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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE NATIONALEN DIREKTOREN FÜR MIGRANTENPASTORAL, DIE AN DER KONFERENZ
DES RATS DER EUROPÄISCHEN BISCHOFSKONFERENZEN
(CCEE) TEILGENOMMEN HABEN

Clementina-Saal
Freitag, 22. September 2017

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Liebe Brüder und Schwestern!

Mit Freude empfange ich euch im Rahmen eurer Begegnung, und ich danke dem Kardinalpräsidenten für die Worte, die er im Namen aller an mich gerichtet hat. Ich möchte euch von ganzem Herzen danken für euren Einsatz in den vergangenen Jahren zugunsten vieler Brüder und Schwestern, die als Migranten und Flüchtlinge an die Tore Europas klopfen, auf der Suche nach einemsichereren Ort und einem menschenwürdigeren Leben. Angesichts der massiven, komplexen und vielgestaltigen Migrationsflüsse, die die bisherige Migrationspolitik und die durch internationale Abkommen sanktionierten Schutzmaßnahmen in eine Krise geführt haben, will die Kirche ihrer Sendung treu bleiben, »Jesus Christus zu lieben, ihn anzubeten und ihn zu lieben, besonders in den Ärmsten und den am meisten Vernachlässigten; zu ihnen gehören gewiss die Migranten und die Flüchtlinge« (Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings 2015; in O.R. dt., Nr. 44/11).

Die mütterliche Liebe der Kirche zu diesen unseren Brüdern und Schwestern muss in allen Phasen der Migrationserfahrung konkret zum Ausdruck kommen, von der Abreise bis zur Ankunft und zur Rückkehr, so dass alle örtlichen kirchlichen Wirklichkeiten, die an der Wegstrecke liegen, Protagonisten der einen Sendung sind, jede ihren eigenen Möglichkeiten entsprechend. Den Herrn in diesen Gliedern seines »pilgernden Volkes« zu erkennen und ihm zu dienen, ist eine Verantwortung, die alle Teilkirchen gemeinsam tragen, in einem ständigen, koordinierten und wirkkräftigen Einsatz.

Liebe Brüder und Schwestern, ich verheimliche euch nicht meine Sorge angesichts von Zeichen der Intoleranz, der Diskriminierung und der Fremdenfeindlichkeit, die in verschiedenen Regionen  Europas festzustellen sind. Sie sind oft motiviert von Misstrauen und Furcht gegenüber dem anderen, dem Fremden. Noch mehr Sorge bereitet mir die traurige Feststellung, dass unsere katholischen Gemeinschaften in Europa nicht frei sind von diesen Reaktionen der Verteidigung und der Ablehnung, gerechtfertigt von einer nicht näher erläuterten »moralischen Pflicht«, die ursprüngliche kulturelle und religiöse Identität zu wahren. Die Kirche hat sich auf allen Kontinenten verbreitet durch die »Migration« von Missionaren, die von der Universalität der Heilsbotschaft Jesu Christi, die für alle Männer und Frauen jeder Kultur bestimmt ist, überzeugt waren. In der Kirchengeschichte hat es nicht an Versuchungen gefehlt, Exklusivität herzustellen und sich kulturell zu verschanzen, aber der Heilige Geist hat stets dazu beigetragen, sie zu überwinden und eine ständige Offenheit gegenüber dem anderen zu gewährleisten, die als konkrete Möglichkeit zu Wachstum und Bereicherung betrachtet wird.

Der Heilige Geist – da bin ich mir sicher – hilft uns auch heute, eine Haltung vertrauensvoller Offenheit zu bewahren, die es gestattet, jede Grenze und jede Mauer zu überwinden. Indem ich den Teilkirchen in Europa beständig Gehör geschenkt habe, habe ich ein tiefes Unbehagen angesichts der massiven Ankunft von Migranten und Flüchtlingen wahrgenommen. Dieses Unbehagen muss im Licht eines historischen Augenblicks, der von der Wirtschaftskrise geprägt ist, die tiefe Wunden hinterlassen hat, betrachtet und verstanden werden. Dieses Unbehagen wurde außerdem durch das Ausmaß und die Zusammensetzung der Migrationsströme ebenso wie dadurch, dass die aufnehmenden Gesellschaften im Wesentlichen unvorbereitet waren, und durch die oft unzureichenden politischen Maßnahmen auf staatlicher und kommunaler Ebene noch verschlimmert. Das Unbehagen ist jedoch auch ein Indikator für die Grenzen des europäischen Einigungsprozesses, für die Hindernisse, denen man bei der konkreten Anwendung der Universalität der Menschenrechte gegenübersteht, für die Mauern, gegen die der ganzheitliche Humanismus stößt, der eine der schönsten Früchte der europäischen Zivilisation darstellt. Und für die Christen muss all das über den laizistischen Immanentismus hinaus in der Logik der Zentralität des Menschen, der von Gott einzigartig und unwiederholbar geschaffen wurde, ausgelegt werden.

Aus ekklesiologischer Perspektive heraus bietet die Ankunft so vieler Brüder und Schwestern im Glauben den Kirchen in Europa eine weitere Gelegenheit, die eigene Katholizität in ganzer Fülle zu verwirklichen. Sie ist ein grundlegendes Element der Kirche, das wir jeden Sonntag im Credo bekennen. Im Übrigen wurden in den letzten Jahren viele Teilkirchen in Europa von der Anwesenheit katholischer Migranten bereichert, die ihre Formen der Frömmigkeit und ihre liturgische und apostolische Begeisterung mitgebracht haben. Aus missiologischer Perspektive heraus stellen die gegenwärtigen Migrationsflüsse einen neuen missionarischen »Horizont« dar, eine hervorragende Gelegenheit, Jesus Christus und sein Evangelium zu verkündigen, ohne das eigene Umfeld zu verlassen, und den christlichen Glauben in Liebe und tiefer Achtung gegenüber den anderen religiösen Ausdrucksformen zu bezeugen. Die Begegnung mit Migranten und Flüchtlingen anderer Konfessionen und Religionen ist ein fruchtbarer Boden für die Entwicklung eines aufrichtigen und bereichernden ökumenischen und interreligiösen Dialogs.

In meiner Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings für das kommende Jahr habe ich die pastorale Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen der Migration hervorgehoben, die sich in vier Verben zum Ausdruck bringen lässt: aufnehmen, beschützen, fördern, integrieren. Das Verb »aufnehmen« wird dann zu weiteren Verben wie »breitere Möglichkeiten für eine sichere und legale Einreise anbieten«, »eine erste angemessene und anständige Unterbringung anbieten« und »allen die persönliche Sicherheit und den Zugang zu den Grunddienstleistungen gewährleisten«. Das Verb »beschützen« artikuliert sich im »Angebot von sicheren und bescheinigten Informationen vor der Abreise«, in der »Verteidigung der Grundrechte der Migranten und Flüchtlinge unabhängig von ihrem Migrationsstatus « sowie im »Wachen über die Schwächsten, also die minderjährigen Jungen und Mädchen«. Fördern bedeutet im Wesentlichen, die Bedingungen für die ganzheitliche menschliche Entwicklung aller, der Migranten und der Einheimischen, zu garantieren. Das Verb »integrieren« bedeutet, Räume zur interkulturellen Begegnung zu öffnen, die gegenseitige Bereicherung zu fördern und Wege aktiver Staatsbürgerschaft zu fördern.

In derselben Botschaft habe ich die Bedeutung des »Global Compact« hervorgehoben, den die Staaten sich verpflichtet haben, bis Ende 2018 zu verfassen und zu approbieren. Die Abteilung für Migranten und Flüchtlinge des Dikasteriums für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen hat 20 weitere Aktionspunkte vorbereitet, die die Ortskirchen in der eigenen Seelsorge benutzen, ergänzen und vertiefen sollen: Diese Punkte gründen auf den »guten Erfahrungen«, die die konkrete Antwort der Kirche auf die Not der Migranten und der Flüchtlinge charakterisieren. Dieselben Punkte sind auch nützlich für den Dialog, den die verschiedenen kirchlichen Einrichtungen mit den jeweiligen Regierungen im Hinblick auf den »Global Compact« führen können. Ich lade euch ein, liebe Direktoren, diese Punkte kennenzulernen und sie in euren Bischofskonferenzen zu fördern.

Dieselben Aktionspunkte bilden zusammen auch ein artikuliertes Paradigma der vier oben erwähnten Verben – ein Paradigma, das als Maßstab zur Untersuchung oder Überprüfung der bestehenden pastoralen Praxis in den Ortskirchen dienen kann, im Hinblick auf eine stets zweckmäßige und bereichernde Aktualisierung. Die Gemeinschaft in der Reflexion und im Handeln möge eure Kraft sein, denn wenn man allein ist, scheinen die Hindernisse viel größer zu sein. Eure Stimme möge immer rechtzeitig kommen und prophetisch sein. Und vor allem möge ihr ein konsequentes Handeln vorausgehen, das an den Grundsätzen der christlichen Lehre inspiriert ist. Während ich euch erneut für euren großen Einsatz im Bereich der Migrationspastoral danke, die ebenso schwierig wie von brennender Aktualität ist, versichere ich euch meines Gebets. Und vergesst auch ihr bitte nicht, für mich zu beten. Danke.

 



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