. Zwei ordentliche Synoden haben die Evangelisation der Kulturen ausführlich behandelt: jene von 1974 zum Thema der Evangelisation[5] und jene von 1976 über die katechetische Ausbildung[6]. Die Synode von 1985, die den 20. Jahrestag des Konzilsabschlusses feierte, spricht von der Inkulturation und nennt sie „eine innerste Umformung der authentischen Kulturwerte durch Einbindung in das Christentum sowie die Einwurzelung des Christentums in die verschiedenen menschlichen Kulturen.“[7]

4. Papst Johannes Paul II. hat seinerseits der Evangelisation der Kulturen besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Der Dialog zwischen der Kirche und den Kulturen ist in seinen Augen für die Zukunft der Kirche und der Welt von grundlegender Bedeutung. Um dieses große Vorhaben zu unterstützen, hat der Heilige Vater eigens ein Kurienorgan geschaffen: den Päpstlichen Rat für die Kultur[8]. Die Internationale Theologische Kommission freut sich, heute das Thema der Inkulturation des Glaubens gemeinsam mit diesem Dikasterium erörtern zu können.

5. In der Überzeugung, dass die Menschwerdung des Wortes „zugleich eine kulturelle Inkarnation“ war, bekräftigt der Papst, dass die Kulturen – analog zur Menschheit Christi – mit all ihren Errungenschaften eine positive Vermittlungsrolle bei der Verkündigung und Ausbreitung des christlichen Glaubens spielen können[9].

6. Zwei wesentliche Themen sind mit diesen Überlegungen verbunden: Vor allem transzendiert die Offenbarung alle Kulturen, in denen sie sich ausdrückt. Das Wort Gottes kann ja mit den Kulturelementen, die es tragen, weder identifiziert noch exklusiv an sie gebunden werden. Wo das Evangelium sich einwurzelt, fordert es oft sogar eine Bekehrung der Mentalitäten und eine Erneuerung der Gebräuche: Auch die Kulturen selbst müssen in Christus gereinigt und erneuert werden.

7. Das zweite Hauptthema der Lehre von Johannes Paul II. betrifft die Dringlichkeit der Evangelisierung der Kulturen. Diese Aufgabe setzt voraus, dass man die besonderen kulturellen Eigenheiten mit kritischem Wohlwollen versteht und durchdringt und dass man, besorgt um die Universalität, die der spezifisch menschlichen Wirklichkeit aller Kulturen entspricht, den Austausch unter ihnen fördert. Der Heilige Vater gründet so die Evangelisierung der Kulturen auf einer anthropologischen Konzeption, die seit den Kirchenvätern fest im christlichen Denken verwurzelt ist. Weil eine gesunde Kultur die Natur des Menschen offenbart und stärkt, fordert die christliche Durchdringung der Kultur die Überwindung jedes Historizismus und jedes Relativismus in der Auffassung des Menschlichen. Die Evangelisierung der Kulturen muss also inspiriert sein von der Liebe des Menschen an sich und um seiner selbst willen, insbesondere in denjenigen Aspekten seiner Existenz und seiner Kultur, die angegriffen oder bedroht sind.[10]

8. Im Licht dieser Lehre wie auch der Reflexion, die das Thema der Inkulturation des Glaubens in der Kirche hervorgerufen hat, werden wir zunächst eine christliche Anthropologie vorlegen, die die Natur, die Kultur und die Gnade in Beziehung zueinander setzt. Anschließend schauen wir auf den Prozess der Inkulturation, wie er in der Heilsgeschichte am Werk ist: das alte Israel, Leben und Werk Jesu, die Urkirche. Der letzte Teil behandelt Probleme, die sich dem Glauben gegenwärtig stellen aufgrund der Begegnung mit der Volksfrömmigkeit, den nicht-christlichen Religionen, der kulturellen Überlieferung in den jungen Kirchen, schließlich mit verschiedenen Merkmalen der Moderne.  

I. Natur, Kultur und Gnade

1. Wenn die Anthropologen die Kultur beschreiben oder definieren, greifen sie gern auf die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur zurück, die manchmal zum Gegensatz geworden ist. Die Bedeutung des Wortes Natur variiert allerdings je nach den verschiedenen Ansätzen in den empirischen Wissenschaften, in der Philosophie und in der Theologie. Das Lehramt versteht dieses Wort in einem klar umgrenzten Sinn: Die Natur ist das, was ein konkretes Sein als solches konstituiert, einschließlich der Dynamik seiner Hinneigungen zu seinen eigenen Zielbestimmungen. Von Gott empfangen die Naturen, was sie sind, sowie die ihnen eigenen Ziele. Daher sind sie erfüllt von einer Bedeutung, an der der Mensch als Ebenbild Gottes den „Schöpfungsratschluss Gottes“ abzulesen vermag.[11]

2. Die grundlegenden Ausrichtungen der menschlichen Natur, die im Naturrecht ausgedrückt sind, zeigen sich also als Kundgebung des Schöpferwillens. Dieses Naturrecht zeigt die spezifischen Erfordernisse der menschlichen Natur, die Gottes Ratschluss für sein vernunftbegabtes und freies Geschöpf bezeichnen. So wird jedes Missverständnis ausgeschlossen, das die Natur im univoken Sinne versteht und damit den Menschen auf die materielle Natur reduziert.

3. Gleichzeitig muss die menschliche Natur in ihrer konkreten Entfaltung in der Geschichte betrachtet werden: in dem, was der Mensch, ausgestattet mit einer fehlbaren Freiheit und oft den Leidenschaften unterworfen, aus seiner Menschennatur gemacht hat. Dieses den folgenden Generationen übergebene Erbe umfasst einerseits immense Schätze an Weisheit, Kunst und Hochherzigkeit, andererseits ein erhebliches Maß an Verirrungen und Perversionen. Die Aufmerksamkeit richtet sich also zugleich auf die menschliche Natur und auf die conditio humana, die bestimmte existentiellen Gegebenheiten einbezieht, von denen einige –Sünde und Gnade – die Heilsgeschichte betreffen. Wenn wir also das Wort „Kultur“ in einem vorrangig positiven Sinn verwenden – z.B. als Synonym für Entwicklung –, wie es das II. Vatikanum und die letzten Päpste getan haben, so vergessen wir nicht, dass die Kulturen auch die Optionen des Stolzes und des Egoismus aufrechterhalten und begünstigen können.

4. Die Kultur versteht sich in der Verlängerung der Erfordernisse der menschlichen Natur als Erfüllung von deren Zielbestimmungen, wie insbesondere die Konstitution Gaudium et spes lehrt. „In der Person des Menschen selbst liegt es begründet, dass sie nur durch Kultur, das heißt durch die entfaltende Pflege der Güter und Werte der Natur, zur wahren und vollen Verwirklichung des menschlichen Wesens gelangt. [...] Unter Kultur im Allgemeinen versteht man alles, wodurch der Mensch seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen ausbildet und entfaltet“. Zahlreich sind so die Felder der Kultur, „wodurch er sich die ganze Welt in Erkenntnis und Arbeit zu unterwerfen sucht; wodurch er das gesellschaftliche Leben in der Familie und in der ganzen bürgerlichen Gesellschaft im moralischen und institutionellen Fortschritt menschlicher gestaltet; wodurch er endlich seine großen geistigen Erfahrungen und Strebungen im Lauf der Zeit in seinen Werken vergegenständlicht, mitteilt und ihnen Dauer verleiht – zum Segen vieler, ja der ganzen Menschheit“ (GS 53).

5. Die erste Trägerin der Kultur ist die menschliche Person in allen Dimensionen ihrer Existenz. Der Mensch kultiviert sich – dies ist das erste Ziel der Kultur –, doch er tut dies durch Werke der Kultur und durch ein kulturelles Gedächtnis. So bezeichnet „Kultur“ die Umwelt, in der und durch die die Personen wachsen können.

6. Die menschliche Person ist ein Gemeinschaftswesen; sie blüht auf im Geben und Empfangen. In Solidarität mit den anderen und mittels lebendiger sozialer Beziehungen entfaltet sich die Person. Auch Wirklichkeiten wie Staat, Volk, Gesellschaft konstituieren mit ihrem kulturellen Erbe für die Entwicklung der Personen „eine abgegrenzte und geschichtliche Umwelt, in die er [der Mensch] eingefügt bleibt und von der her er die Werte zur Weiterentwicklung der menschlichen und gesellschaftlichen Kultur empfängt“ (GS 53).

7. Die Kultur, die immer eine konkrete und bestimmte Kultur ist, ist offen für die höheren, allen Menschen gemeinsamen Werte. Die Eigentümlichkeit einer Kultur bedeutet also nicht Rückzug auf sich selbst, sondern trägt bei zu einem Reichtum, der für alle Menschen ein Gut darstellt. Den kulturellen Pluralismus darf man nicht als Nebeneinander geschlossener Welten deuten, sondern als Teilnahme am Zusammenklang von Wirklichkeiten, die auf die universellen Werte der Menschheit ausgerichtet sind. Die Phänomene der gegenseitigen Durchdringung der Kulturen, wie sie in der Geschichte häufig zu beobachten sind, veranschaulichen diese grundlegende Offenheit der einzelnen Kulturen auf die allen Menschen gemeinsamen Werte hin, und damit ihre gegenseitige Offenheit.

8. Der Mensch ist von Natur aus ein religiöses Wesen. Die Ausrichtung auf das Absolute ist in der Tiefe seines Wesens eingeschrieben. Die Religion im weiten Sinne ist integraler Bestandteil der Kultur, in der sie verwurzelt ist und die sie aufbaut. Daher enthalten alle großen Kulturen als tragendes Element des Gebäudes, das sie darstellen, die religiöse Dimension als inspirierende Kraft der Großtaten, welche die Jahrtausende alte Geschichte der Zivilisationen geprägt haben.

9. An der Wurzel der großen Religionen findet sich die aufstrebende Bewegung des Menschen auf der Suche nach Gott. Gereinigt von ihren Verirrungen und Schwerfälligkeiten, verdient diese Bewegung aufrichtigen Respekt. In ihr soll die Gabe des christlichen Glaubens eingepfropft werden. Denn der christliche Glaube zeichnet sich dadurch aus, dass er freie Zustimmung zum Angebot der ungeschuldeten Liebe Gottes ist, der sich uns offenbart hat, der uns seinen einzigen Sohn geschenkt hat, um uns von der Sünde zu befreien, und der den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen hat. In dieser Gabe, zu der Gott sich selbst für die Menschheit gemacht hat, besteht die radikale christliche Eigentümlichkeit gegenüber allem Streben und Suchen, allem Gewinn und Erwerb der Natur.

10. Weil der christliche Glaube die gesamte Ordnung der Natur und der Kultur übersteigt, ist er also einerseits mit allen Kulturen vereinbar, insofern diese mit der rechten Vernunft und dem guten Willen übereinstimmen; andererseits ist er selbst in hervorragendem Masse ein belebender Kulturfaktor. Ein Prinzip erhellt die Gesamtheit der Beziehungen zwischen Glaube und Kultur: Die Gnade wahrt die Natur, heilt sie von den Verwundungen der Sünden, stärkt und erhebt sie. Die Erhebung zum göttlichen Leben ist das spezifische Ziel der Gnade, doch sie kann nicht verwirklicht werden, ohne dass die Natur geheilt wird und ohne dass die Erhebung zur übernatürlichen Ordnung die Natur in der ihr entsprechenden Weise zu Fülle der Vollkommenheit führt.

11. Der Prozess der Inkulturation kann definiert werden als das Bemühen der Kirche, die Botschaft Christi ein gegebenes sozio-kulturelles Milieu eindringen zu lassen, indem sie es dazu ruft, all seinen eigenen Werten gemäß zu wachsen, insofern diese mit dem Evangelium vereinbar sind. Der Begriff Inkulturation schließt die Idee des Wachstums, der wechselseitigen Bereicherung der Personen und Gruppen kraft der Begegnung des Evangeliums mit einem sozialen Milieu ein. Nach Johannes Paul II. findet sich in den großen Slavenaposteln „ein Beispiel für das, was man heute als ‚Inkulturation‘ bezeichnet – die Inkarnation des Evangeliums in den einheimischen Kulturen – wie auch die Eingliederung dieser Kulturen in das Leben der Kirche“[12]. 

II. Inkulturation und Heilsgeschichte

Israel, das Volk des Bundes – Jesus Christus, Herr und Retter der Welt – der Heilige Geist und die Kirche der Apostel

1. Betrachten wir die Beziehungen zwischen Natur, Kultur und Gnade in der konkreten Geschichte des Bundes Gottes mit der Menschheit. In dieser Geschichte, die mit einem bestimmten Volk beginnt, in einem Sohn dieses Volkes gipfelt, der zugleich Sohn Gottes ist, und die sich von ihm her auf alle Länder der Erde erstreckt, zeigt sich „der wunderbare Herabstieg der ewigen Weisheit zu uns“ (DV 13).

Israel, das Volk des Bundes

2. Israel verstand sich als unmittelbar von Gott gebildet. Auch das Alte Testament, die Bibel des alten Israel, bezeugt durchgängig die Offenbarung des lebendigen Gottes an die Glieder eines erwählten Volkes. In ihrer schriftlichen Form trägt diese Offenbarung auch Spuren der kulturellen und sozialen Erfahrungen des Jahrtausends, in dem dieses Volk und die umliegenden Zivilisationen sich in der Geschichte begegnet sind. Das alte Israel ging aus einer Welt hervor, die bereits große Kulturen hervorgebracht hatte, und es wuchs im Austausch mit ihnen.

3. Die ältesten Einrichtungen Israels (z.B. die Beschneidung, das Erstlingsopfer, die Sabbatruhe), sind nicht spezifisch für dieses Volk. Israel hat sie von den Nachbarvölkern übernommen. Ein grosser Teil der Kultur Israels hat einen ähnlichen Ursprung. Doch das Volk der Bibel hat seine Anleihen tiefen Veränderungen unterworfen, als es sie in seinen Glauben und in seine religiöse Praxis eingegliedert hat. Es hat sie am Maßstab des Glaubens an den personalen Gott Abrahams (den freien Schöpfer und weisen Lenker der Welt, in dem weder Sünde noch Tod ihren Ursprung haben) geprüft. Die im Bund gelebte Begegnung mit diesem Gott erlaubt, Mann und Frau als personale Wesen zu begreifen und folglich die unmenschlichen Verhaltensweisen in anderen Kulturen zu verwerfen.

4. Die biblischen Autoren haben sich der Kulturen ihrer Zeit bedient und sie zugleich transformiert, um anhand der Geschichte eines Volkes das Heilswirken zu erzählen, das Gott in Jesus Christus zum Höhepunkt führen sollte, und um die Völker aller Kulturen zu vereinen, die berufen sind, einen einzigen Leib zu bilden, dessen Haupt Christus ist.

5. Im Alten Testament wurden Kulturen eingeschmolzen und transformiert und so in den Dienst der Offenbarung des Gottes Abrahams gestellt, die im Bund gelebt und in der Schrift aufgezeichnet wurde. In kultureller und religiöser Hinsicht war dies eine einmalige Vorbereitung auf das Kommen Jesu Christi. Im Neuen Testament lädt der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der sich noch tiefer offenbart und in der Fülle des Geistes kundtut, alle Kulturen dazu ein, sich durch Leben, Lehre, Tod und Auferstehung Jesu Christi umgestalten zu lassen.

6. Wenn die Heidenvölker „Israel aufgepfropft“ (Röm 11,11–24) sind, dann bezieht sich der ursprüngliche Plan Gottes – so ist zu betonen – auf die ganze Schöpfung. Tatsächlich wurde durch Noah ein Bund mit allen Völkern der Erde geschlossen (Gen 1,1–2.4a), die bereit sind, in Gerechtigkeit zu leben (Gen 9,1–17; Sir 44,17–18). Dieser Bund geht den Bundesschlüssen mit Abraham und Mose voraus. Letztlich ist Israel seit Abraham berufen, den empfangenen Segen allen Menschheitsfamilien mitzuteilen (Gen 12,1–5; Jer 4,2; Sir 44,21).

7. Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass die verschiedenen Aspekte der Kultur Israels nicht alle die gleiche Beziehung zur göttlichen Offenbarung haben. Einige belegen den Widerstand gegen das Wort Gottes, während andere dessen Annahme ausdrücken. Unter letzteren ist Vorläufiges (z.B. rituelle und juridische Vorschriften) und dauerhaft Gültiges mit universaler Tragweite zu unterscheiden. Bestimmte Elemente „im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen“ (Lk 24,44; vgl. Lk 24,27) haben den präzisen Sinn, Vorgeschichte Jesu zu sein.

Jesus Christus, Herr und Retter der Welt

I. Die Transzendenz Jesu Christi im Hinblick auf jede Kultur

8. Eine Überzeugung prägt die Verkündigung Jesu: In ihm, Jesus, in seinem Wort und in seiner Person, überbietet und vollendet Gott die Gaben, die er Israel und allen Völkern bereits geschenkt hat (Mk 13,10; Mt 12,21; Lk 2,32). Jesus ist das höchste Licht und die wahre Weisheit für alle Völker und Kulturen (Mt 11,19; Lk 7,35). Er zeigt in seinem eigenen Handeln, dass der von Israel bereits als Schöpfer und Herr erkannte Gott Abrahams (Ps 93,1–4; Jes 6,1) sich anschickt, über alle zu herrschen, die an das Evangelium glauben werden; mehr noch, in Jesus ist die Herrschaft Gottes schon angebrochen (Mk 1,15; Mt 12,28; Lk 11,20; 17,21).

9. Jesus scheut in seiner Lehre, besonders in seinen Gleichnissen, nicht davor zurück, eine ganze Reihe von Vorstellungen zu korrigieren oder gegebenenfalls zurückzuweisen, die seinen Zeitgenossen durch die Geschichte, die konkrete religiöse Praxis und die Kultur über Gottes Natur und Handeln eingeflösst worden waren (Mt 20,1–16; Lk 15,11–32; 18,9–14).

10. Die ganz innige Sohnesbeziehung Jesu zu Gott und der liebende Gehorsam, der ihn sein Leben und seinen Tod dem Vater darbringen lässt (Mk 14,36), machen deutlich, dass in ihm der ursprüngliche Plan Gottes mit der durch die Sünde verdorbenen Schöpfung wiederhergestellt ist (Mk 1,14–45; 10,1–9; Mt 5,21–48). Wir stehen vor einer neuen Schöpfung, dem neuen Adam (Röm 5,12–19; 1 Kor 15,20–22). So sind auch die Beziehungen zu Gott in verschiedener Hinsicht tief gewandelt (Mk 8,27–33; 1 Kor 1,18–25). Die Neuheit besteht darin, dass der Fluch, der den gekreuzigten Messias trifft, zum Segen für alle Völker wird (Gal 3,13; Dtn 21,22–23), und dass der Glaube an Jesus, den Retter, die Herrschaft des Gesetzes ablöst (Gal 3,12–14).

11. Tod und Auferstehung Jesu, durch die der Geist in die Herzen ausgegossen ist, haben gezeigt, dass rein menschliche Weisheit und Moral, ja selbst das Gesetz, das Gott Mose gegeben hat, ungenügend sind; all diese Einrichtungen können zwar die Erkenntnis des Guten, aber nicht die Kraft zur Erfüllung geben, die Erkenntnis der Sünde, aber nicht die Macht, sich davon zu loszusagen (Röm 7,16f.; 3,20; 7,7; 1 Tim 1,8).

II. Die Gegenwart Christi in der Kultur und in den Kulturen

a) Die Einzigartigkeit Christi, des universalen Herrn und Retters

12. Weil die Menschwerdung des Sohnes Gottes vollständig und konkret war, war sie eine kulturelle Menschwerdung: „Christus selbst band sich in der Menschwerdung an bestimmte soziale und kulturelle Bedingungen der Menschen, unter denen er lebte“ (AG 10).

13. Der Sohn Gottes wollte ein Jude aus Nazareth in Galiläa sein, aramäisch sprechen, frommen israelitischen Eltern untertan sein, sie zum Tempel in Jerusalem begleiten, wo sie ihn „mitten unter den Lehrern“ fanden: „Er hörte ihnen zu und stellte Fragen“ (Lk 2,46). Jesus wuchs inmitten der Sitten und Bräuche und der Institutionen im Palästina des ersten Jahrhunderts heran, er wurde in die Berufswelt seiner Epoche eingeführt und lernte die Lebenswelt der Fischer, Bauern und Händler seiner Umgebung kennen. Die Schauplätze und Landschaften, von denen sich die Vorstellungskraft des künftigen Rabbi nährt, entstammen einem bestimmten Land und einer bestimmten Zeit.

14. Genährt von der Frömmigkeit Israels, geprägt durch die Lehre des Gesetzes und der Propheten, denen seine ganz einzigartige Erfahrung Gottes als Vater eine unerhörte Tiefe zu geben vermochte, stellt Jesus sich in eine ganz bestimmte geistliche Tradition, in diejenige des jüdischen Prophetentums. Wie die einstigen Propheten ist er selbst der Mund Gottes und ruft zur Umkehr auf. Die Weise, wie dies geschieht, ist ebenfalls typisch: der Wortschatz, die literarischen Gattungen, die Stilmittel, alles erinnert an die Elija- und Elischa-Tradition: der Parallelismus membrorum, die Sprichwörter, die Paradoxa, die Mahnreden, die Seligpreisungen bis hin zu den Zeichenhandlungen.

15. Jesus ist so sehr mit dem Leben Israels verbunden, dass das Volk und die religiöse Tradition, in denen er seinen Ort hat, aufgrund dieser Tatsache etwas Einzigartiges in der Heilsgeschichte der Menschen darstellen; dieses auserwählte Volk und die von ihm hinterlassene religiöse Tradition sind für die Menschheit von bleibender Bedeutung.

16. Die Menschwerdung hat nichts Improvisiertes an sich. Das Wort Gottes tritt in eine Geschichte ein, die es vorbereitet, ankündigt und vorausdarstellt. In erster Linie lässt sich sagen, dass Christus im voraus eine Einheit mit dem Volk bildet, das Gott sich im Hinblick auf die künftige Sendung seines Sohnes gebildet hat. Alle von den Propheten verkündeten Worte bilden das Vorspiel für das Wort in Person, das der Sohn Gottes ist.

17. Die Geschichte des Bundes mit Abraham und, durch Mose, mit dem Volk Israel sowie die Bücher, die diese Geschichte erzählen und deuten – all das behält daher für die an Jesus Glaubenden die Rolle einer unentbehrlichen und unersetzbaren Pädagogik. Zudem wurde die Erwählung dieses Volkes, aus dem Jesus hervorging, niemals widerrufen. Jene, „die der Abstammung nach mit mir verbunden sind“, schreibt der heilige Paulus, „sind Israeliten; damit haben sie die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus, der über allem als Gott steht, er sei gepriesen in Ewigkeit. Amen“ (Röm 9,3–5). Der edle Ölbaum hat seine Vorrechte nicht zugunsten des wilden Ölbaums verloren, der ihm eingepfropft wurde (Röm 11,24).

b) Die Katholizität des Einmaligen

18. Wenn auch die Situation des menschgewordenen Wortes partikular ist – ebenso wie die Kultur, die es umgibt, formt und fortsetzt –, so ist es dennoch nicht zuerst diese Besonderheit, die der Sohn Gottes mit sich vereint hat. Indem er Mensch wurde, hat Gott gewissermaßen auch eine Rasse, ein Land und eine Zeit angenommen. „Da in ihm die menschliche Natur angenommen wurde, ohne dabei verschlungen zu werden, ist sie dadurch auch schon in uns zu einer erhabenen Würde erhöht worden. Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt“ (GS 22).

19. Die Transzendenz Christi sondert ihn daher nicht von der Menschheitsfamilie ab, sondern lässt ihn jedem Menschen gegenwärtig sein, jenseits jeder Partikularität. Er kann „von niemand und nirgendwo als fremd erachtet werden“ (AG 8). „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Christus erreicht uns also sowohl in der Einheit, die wir bilden, als auch in der Vielheit und Verschiedenheit der Individuen, worin sich unsere gemeinsame Natur verwirklicht.

20. Christus würde uns jedoch nicht in der Wahrheit unserer konkreten Menschheit erreichen, wenn er uns nicht in der Verschiedenheit und Komplementarität unserer Kulturen berührte. Tatsächlich sind es die Kulturen – Sprache, Geschichte, allgemeine Lebenshaltung, verschiedene Institutionen –, die uns, zum Guten oder zum Schlechten, im Leben empfangen, formen, begleiten und weiterführen. Wenn der ganze Kosmos auf geheimnisvolle Weise Ort der Gnade und der Sünde ist, wie sollten es dann nicht auch unsere Kulturen sein, sind sie doch Frucht und Keim der eigentlich menschlichen Tätigkeit?

21. Weiterhin ergänzen sich im Leib Christi die Kulturen gegenseitig in dem Masse, wie sie durch die Gnade und den Glauben belebt und erneuert werden. Sie lassen die vielfältige Fruchtbarkeit sichtbar werden, zu denen die Lehren und Kräfte des Evangeliums fähig sind, und sogar die Prinzipien der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und der Freiheit selbst, sofern sie vom Geist Christi durchdrungen sind.

22. Schließlich muss man ausdrücklich in Erinnerung rufen, dass sich die Kirche, die Braut des fleischgewordenen Wortes, nicht aus strategischem Interesse um das Los der verschiedenen Kulturen der Menschheit kümmert. Sie will diese Schätze der Wahrheit und Liebe, die Gott wie Samenkörner des Wortes (semina Verbi) in seine Schöpfung gelegt hat, von innen beleben, schützen, von Irrtum und Sünde befreien, womit wir sie verdorben haben. Das Wort Gottes kommt nicht in eine Schöpfung, die ihm fremd wäre. „Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen: Er ist vor aller Schöpfung, und in ihm hat alles Bestand“ (Kol 1,16–17).

Der Heilige Geist und die Kirche der Apostel

a) Von Jerusalem zu den Völkern: die charakteristischen Anfänge der Inkulturation des Glaubens

23. Am Pfingsttag leitet das Hereinbrechen des Heiligen Geistes die Beziehung zwischen dem christlichen Glauben und den Kulturen als ein Ereignis der Vollendung und der Fülle ein: Die Verheissung des Heils, die durch den auferstandenen Christus vollbracht ist, erfüllt das Herz der Gläubigen durch die Ausgiessung des Heiligen Geistes selbst. Die „grossen Taten Gottes“ werden fortan allen Menschen aller Sprachen und aller Kulturen „offenbar“ (Apg 2,11). Während die Menschheit im Zeichen der Zerstreuung von Babel lebt, wird ihr die Gabe des Heiligen Geistes als die transzendente und dennoch menschliche Gnade der Symphonie der Herzen angeboten. Die göttliche Gemeinschaft (koinonia; Apg 2,42) lässt eine neue Gemeinschaft unter den Menschen wiedererstehen, indem sie das Zeichen ihrer Spaltung durchdringt, ohne es zu zerstören: die Sprachen.

24. Der Heilige Geist errichtet keine Über-Kultur, sondern er ist das personale und vitale Prinzip, das die neue Gemeinschaft im Zusammenwirken mit ihren Gliedern beleben wird. Die Gabe des Heiligen Geistes gehört nicht zur Ordnung der Strukturen; die Kirche von Jerusalem, die er formt, ist vielmehr Gemeinschaft (koinonia) des Glaubens und der Liebe (agape), die sich in Vielfalt ohne Spaltung mitteilt, sie ist Leib Christi, dessen Glieder geeint sind ohne Einförmigkeit. Die erste Erprobung der Katholizität ergab sich, als kulturbedingte Differenzen (Spannungen zwischen Hellenisten und Juden) die Gemeinschaft bedrohten (Apg 6,1–2). Die Apostel unterdrücken die Verschiedenheiten nicht, sondern sollten eine wesentliche Funktion des kirchlichen Leibes herausbilden: die diakonia im Dienste der koinonia.

25. Damit die Frohe Botschaft den Völkern verkündet werde, ruft der Heilige Geist bei Petrus und in der Gemeinde von Jerusalem ein neues Unterscheidungsvermögen hervor (Apg 10 und 11): Der Glaube an Christus verlangt von den neuen Gläubigen nicht, dass sie ihre eigene Kultur aufgeben, um die Kultur des jüdischen Gesetzes anzunehmen; alle Völker sind berufen, in den Genuss der Verheißung zu kommen und am Erbe teilzuhaben, das dem Bundesvolk für sie anvertraut ist (Eph 2,14–15). Daher beschließt die Apostelversammlung, ihnen „keine weitere Last aufzuerlegen als diese notwendigen Dinge“ (Apg 15,28).

26. Doch wie das Geheimnis des Kreuzes für die Juden ein Ärgernis ist, so für die Heidenvölker eine Torheit. Hier prallt die Inkulturation des Glaubens auf die radikale Sünde, welche die Wahrheit einer Kultur, die nicht von Christus angenommen ist, „niederhält“ (Röm 1,18): den Götzendienst. Insofern der Mensch „der Herrlichkeit Gottes ermangelt“ (Röm 3,23), ist alles, was er „bearbeitet“, ein undurchsichtiges Bild seiner selbst. Das paulinische Kerygma geht somit von der Schöpfung und von der Berufung zum Bund aus, es deckt die sittlichen Verkehrungen der verblendeten Menschheit auf und verkündet das Heil im gekreuzigten und auferstandenen Christus.

27. Nach der Erprobung der Katholizität unter kulturell verschiedenen christlichen Gemeinschaften, nach den Widerständen der jüdischen Gesetzlichkeit und des Götzendienstes begibt sich der Glaube im Gnostizismus in die Abhängigkeit der Kultur. Das Phänomen taucht schon zur Zeit der letzten paulinischen und johanneischen Briefe auf; es wird den Großteil der Lehrstreitigkeiten der folgenden Jahrhunderte nähren. Hier lehnt der menschliche Verstand in seinem verwundeten Zustand die Torheit der Inkarnation des Sohnes Gottes ab und versucht sich das Geheimnis durch die Anpassung an die herrschende Kultur anzueignen. Der Glaube aber stützt sich „nicht auf Menschenweisheit […], sondern auf die Kraft Gottes“ (1 Kor 2,5ff.).

b) Die apostolische Tradition: Inkulturation des Glaubens und Heil der Kultur

28. In der „Endzeit“ (Hebr 1,2), die mit Pfingsten herbeigeführt wurde, tritt der auferstandene Christus, Alpha und Omega, in die Geschichte der Völker ein: Von da an ist der Sinn der Geschichte und damit auch der Kultur vom „Siegel“ (Offb 5,1–5) befreit, und der Heilige Geist offenbart ihn, indem er ihn vergegenwärtigt und allen mitteilt. Sakrament dieser Offenbarung und dieser Gemeinschaft ist die Kirche. Sie richtet jede Kultur, in die Christus aufgenommen wurde, neu aus und gibt ihr einen Platz auf der Achse der „kommenden Welt“, und sie stellt die durch den „Herrscher dieser Welt“ (Joh 12,31) zerbrochene Gemeinschaft wieder her. Die Kultur steht somit in eschatologischer Situation: Sie strebt nach ihrer Erfüllung in Christus, doch sie kann nicht gerettet werden, wenn sie sich nicht der Zurückweisung des Bösen anschließt.

29. Jede Orts- oder Teilkirche hat die Berufung, im Heiligen Geist Sakrament zu sein, das den gekreuzigten und auferstandenen Christus im Fleisch einer bestimmten Kultur offenbar macht:

a) Die Kultur einer Ortskirche – sei sie jung oder alt – nimmt an der Dynamik der Kulturen und an ihren Unbeständigkeiten teil. Auch wenn sie in eschatologischer Situation steht, bleibt sie Erprobungen und Versuchungen unterworfen (Offb 2 und 3).

b) Die „christliche Neuheit“ erzeugt in den Ortskirchen besondere, kulturell typisierte Ausdrucksformen (Weisen der Lehrformulierungen, liturgische Symbolik, Typen der Heiligkeit, kanonische Richtlinien usw.). Doch die Communio unter den Kirchen verlangt beständig, dass das kulturelle „Fleisch“ jeder Kirche sich nicht von der gegenseitigen Anerkennung im apostolischen Glauben und von der Solidarität in Liebe abschirmt.

c) Jede zu den Völkern gesandte Kirche bezeugt ihren Herrn nur dann, wenn sie sich, unter Berücksichtigung ihrer kulturellen Bindungen, ihm in der ersten Entäußerung seiner Menschwerdung und in der letzten Erniedrigung seines lebenspendenden Leidens angleicht. Die Inkulturation des Glaubens ist eine der Ausdrucksformen der apostolischen Tradition, deren dramatischen Charakter Paulus wiederholt betont (1 und 2 Kor passim).

30. Die apostolischen Schriften und die patristischen Zeugnisse beschränken ihre Sicht der Kultur nicht auf den Dienst der Evangelisierung, sondern beziehen sie in die Gesamtheit des Geheimnisses Christi ein. Für sie ist die Schöpfung der Abglanz der Herrlichkeit Gottes, der Mensch deren lebendiges Abbild, und in Christus ist seine Gottähnlichkeit gegeben. Die Kultur ist der Ort, wo Mensch und Welt gerufen sind, sich in der Herrlichkeit Gottes zu finden. Die Begegnung wird in dem Masse verfehlt oder verdunkelt, wie der Mensch Sünder ist. Im Inneren der gefangenen Schöpfung keimt bereits erfahrbar das „neue All“ (Offb 21,5): Die Kirche „seufzt und liegt in Geburtswehen“ (Röm 8,18–25). In ihr und durch sie können die Geschöpfe dieser Welt ihre Erlösung und Verwandlung leben.

III. Aktuelle Probleme der Inkulturation

Die Volksfrömmigkeit – Inkulturation des Glaubens und nichtchristliche Religionen – Die jungen Kirchen und ihre christliche Vergangenheit – Der christliche Glaube und die Moderne

1. Die Inkulturation des Glaubens, die wir in einem ersten Schritt vor allem aus philosophischer Sicht (Natur, Kultur und Gnade), dann aus kirchengeschichtlicher und dogmatischer Sicht (Inkulturation in der Heilsgeschichte) bedacht haben, stellt noch erhebliche Probleme für die theologische Reflexion und die pastorale Praxis. So beschäftigen uns nach wie vor die Fragen, die durch die Entdeckung neuer Welten im 16. Jahrhundert aufgekommen sind. Wie lassen sich die spontanen Äußerungen der Volksreligiosität mit dem Glauben in Einklang bringen? Welche Haltung sollen wir gegenüber den nichtchristlichen Religionen einnehmen, besonders denen gegenüber, die „im Zusammenhang mit dem Fortschreiten der Kultur“ (NA 2) stehen? Neue Fragen sind in unserer Zeit aufgekommen. Wie sollen die „jungen Kirchen“, die in unserem Jahrhundert entstanden, indem bereits bestehende christliche Gemeinschaften den Einheimischen übergeben wurden, sowohl mit ihrer christlichen Vergangenheit als auch mit der Kulturgeschichte ihrer jeweiligen Völker umgehen? Wie soll schliesslich das Evangelium die neue Welt, in die uns insbesondere die Industrialisierung und Verstädterung hineingeführt haben, beleben, reinigen und stärken? Diese vier Fragen drängen sich unseres Erachtens jedem auf, der über die gegenwärtigen Bedingungen der Inkulturation des Glaubens nachdenkt.

Die Volksfrömmigkeit

2. Im Allgemeinen versteht man unter Volksfrömmigkeit in den Ländern, die mit dem Evangelium in Berührung gekommen sind, die Verbindung von christlichem Glauben und christlicher Frömmigkeit einerseits mit der tiefen Kultur und mit den Ausdrucksformen der früheren Religion der Bevölkerung andererseits. Es handelt sich um die überaus zahlreichen Frömmigkeitsformen, mit denen Christen ihr religiöses Empfinden in einfacher Sprache Ausdruck verleihen, unter anderem durch Feste und Wallfahrten, durch Tanz und Gesang. Im Hinblick auf diese Frömmigkeit hat man von einer vitalen Synthese gesprochen, weil sie „Geist und Leib, Gemeinschaft und Institution, Person und Gemeinschaft, Glaube und Vaterland, Verstand und Gefühl“[13] zusammenführt. Die Qualität der Synthese hängt offenkundig von Alter und Tiefe der Evangelisierung ebenso ab wie von der Vereinbarkeit der religiösen und kulturellen Vorgeschichte mit dem christlichen Glauben.

3. Im Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi hat Paul VI. eine neue Wertschätzung der Volksfrömmigkeit bestätigt und unterstützt. „Lange Zeit als weniger rein und manchmal mit Unwillen betrachtet, werden diese Ausdrucksformen [der Suche nach Gott und des Glaubens] irgendwie überall neu entdeckt.“[14]

4. Ist die Volksfrömmigkeit aber „in der rechten Weise ausgerichtet, vor allem durch hinführende und begleitende Evangelisierung“, fährt Paul VI. fort, „dann birgt sie wertvolle Reichtümer in sich. In ihr kommt ein Hunger nach Gott zum Ausdruck, wie ihn nur die Einfachen und Armen kennen. Sie befähigt zu Grossmut und Opfer bis zum Heroismus, wenn es gilt, den Glauben zu bekunden. In ihr zeigt sich ein feines Gespür für tiefe Eigenschaften Gottes: seine Vaterschaft, seine Vorsehung, seine ständige, liebende Gegenwart. Sie führt zu inneren Haltungen, die man sonst kaum in diesem Masse findet: Geduld, ein Sinn für das Kreuz im täglichen Leben, Entsagung, Wohlwollen für andere, Ehrfurcht.“[15]

5. Zudem haben sich die Wurzeln der Volksfrömmigkeit in dieser langen Periode des Misskredits, von der Paul VI. sprach, deutlich als kräftig und tief erwiesen. Die Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit haben die vielen Voraussagen ihres Verschwindens, für welche die Moderne und die fortschreitende Säkularisierung zu bürgen schienen, überlebt. Sie haben die Anziehungskraft, die sie auf die Mengen ausübten, in vielen Regionen der Welt bewahrt und sogar gesteigert.

6. Wiederholt wurden die Grenzen der Volksfrömmigkeit angeprangert. Sie bestehen in einer gewissen Vereinfachung, der Quelle verschiedener Entstellungen der Religion, bis hin zu formen des Aberglaubens. Man bleibt auf der Ebene kultureller Äußerungen, ohne dass eine wahrhafte Glaubenszustimmung und der Ausdruck dieses Glaubens im Dienst am Nächsten verlangt würde. Bei schlechter Ausrichtung kann die Volksfrömmigkeit sogar zur Sektenbildung führen und so die wahre kirchliche Gemeinschaft gefährden. Auch besteht das Risiko, dass sie manipuliert wird, sei es von politischen Mächten, sei es von religiösen Strömungen, die dem christlichen Glauben fremd sind.

7. Das Bewusstsein dieser Gefahren lädt zu einer klugen Katechese ein, die von den Verdiensten einer authentischen Volksfrömmigkeit profitiert und zugleich zur Unterscheidung fähig ist. Ebenso ist eine lebendige und angemessene Liturgie berufen, eine wichtige Rolle bei der Integration eines ganz unverfälschten Glaubens und traditioneller Formen religiösen Lebens der Völker spielen. Zweifellos kann die Volksfrömmigkeit einen unersetzlichen Beitrag zu einer christlichen Kulturanthropologie leisten, die es erlauben wird, den manchmal tragischen Abstand zwischen dem Glauben der Christen und gewissen sozio-ökonomischen Institutionen ganz verschiedener Ausrichtung, die deren tägliches Leben prägen, zu verringern.

Inkulturation des Glaubens und nichtchristliche Religionen

I. Die nichtchristlichen Religionen

8. Seit ihren Ursprüngen ist die Kirche auf vielen Ebenen der Frage der Vielfalt der Religionen begegnet. Die Christen machen noch heute nur ein Drittel der Weltbevölkerung aus. Sie werden außerdem in einer Welt zu leben haben, die eine wachsende Sympathie für den religiösen Pluralismus unter Beweis stellt.

9. Angesichts des bedeutenden Platzes der Religion in der Kultur muss eine Lokal- oder Teilkirche, die in einem nichtchristlichen sozio-kulturellen Milieu eingewurzelt ist, sehr ernsthaft den religiösen Elementen dieser Umgebung Rechnung tragen. Diese Sorge sollte im übrigen ihr Maß an der Tiefe und der Vitalität dieser religiösen Gegebenheiten finden.

10. Wenn es gestattet ist, einen Kontinent als Beispiel anzuführen, so wollen wir von Asien sprechen, das die Geburt mehrerer großer religiöser Strömungen der Welt erlebt hat. Hinduismus, Buddhismus, Islam, Konfuzianismus, Taoismus und Schintoismus – alle diese religiösen Systeme, sicher in verschiedenen Teilen des Kontinents – sind tief in den Völkern verwurzelt und zeigen grosse Lebenskraft. Das persönliche Leben wie auch das soziale und gemeinschaftliche Handeln sind durch diese religiösen und geistlichen Traditionen entscheidend geprägt. So betrachten die Kirchen Asiens auch die Frage der nichtchristlichen Religionen als eine der wichtigsten und dringlichsten. Sie machen sie sogar zum Gegenstand der privilegierten Form der Beziehung, die der Dialog darstellt.

II. Der Dialog der Religionen

11. Der Dialog mit den andern Religionen ist fester Bestandteil des Lebens der Christen: durch Austausch, Studium und gemeinsame Arbeit trägt dieser Dialog zu einem besseren Verständnis der Religion des anderen und zum Wachstum in der Frömmigkeit bei.

12. Für den christlichen Glauben ist die Einheit aller in ihrem Ursprung und ihrer Bestimmung, d.h. in der Schöpfung und in der Gemeinschaft mit Gott in Jesus Christus, begleitet durch die universale Gegenwart und Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Die Kirche im Dialog hört und lernt. „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selbst für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet“ (NA 2).

13. Dieser Dialog hat etwas Neues, denn die Religionsgeschichte bezeugt, dass die Vielfalt der Religionen oft Diskriminierung und Eifersucht, Fanatismus und Gewaltherrschaft erzeugt hat. All dies hat der Religion den Vorwurf eingetragen, Quelle der Spaltung in der Menschheitsfamilie zu sein. Die Kirche als „universales Heilssakrament“, d.h. „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1), ist von Gott berufen, Dienerin und Werkzeug der Einheit in Jesus Christus für alle Menschen und alle Völker zu sein.

III. Die Transzendenz des Evangeliums in Bezug auf die Kultur 

14. Wir können allerdings nicht die Transzendenz des Evangeliums in Bezug auf alle menschlichen Kulturen vergessen, in denen der christliche Glaube berufen ist, sich all seinen virtuellen Kräften nach zu verwurzeln und zu entfalten. Bei allem gebotenen Respekt vor dem, was im kulturellen Erbe eines Volkes wahr und heilig ist, verlangt diese Haltung dennoch nicht, diesem kulturellen Erbe einen absoluten Charakter beizumessen. Niemand kann vergessen, dass das Evangelium von Anfang an „für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit“ (1 Kor 1,23) war. Die Inkulturation, die den Weg des Dialogs mit den Religionen aufnimmt, darf auf keinen Fall dem Synkretismus Vorschub leisten.

Die jungen Kirchen und ihre christliche Vergangenheit

15. Die Kirche setzt fort und aktualisiert das Geheimnis des Gottesknechtes, dem verheißen war, „Licht für die Völker“ zu sein, damit sein „Heil bis an das Ende der Erde reicht“ (Jes 49,6) und er „der Bund für das Volk“ (Jes 49,8) sei. Diese Prophetie erfüllt sich beim Letzen Abendmahl: Am Vorabend seines Leidens reicht Christus, umgeben von den Zwölf, seinen Leib und sein Blut den Seinen als Speise und Trank des Neuen Bundes und bezieht sie damit in seinen eigenen Leib ein. Die Kirche, das Volk des Neuen Bundes, wurde geboren. Sie wird an Pfingsten den Geist Christi empfangen, den Geist des seit den Ursprüngen geopferten Lammes (Offb 13,8), der bereits am Werk war, um den so tief in den menschlichen Wesen verwurzelten Wunsch zu erhören: die radikalste Vereinigung bei radikaler Achtung der Verschiedenheit.

16. In der Kraft der katholischen Communio, die alle Teilkirchen in einer gemeinsamen Geschichte eint, betrachten die jungen Kirchen die Vergangenheit jener Kirchen, aus denen sie hervorgegangen sind, als einen Teil ihrer eigenen Geschichte. Allerdings besteht der Hauptakt der Interpretation, der ihre geistliche Reife bescheinigt, in der Anerkennung, dass dieses Voraus ursprunghaft und nicht nur historisch zu verstehen ist. Das bedeutet, dass die jungen Kirchen im Glauben zusammen mit dem Evangelium, das ihnen von ihren älteren Schwesterkirchen verkündet worden ist, den „Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12,2) empfangen haben und die gesamte Überlieferung, in der der Glaube bezeugt ist, sowie auch die Fähigkeit, neue Formen zu entwickeln, in denen sich der eine und gemeinsame Glauben aussagen wird. Die jungen Kirchen sind gleich an Würde, leben aus demselben Geheimnis, sind authentische Schwesterkirchen und bringen so im Einklang mit ihren älteren Schwestern die Fülle des Geheimnisses Christi zum Ausdruck.

17. Als Volk des Neuen Bundes kann die Kirche, insofern sie das Paschamysterium vergegenwärtigt und ohne Unterlass die Wiederkunft Christi verkündet, die angebrochene Eschatologie der kulturellen Traditionen der Völker genannt werden, sicherlich unter der Bedingung, dass diese Traditionen sich der reinigenden Kraft von Tod und Auferstehung Jesus Christi unterworfen haben.

18. Wie der heilige Paulus auf dem Areopag in Athen, so unternimmt die junge Kirche eine neue und schöpferische Lektüre der Kultur der Vorfahren. Sobald eine solche Kultur sich Christus zuwendet, „wird die Hülle entfernt“ (2 Kor 3,16). In der „Inkubationszeit“ des Glaubens hatte diese Kirche Christus als „Exegeten und Exegese“ des Vaters im Heiligen Geist entdeckt[16]; sie betrachtet ihn im übrigen weiterhin als solchen. Jetzt entdeckt sie ihn als „Exegeten und Exegese“ des Menschen, der Ursprung und Ziel der Kultur ist. Dem unbekannten Gott, der sich am Kreuz offenbart, entspricht der unbekannte Mensch, den die junge Kirche als lebendiges Paschamysterium verkündet, das durch die Gnade in der alten Kultur begann.

19. In dem Heil, das sie gegenwärtig werden lässt, bemüht sich die junge Kirche, alle Spuren der Fürsorge Gottes für eine bestimmte Menschengruppe ausfindig zu machen, die Samenkörner des Wortes (semina Verbi). Was der Prolog des Hebräerbriefes von den Vätern und Propheten sagt, kann wieder aufgenommen werden und gilt auf eine bestimmte Weise analog für die ganze menschliche Kultur in der Beziehung zu Jesus Christus in dem, was in den Kulturen richtig und wahr ist und was sie an Weisheit in sich tragen.

Der christliche Glaube und die Moderne

20. Die technischen Umbrüche, die die industrielle, dann die städtische Revolution hervorgerufen haben, haben die Seele der Einwohner, die Begünstigte und oft auch Opfer dieser Veränderungen sind, tief betroffen. Daher ist den Gläubigen als dringende und schwierige Aufgabe auferlegt, die moderne Kultur in ihren charakte­ristischen Zügen wie auch in ihren Erwartungen und Bedürfnissen in Bezug auf das von Jesus Christus gebrachte Heil zu verstehen.

21. Die industrielle Revolution war zugleich eine kulturelle Revolution. Bislang gesicherte Werte wurden in Frage gestellt, so etwa der Sinn der persönlichen und gemeinschaftlichen Arbeit, die direkte Beziehung des Menschen zur Natur, die Zugehörigkeit zu einer unterstützenden Familie im Zusammenleben wie auch in der Arbeit, die Verwurzelung in örtlichen und religiösen Gemeinschaften menschlichen Zuschnitts, die Teilnahme an Traditionen, Riten, Zeremonien und Feiern, die den großen Momenten des Existenz einen Sinn geben. Die Industrialisierung, die zu einer ungeordneten Vermassung der Bevölkerung geführt hat, schädigt schwerwiegend ihre althergebrachten Werte, ohne Gemeinschaften zu stiften, die fähig wären, neue Kulturen aufzunehmen. Zu dem Zeitpunkt, in dem die mittellosesten Völker auf der Suche nach einem geeigneten Entwicklungsmodell sind, werden die Vorteile wie auch die Risiken und die menschlichen Kosten der Industrialisierung besser erkannt.

22. Große Fortschritte wurden in vielen Lebensbereichen erzielt: Ernährung, Gesundheit, Erziehung, Transport, Zugang zu Konsumgütern aller Art. Tiefe Beunruhigungen tauchen jedoch im kollektiven Unterbewusstsein auf. In etlichen Ländern ist die Idee des Fortschritts, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, der Ernüchterung gewichen. Die Rationalität in Sachen der Produktion und der Verwaltung arbeitet gegen die Vernunft, wenn sie das Wohl der Personen vergisst. Die Emanzipation aus der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft hat den Menschen in der anonymen Masse begraben. Die neuen Kommunikationsmittel lösen strukturell ebensoviel auf, wie sie vereinen können. Die Wissenschaft scheint durch ihre Früchte, die technischen Errungenschaften, zugleich als schöpferisch und mörderisch. Deshalb verzweifeln einige an der Moderne und sprechen von einer neuen Barbarei. Trotz so vieler Misserfolge und Fehler muss auf einen moralischen Aufschwung aller Nationen, der reichen wie der armen, gehofft werden. Wenn das Evangelium gepredigt und gehört wird, dann ist eine kulturelle und spirituelle Bekehrung möglich: Es ruft zur Solidarität, zur Sorge für das umfassende Wohl der Person, zur Förderung der Gerechtigkeit und des Friedens, zur Anbetung des Vaters, von dem alles Gute ausgeht.

23. Die Inkulturation des Evangeliums in den modernen Gesellschaften wird eine methodische Anstrengung zu konzertiertem Forschen und Handeln erfordern. Eine solche Anstrengung wird bei den Verantwortlichen der Evangelisierung folgendes voraussetzen: 1. eine Haltung der Aufnahmebereitschaft und der kritischen Unterscheidung; 2. das Vermögen, die geistlichen Erwartungen und die menschlichen Sehnsüchte der neuen Kulturen wahrzunehmen; 3. die Befähigung zur kulturellen Analyse im Hinblick auf eine wirksame Begegnung mit der modernen Welt.

24. Eine aufnahmebereite Haltung wird in der Tat von demjenigen verlangt, der die Welt von heute verstehen und evangelisieren will. Die Moderne ist begleitet von nicht zu leugnenden Fortschritten in vielen materiellen und kulturellen Bereichen: Wohlstand, menschliche Mobilität, Wissenschaft, Forschung, Erziehung, ein neuer Sinn für Solidarität. Zudem hat die Kirche des II. Vatikanums ein lebendiges Bewusstsein für die neuen Bedingungen entwickelt, in denen sie ihre Sendung ausüben muss. In den Kulturen der Moderne wird die Kirche von morgen aufgebaut. Bezüglich der Unterscheidung lässt sich die traditionelle Weisung anwenden, die Pius XII. wieder aufnahm: Man muss „die Zivilisation der verschiedenen Völker und ihre Institutionen besser und angemessener würdigen und ihre Qualitäten und Gaben pflegen und weiterentwickeln. Alles was in den Sitten und Gebräuchen der Völker nicht unlösbar mit Aberglauben und Irrtümern verknüpft ist, wird immer eine wohlwollende Prüfung finden und möglichst gewahrt und gefördert werden“[17].

25. Das Evangelium löst grundlegende Fragen bei jedem aus, der sich Gedanken macht über das Verhalten des modernen Menschen. Wie lässt sich diesem Menschen die Radikalität der Botschaft Christi verständlich machen: die unbedingte Liebe, die evangelische Armut, die Anbetung des Vaters und die beharrliche Zustimmung zu seinem Willen? Wie zum christlichen Sinn des Leidens und des Todes erziehen? Wie den Glaube und die Hoffnung auf das Werk der Auferstehung wecken, die durch Jesus Christus vollendet ist?

26. Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, die Kulturen zu analysieren und ihre moralischen und geistigen Wirkungen wahrzunehmen. Die ganze Kirche muss in Bewegung gebracht werden, damit diese außerordentlich komplexe Aufgabe der Inkulturation des Evangeliums in der modernen Welt erfolgreich angegangen wird. Wir müssen uns die Sorge von Johannes Paul II. zu eigen machen: „Seit Beginn meines Pontifikats habe ich den Dialog der Kirche mit den Kulturen unserer Zeit für einen lebenswichtigen Bereich gehalten, mit dem das Schicksal der Welt an diesem Ende des 20. Jahrhunderts auf dem Spiel steht.“[18]

Schluss

1. Nachdem Paul VI. ausgeführt hat, wie wichtig es sei, „zu erreichen, dass durch die Kraft des Evangeliums die Urteilskriterien, die bestimmenden Werte, die Interessentenpunkte, die Denkgewohnheiten, die Quellen der Inspiration und die Lebensmodelle der Menschheit, die zum Wort Gottes und zum Heilsplan im Gegensatz stehen, umgewandelt werden“, forderte er: „Es gilt – und zwar nicht nur dekorativ wie durch einen oberflächlichen Anstrich, sondern mit vitaler Kraft in der Tiefe und bis zu ihren Wurzeln – die Kultur und die Kulturen des Menschen im vollen und umfassenden Sinn, den diese Begriffe in Gaudium et spes haben, zu evangelisieren […] Das Reich, das das Evangelium verkündet, wird von Menschen gelebt, die zutiefst an eine Kultur gebunden sind, und die Errichtung des Gottesreiches kann nicht darauf verzichten, sich gewisser Elemente der menschlichen Kultur und Kulturen zu bedienen.“[19]

2. Johannes Paul II. seinerseits bekräftigt: „An diesem Ende des 20. Jahrhunderts muss die Kirche allen alles werden und mit Wohlwollen die Kulturen von heute zu erreichen suchen. Noch immer gibt es Umfelder und Mentalitäten wie auch ganze Länder und Regionen zu evangelisieren, was einen langen und mutigen Inkulturationsprozess voraussetzt, damit das Evangelium die Seele der lebenden Kulturen durchdringt, indem es auf ihre höchsten Erwartungen antwortet und sie zum Vollmaß der christlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen lässt [...] Bisweilen sind die Kulturen nur oberflächlich berührt worden, und da sie sich ohne Unterlass wandeln, bedürfen sie in jedem Falle eines neuen Zugangs [...] Darüber hinaus treten neue Sektoren der Kultur auf mit verschiedenen Zielen, Methoden und Sprachen.“[20]



[1] Die Internationale Theologische Kommission hat das folgende Dokument über Glaube und Inkulturation in ihrer Vollversammlung im Dezember 1987 vorbereitet und in ihrer Sitzung im Oktober 1988 approbiert. Darauf wurde es mit dem placet von Kardinal Ratzinger, dem Präsidenten der Kommission, veröffentlicht.

[2] Vgl. dazu die Dokumente der Internationalen Theologischen Kommission, Die Einheit des Glaubens und der theologische Pluralismus; Über das Verhältnis zwischen menschlichem Wohl und christlichem Heil; Die katholische Lehre über das Sakrament der Ehe; Ausgewählte Fragen zur Christologie.

[3] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Ausgewählte Themen der Ekklesiologie anlässlich des 20. Jahrestages des Abschlusses des II. Vatikanischen Konzils.

[4] Päpstliche Bibelkommission, Fede e cultura alla luce della Bibbia (= Glaube und Kultur im Licht der Heiligen Schrift) Torino 1981.

[5] Vgl. Paul VI., Evangelii nuntiandi 18–20.

[6] Vgl. Johannes Paul II., Catechesi tradendae 53.

[7] Zweite außerordentlichen Bischofssynode, Schlussdokument II, D 4 (10. Dezember 1985), in: OR dt. 1 (3. Januar 1986) 12–14, hier 14; VApS 68, 19; HK 40 (1986).

[8] Vgl. Johannes Paul II., Begegnung der Heilsbotschaft mit der Vielzahl der Kulturen, Schreiben des Papstes an Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli zur Gründung des Päpstlichen Rates für Kultur (20. Mai 1982), in: OR dt. 28 (9. Juli 1982) 8–9; AAS 74 (1982) 683–688.

[9] Vgl. Johannes Paul II., Rede an der Universität von Coimbra (15. Mai 1982), in: VApS 38, 94–102, hier 99; Rede zu den Bischöfen von Kenia (7. Mai 1980), in: VApS 18, 87–93, hier 91.

[10] Vgl. Johannes Paul II., Vom Reichtum, der sich in jeder Kultur findet, Ansprache an die Mitglieder des päpstlichen Rates für die Kultur (18. Januar 1983), in: Der Apostolische Stuhl (1983) 727–734.

[11] Paul VI., Humanae vitae 10.

[12] Johannes Paul II., Slavorum apostoli 21.

[13] Dritte Konferenz der Bischöfe Lateinamerikas, Die Evangelisation Lateinamerikas in der Gegenwart und in der Zukunft, Nr. 448, in: Stimmen der Weltkirche, Die Kirche Lateinamerikas, Dokumente der II. und III. Generalsversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellin  und Puebla (6. September 1968 / 13. Februar 1979), 225.

[14] Paul VI., Evangelii nuntiandi 48.

[15] Paul VI., Evangelii nuntiandi  48.

[16] Vgl. Henri de Lubac, Exégèse médiévale, vol. 1, Paris 1959, 322–324.

[17] Pius XII., Summi pontificatus, zitiert nach: Papst Pius XII., Gerechtigkeit schafft Frieden, Reden und Enzykliken des Heiligen Vaters, hg. von Wilhelm Jüssen, Hamburg 1946, 131–176, hier 150.

[18] Vgl. Johannes Paul II., Begegnung der Heilsbotschaft mit der Vielzahl der Kulturen, Schreiben des Papstes an Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli zur Gründung des Päpstlichen Rates für Kultur (20. Mai 1982), in: OR dt. 28 (9. Juli 1982) 8–9.

[19] Paul VI., Evangelii nuntiandi  19–20.

[20] Johannes Paul II., Vom Reichtum, der sich in jeder Kultur findet, Ansprache an die Mitglieder des päpstlichen Rates für die Kultur (18. Januar 1983), in: Der Apostolische Stuhl (1983) 727–734, hier 728–729; OR dt. 9 (4. März 1983) 4f., hier 4.

 

  

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