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BENEDIKT XVI.

GENERALAUDIENZ

Audienzhalle
Mittwoch, 8. September 2010

 

Hl. Hildegard von Bingen (2)

Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich die Gedanken über die hl. Hildegard von Bingen wieder aufnehmen und fortsetzen: eine bedeutende Frauengestalt des Mittelalters, die sich durch geistliche Weisheit und Heiligkeit des Lebens auszeichnete. Hildegards mystische Visionen ähneln denen der Propheten des Alten Testaments: Sie drückte sich in den kulturellen und religiösen Begriffen ihrer Zeit aus und interpretierte die Heilige Schrift im Licht Gottes, indem sie sie auf die verschiedenen Lebensumstände anwandte. Alle, die ihr zuhörten, fühlten sich aufgefordert, einen konsequenten und engagierten christlichen Lebensstil zu praktizieren. In einem Brief an den hl. Bernhard bekennt die rheinische Mystikerin: »Mein ganzes Sein ist in die Schau einbezogen: Ich schaue nicht mit den leiblichen Augen, sondern sie erscheint mir im Geist der Mysterien… Ich kenne die tiefe Bedeutung dessen, was im Psalter, in den Evangelien und in anderen Büchern dargelegt ist, die mir in der Schau gezeigt werden. Sie brennt wie eine Flamme in meiner Brust und in meiner Seele und lehrt mich, den Text in seiner ganzen Tiefe zu verstehen« (Epistolarium pars prima, I–XC: CCCM 91).

Hildegards mystische Visionen sind reich an theologischen Inhalten. Sie nehmen Bezug auf die wichtigsten Ereignisse der Heilsgeschichte und bedienen sich in erster Linie einer poetischen und symbolischen Sprache. In ihrem bekanntesten Werk, das den Titel Scivias trägt – das heißt »Wisse die Wege« –, faßt sie zum Beispiel in 35 Visionen die Ereignisse der Heilsgeschichte zusammen, von der Schöpfung der Welt bis zum Ende der Zeiten. Mit den für die weibliche Sensibilität charakteristischen Zügen entfaltet Hildegard im zentralen Abschnitt ihres Werkes das Thema der mystischen Vermählung zwischen Gott und der Menschheit, die in der Menschwerdung Wirklichkeit wurde. Am Baum des Kreuzes vollzieht sich die Vermählung des Sohnes Gottes mit der Kirche, seiner Braut, die voll der Gnade ist und befähigt wurde, Gott neue Kinder zu schenken, in der Liebe des Heiligen Geistes (vgl. Visio tertia: PL 197,453c).

Bereits aus diesen kurzen Hinweisen ist ersichtlich, daß auch die Theologie einen besonderen Beitrag von den Frauen erhalten kann, denn sie sind in der Lage, mit der ihnen eigenen Intelligenz und Sensibilität über Gott und die Glaubensgeheimnisse zu sprechen. Ich ermutige daher alle Frauen, die diesen Dienst ausüben, ihn mit zutiefst kirchlichem Bewußtsein durchzuführen, ihre Reflexion durch das Gebet zu nähren und den Blick auf den großen, teilweise noch unergründeten Reichtum der mystischen Überlieferung des Mittelalters zu richten, besonders auf den, der durch leuchtende Beispiele wie eben Hildegard von Bingen verkörpert wird. Die rheinische Mystikerin hat noch weitere Schriften verfaßt. Zwei von ihnen sind besonders wichtig, weil sie, wie Scivias, ihre mystischen Visionen wiedergeben: der Liber vitae meritorum (Buch der Lebensverdienste) und der Liber divinorum operum (Buch der göttlichen Werke), auch De operatione Dei genannt. Im ersten wird eine einzige gewaltige Vision Gottes beschrieben, der mit seiner Kraft und mit seinem Licht dem Kosmos Leben schenkt. Hildegard hebt die tiefe Beziehung zwischen dem Menschen und Gott hervor und erinnert uns daran, daß die ganze Schöpfung, deren Krone der Mensch ist, von der Dreifaltigkeit Leben empfängt. Im Mittelpunkt der Schrift steht die Beziehung zwischen Tugenden und Lastern: Der Mensch muß sich tagtäglich mit der Herausforderung durch die Laster, die ihn vom Weg zu Gott abbringen, und mit den Tugenden, die diesen Weg fördern, auseinandersetzen. Er ist aufgefordert, sich vom Bösen abzuwenden, um Gott zu verherrlichen und nach einer tugendhaften Existenz in das »ganz mit Freude erfüllte« Leben einzutreten. Im zweiten Werk, das von vielen als ihr Meisterwerk betrachtet wird, beschreibt sie noch einmal die Schöpfung in ihrer Beziehung zu Gott und die Zentralität des Menschen, wobei eine starke Christozentrik biblischer und patristischer Prägung zutage tritt. Die Heilige legt fünf vom Prolog des Johannesevangeliums inspirierte Visionen dar und gibt die Worte wieder, die der Sohn an den Vater richtet: »Das ganze Werk, das du gewollt und mir anvertraut hast, habe ich zu einem guten Ende geführt, und so bin ich in dir und du in mir, und wir sind eins« (Pars III, Visio X: PL 197,1025a).

In anderen Schriften schließlich offenbart Hildegard die vielseitigen Interessen und die kulturelle Lebendigkeit der Frauenklöster des Mittelalters, was im Gegensatz steht zu den Vorurteilen, die immer noch auf dieser Epoche lasten. Hildegard befaßte sich mit Medizin und Naturwissenschaften ebenso wie mit Musik, da sie künstlerisch begabt war. Sie komponierte auch Hymnen, Antiphonen und Gesänge, die unter dem Titel

Symphonia Harmoniae Caelestium Revelationum (Symphonie der Harmonie der himmlischen Offenbarungen) gesammelt sind. Sie wurden in ihren Klöstern mit Freude gesungen, wo sie eine Atmosphäre der Ruhe und des Frieden verströmten, und sind auch uns überliefert. Für Hildegard ist die ganze Schöpfung eine Symphonie des Heiligen Geistes, der in sich selbst Freude und Jubel ist.

Die Popularität, die Hildegard in ihrem Umfeld genoß, brachte viele Menschen dazu, sie um Rat zu fragen; daher sind viele ihrer Briefe überliefert. Gemeinschaften von Männer- und Frauenklöstern, Bischöfe und Äbte wandten sich an sie. Viele Antworten sind auch für uns weiterhin gültig. An eine weibliche Ordensgemeinschaft schrieb Hildegard zum Beispiel: »Das geistliche Leben muß mit viel Hingabe gepflegt werden. Am Anfang ist es mühsam und bitter. Man muß manch Äußerlichkeiten und fleischlichen Gelüsten und anderen ähnlichen Dingen entsagen. Aber wenn man sich von der Heiligkeit faszinieren läßt, dann wird eine heilige Seele die Abkehr von der Welt als süß und erfüllend empfinden. Man muß nur klug darauf achten, daß die Seele nicht verwelkt« (vgl. E. Gronau, Hildegard, Prophetische Lehrerin der Kirche an der Schwelle und am Ende der Neuzeit, Stein am Rhein 1999). Und als Kaiser Friedrich Barbarossa eine Kirchenspaltung hervorrief, indem er gegen den rechtmäßigen Papst Alexander III. gleich drei Gegenpäpste aufstellte, zögerte Hildegard nicht, ihn von ihren Visionen inspiriert daran zu erinnern, daß auch er, der Kaiser, dem Urteil Gottes unterworfen war. Mit der Kühnheit, die jeden Propheten auszeichnet, schrieb sie dem Kaiser von seiten Gottes folgende Worte: »Wehe, wehe der Niederträchtigkeit dieser Gottlosen, die mich beleidigen! Höre, geschwind, o König, wenn du leben willst! Sonst wird mein Schwert dich durchbohren!« (vgl. ebd.).

Mit der geistlichen Autorität, die ihr zu eigen war, machte sich Hildegard in ihren letzten Lebensjahren auf, um trotz ihres vorgerückten Alters und der Mühsal, die das Reisen bedeutete, zu den Menschen von Gott zu sprechen. Alle hörten ihr gerne zu, auch wenn sie einen strengen Ton anschlug: Sie wurde als eine von Gott gesandte Botin betrachtet. Sie ermahnte vor allem die Klostergemeinschaften und den Klerus zu einer Lebensführung, die ihrer Berufung entsprach. Insbesondere trat Hildegard der Bewegung der deutschen Katharer entgegen. Diese – Katharer heißt wörtlich die »Reinen« – traten für eine radikale Reform der Kirche ein, vor allem, um Mißbräuche durch den Klerus zu bekämpfen. Sie warf ihnen mit harten Worten vor, das Wesen der Kirche verändern zu wollen, und erinnerte sie daran, daß eine wahre Erneuerung der kirchlichen Gemeinschaft nicht so sehr durch die Veränderung von Strukturen erlangt wird, sondern vielmehr durch einen aufrichtigen Geist der Buße und einen tätigen Weg der Umkehr. Dies ist eine Botschaft, die wir nie vergessen sollten. Wir wollen stets den Heiligen Geist bitten, daß er in der Kirche heilige und mutige Frauen wie die hl. Hildegard von Bingen erwecke, die in der Wertschätzung und mit dem Einsatz der von Gott empfangenen Gaben ihren eigenen wertvollen Beitrag leisten zum geistlichen Wachstum unserer Gemeinden und der Kirche in unserer Zeit. 

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Von Herzen grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher, besonders die Delegation deutscher Richter und Staatsanwälte. Für die heilige Hildegard gibt es Wachstum nur, wenn alles aufeinander bezogen, wechselseitig verbunden und in Gott vereint ist. Auch unsere menschliche Gemeinschaft soll wachsen, sie soll die Harmonie der Schöpfung zum Ausdruck bringen, in einem gegenseitigen Geben und Begleiten. Der Heilige Geist schenke uns die innere Bereitschaft, als Brüder und Schwestern diese Welt zu gestalten. Gott segne euch alle!  



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