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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS NACH KANADA
(24. - 30. JULI 2022)

TEILNAHME AN DER “LAC-STE.-ANNE-WALLFAHRT”
 UND WORTLITURGIE

PREDIGT VON PAPST FRANZISKUS

"Lac Ste. Anne"
Dienstag, 26. Juli 2022

[Multimedia]

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Liebe Brüder und Schwestern, âba-wash-did! Tansi! Oki!  [Guten Tag].

Es ist schön für mich, hier zu sein, als Pilger mit euch und in eurer Mitte. In diesen Tagen, und vor allem heute, war ich beeindruckt vom Klang der Trommeln, die mich überallhin begleiteten, wo ich hinging. Dieser Trommelschlag schien mir das Echo vieler Herzen zu sein: die Herzen, die im Laufe der Jahrhunderte an diesen Gewässern pulsiert haben; die Herzen so vieler Pilger, die sich zusammengetan haben, um diesen „See Gottes“ zu erreichen! Hier kann man wirklich den gemeinsamen Herzschlag eines Pilgervolkes wahrnehmen, von Generationen, die sich auf den Weg zum Herrn gemacht haben, um sein heilendes Wirken zu erfahren. Wie viele Menschenherzen sind hierhergekommen, sehnsüchtig und außer Atem, von der Last des Lebens niedergedrückt, und haben an diesem Wasser Trost und Kraft gefunden, um weiterzugehen! Auch hier, inmitten der Schöpfung, können wir einen anderen Schlag hören, den mütterlichen Herzschlag der Erde. Und so wie der Herzschlag der Kinder vom Mutterleib an mit dem ihrer Mütter harmoniert, müssen wir, um als Menschen zu wachsen, die Rhythmen des Lebens mit denen der Schöpfung, die uns das Leben schenkt, in Einklang bringen. So kehren wir heute zu den Quellen unseres Lebens zurück: zu Gott, zu den Eltern und am Tag und im Haus der heiligen Anna zu den Großeltern, die ich sehr herzlich grüße.

Getragen von diesen lebenswichtigen Herzschlägen sind wir nun hier, in der Stille, und betrachten das Wasser dieses Sees. Es hilft uns, auch zu den Quellen des Glaubens zurückzukehren. Es ermöglicht uns, in Gedanken zu den heiligen Stätten zu pilgern: Wir können uns Jesus vorstellen, der einen großen Teil seines Wirkens gerade an den Ufern eines Sees, dem See Gennesaret, ausgeübt hat. Dort wählte und berief er die Apostel, verkündete die Seligpreisungen, erzählte die meisten Gleichnisse, tat Zeichen und Heilungen. Dieser See bildete das Zentrum des „heidnischen Galiläas“ (Mt 4,15), ein peripheres Handelsgebiet, in dem verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammenflossen und die Region mit unterschiedlichen Traditionen und Kultformen gestalteten. Es war der geografisch und kulturell am weitesten von der religiösen Reinheit entfernte Ort, die sich in Jerusalem im Tempel bündelte. Wir können uns also jenen See, der Galiläisches Meer genannt wurde, als ein Kondensat von Unterschiedlichkeiten vorstellen: An seinen Ufern trafen Fischer und Zöllner aufeinander, Zenturien und Sklaven, Pharisäer und Arme, Männer und Frauen unterschiedlichster Herkunft und sozialer Schichten. Dort, genau dort, hat Jesus das Reich Gottes gepredigt: nicht ausgewählten religiösen Menschen, sondern verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die so wie heute von zahlreichen Gegenden herbeieilten; er hat alle willkommen geheißen und ihnen vor einer Naturbühne, so wie hier, gepredigt. Gott hat dieses vielseitige und heterogene Umfeld gewählt, um der Welt etwas Revolutionäres zu verkünden, so zum Beispiel: „Haltet die andere Wange hin, liebt die Feinde, lebt als Brüder und Schwestern, um Kinder Gottes zu sein, des Vaters, der die Sonne aufgehen lässt über Guten und Bösen und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte“ (vgl. Mt 5,38-48). So wurde gerade dieser See, „ein Schmelztiegel der Verschiedenheiten“, zum Schauplatz einer noch nie dagewesenen Verkündigung der Geschwisterlichkeit, einer Revolution ohne Tote und Verletzte, der Revolution der Liebe. Und hier, an den Ufern dieses Sees, versetzt uns der Klang der Trommeln, der die Jahrhunderte überdauert und die verschiedenen Völker vereint, bis in diese Zeit zurück. Er erinnert uns daran, dass die Geschwisterlichkeit echt ist, wenn sie diejenigen vereint, die weit voneinander entfernt sind, dass die Botschaft der Einheit, die der Himmel auf die Erde sendet, keine Angst vor Verschiedenheiten hat und uns zur Gemeinschaft einlädt, zur Gemeinschaft der Unterschiede, um gemeinsam wieder aufzubrechen, weil wir alle – alle! - Pilger auf dem Weg sind.

Brüder, Schwestern, Pilger zu diesen Gewässern, was können wir aus ihnen schöpfen? Das Wort Gottes hilft uns, es zu entdecken. Der Prophet Ezechiel wiederholt zweimal, dass die Wasser, die aus dem Tempel fließen, für das Volk Gottes „Leben spenden“ und „heilen“ (vgl. Ez 47,8-9).

Sie spenden Leben. Ich denke an die Großmütter, die hier unter uns sind, viele! Ihr Lieben, eure Herzen sind Quellen, aus denen das lebendige Wasser des Glaubens geflossen ist, mit dem ihr den Durst eurer Kinder und Enkelkinder gestillt habt. Ich bin beeindruckt von der lebenswichtigen Rolle der Frauen in den indigenen Gemeinschaften: Sie nehmen eine herausragende Stellung als gesegnete Quellen nicht nur des physischen, sondern auch des geistlichen Lebens ein. Und wenn ich an eure Kokum denke, denke ich auch an meine Großmutter. Von ihr habe ich die erste Verkündigung des Glaubens erhalten und gelernt, dass das Evangelium auf diese Weise weitergegeben wird, durch die Warmherzigkeit der Fürsorge und die Weisheit des Lebens. Der Glaube entsteht selten durch das einsame Lesen eines Buches im Wohnzimmer, sondern verbreitet sich in einer familiären Atmosphäre, er wird in der Sprache der Mütter mit dem sanften Gesang im Dialekt der Großmütter vermittelt. Es erwärmt mein Herz, so viele Großeltern und Urgroßeltern hier zu sehen. Danke! Ich danke euch und möchte denjenigen, die ältere Menschen zu Hause, in der Familie haben, sagen: Ihr habt einen Schatz! Ihr bewahrt innerhalb eurer Mauern eine Quelle des Lebens; bitte, sorgt euch um sie wie um das kostbarste Erbe, das geliebt und behütet werden muss.

Der Prophet sagte, dass die Wasser nicht nur Leben spenden, sondern auch heilen. Dies führt uns zurück an die Ufer des Sees Gennesaret, wo Jesus viele »heilte […], die an allen möglichen Krankheiten litten« (Mk 1,34). Dort geschah dies: »Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen« zu ihm (V. 32). Stellen wir uns heute Abend vor, wie wir mit Jesus am See sind, wie er sich nähert, sich herabneigt und mit Geduld, Mitgefühl und Sanftheit so viele Kranke an Körper und Geist heilt: die Besessenen, die Aussätzigen, die Gelähmten, die Blinden, aber auch Menschen, die gebrochen und entmutigt, verloren und verwundet sind. Jesus ist gekommen und kommt immer noch, um sich um uns zu sorgen, um unsere einsame und ermattete Menschheit zu trösten und zu heilen. An alle, auch an uns, richtet er dieselbe Einladung: »Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken« (Mt 11,28). Oder wie in dem Abschnitt, den wir heute Abend gehört haben: »Wer Durst hat, komme zu mir und […] trinke« (Joh 7,37).

Brüder und Schwestern, wir alle bedürfen der Heilung durch Jesus, den Arzt der Seele und des Leibes. Herr, so wie die Menschen am Ufer des Sees Gennesaret sich nicht scheuten, mit ihren Nöten zu dir zu rufen, so kommen wir heute Abend, o Herr, mit unserem inneren Schmerz zu dir. Wir bringen dir unsere Trockenheit und Mühsal, wir bringen dir die Traumata der Gewalt, die unsere indigenen Brüder und Schwestern erlitten haben. An diesem gesegneten Ort, an dem Einklang und Frieden herrschen, bringen wir dir den Missklang unserer Geschichte, die schrecklichen Auswirkungen der Kolonialisierung, den unauslöschlichen Schmerz so vieler Familien, Großeltern und Kinder. Herr, hilf uns, unsere Wunden zu heilen. Wir wissen, dass dies Engagement, Sorgfalt und Handeln von unserer Seite aus erfordert, aber wir wissen auch, o Herr, dass wir es nicht allein schaffen können. Wir vertrauen uns dir und der Fürbitte deiner Mutter und Großmutter an.

Ja, Herr, wir vertrauen uns der Fürsprache deiner Mutter und deiner Großmutter an, denn die Mütter und Großmütter helfen, die Wunden des Herzens zu heilen. Während der Tragödien der Eroberung war es Unsere Liebe Frau von Guadalupe, die den Indigenen den rechten Glauben vermittelte, indem sie ihre Sprache sprach und ihre Kleidung trug, ohne Gewalt anzuwenden oder ihnen etwas aufzuzwingen. Und kurz darauf wurden mit der Einführung des Buchdrucks die ersten Grammatiken und Katechismen in den indigenen Sprachen veröffentlicht. Wie gut haben es die authentisch evangelisierenden Missionare in dieser Hinsicht geschafft, die einheimischen Sprachen und Kulturen in so vielen Teilen der Welt zu erhalten! In Kanada hat diese „mütterliche Inkulturation“ durch das Wirken der heiligen Anna stattgefunden, die die Schönheit der einheimischen Traditionen und des Glaubens miteinander verband und sie mit der Weisheit einer Großmutter, die eine zweifache Mutter ist, formte. Auch die Kirche ist Frau, auch die Kirche ist Mutter. In der Tat hat es in ihrer Geschichte nie eine Zeit gegeben, in der der Glaube nicht in der Muttersprache, von Müttern und Großmüttern, weitergegeben wurde. Dagegen rührt ein Teil des schmerzlichen Erbes, mit dem wir konfrontiert sind, daher, dass die indigenen Großmütter daran gehindert wurden, den Glauben in ihrer eigenen Sprache und Kultur weiterzugeben. Dieser Verlust ist gewiss eine Tragödie, aber eure Anwesenheit hier ist ein Zeugnis der Resilienz und des Neuaufbruchs, der Pilgerschaft zur Heilung, der Öffnung unserer Herzen für Gott, der unser Sein in Gemeinschaft heilt. Jetzt bedürfen wir alle als Kirche der Heilung: wir bedürfen der Heilung von der Versuchung, uns in uns selbst zu verschließen, die Verteidigung der Institution anstatt die Suche nach der Wahrheit zu wählen, weltliche Macht dem Dienst am Evangelium vorzuziehen. Liebe Brüder und Schwestern, helfen wir einander unseren Beitrag zu leisten, um mit Gottes Hilfe eine mütterliche Kirche aufzubauen, so wie sie ihm wohlgefällig ist: fähig, jeden Sohn und jede Tochter zu umarmen; offen für alle und zu jedem und jeder sprechend; nicht gegen jemanden gehend, sondern jedem entgegenkommend.

Die Menschenmenge am See von Galiläa, die sich um Jesus drängte, bestand hauptsächlich aus einfachen Menschen, die ihre Nöte und Wunden zu ihm brachten. Wenn wir uns um das Leben in unseren Gemeinschaften kümmern wollen und es heilen wollen, können wir ebenfalls nur bei den Armen und den Ausgegrenzten anfangen. Zu oft lassen wir uns von den Interessen der Wenigen leiten, denen es gut geht; wir müssen mehr auf die Peripherie schauen und auf den Schrei der Geringsten hören; wir müssen es verstehen, auf den Schmerz derer zu hören, die in unseren überfüllten und entpersönlichten Städten oft in Stille schreien: „Lasst uns nicht allein!“ Das ist auch der Schrei der älteren Menschen, die Gefahr laufen, allein zu Hause zu sterben oder in einer Einrichtung zurückgelassen zu werden, oder der unbequemen kranken Menschen, denen statt Zuneigung Tod verabreicht wird. Es ist der unterdrückte Schrei junger Menschen, die mehr abgefragt als angehört werden, die ihre Freiheit an ein Mobiltelefon abgeben, während andere in ihrem Alter auf denselben Straßen verloren herumstreunen, betäubt von irgendeinem Vergnügen, in den Fängen von Süchten, die sie traurig und ungeduldig machen, unfähig, an sich selbst zu glauben, zu lieben, was sie sind, und die Schönheit des Lebens, das sie haben. Lasst uns nicht allein ist der Schrei derer, die eine bessere Welt wollen, aber nicht wissen, wo sie anfangen sollen.

Jesus, der uns mit dem lebendigen Wasser seines Geistes heilt und tröstet, bittet uns im heutigen Evangelium darum, dass auch aus uns, aus dem Schoß derer, die glauben, »Ströme von lebendigem Wasser fließen« (vgl. V. 38). Und wir, wissen wir, wie wir den Durst unserer Brüder und Schwestern stillen können? Während wir Gott weiterhin um Trost bitten, wissen wir auch, wie wir ihn anderen spenden können? Wir oft befreien wir uns von so vielen inneren Lasten, zum Beispiel davon, dass wir uns nicht geliebt und respektiert fühlen, gerade indem wir beginnen, andere ohne Gegenleistung zu lieben! In unserer Einsamkeit und Ungeduld fordert Jesus uns auf, hinauszugehen, er fordert uns auf, zu geben, er fordert uns auf, zu lieben. Und so frage ich mich: Was tue ich für diejenigen, die mich brauchen? Wenn ich auf die indigenen Bevölkerungen blicke, über ihre Geschichten und das Leid, das sie erlitten haben, nachdenke, was tue ich für sie, für die indigenen Bevölkerungen? Höre ich mit etwas weltlicher Neugierde zu und bin ich empört über das, was in der Vergangenheit geschehen ist, oder tue ich etwas Konkretes für sie? Bete ich, treffe ich mich, lese ich, dokumentiere ich mich, lasse ich mich von ihren Geschichten berühren? Und im Blick auf mich selbst: Wenn ich mich im Leid befinde, höre ich dann auf Jesus, der mich aus der Umzäunung meiner Ungeduld herausholen und mich einladen will, neu anzufangen, weiterzugehen, zu lieben? Manchmal findet sich eine schöne Art, einem anderen Menschen zu helfen, nicht darin, ihm sofort das zu geben, worum er bittet, sondern ihn zu begleiten und einzuladen, zu lieben und sich selbst zur Gabe zu machen. Denn so wird er durch das Gute, das er anderen zu tun vermag, die eigenen Ströme lebendigen Wassers entdecken, den einzigartigen und kostbaren Schatz, der er selbst ist.

Liebe indigene Brüder und Schwestern, ich bin als Pilger gekommen, um euch auch zu sagen, wie wertvoll ihr für mich und für die Kirche seid. Ich wünsche mir, dass die Kirche unter uns so verflochten sei, so eng verwoben und vereint wie die Fäden der bunten Bänder, die so viele von euch tragen. Möge der Herr uns helfen, im Heilungsprozess voranzukommen, hin zu einer immer heileren und erneuerten Zukunft. Ich glaube, das ist auch der Wunsch eurer Großmütter und Großväter, unserer Großväter und Großmütter. Mögen die Großeltern Jesu, die heiligen Joachim und Anna, unseren Weg segnen.



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