ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
AN DIE MITGLIEDER DER RÖMISCHEN ROTA
ZUR FEIERLICHEN ERÖFFNUNG DES GERICHTSJAHRES
Clementina-Saal
Samstag, 28. Januar 2006
Verehrte Richter, Offiziale und Mitarbeiter
des Apostolischen Gerichtshofs der Römischen Rota!
Fast ein Jahr ist vergangen seit dem letzten Treffen eures Gerichtshofs mit meinem geliebten Vorgänger Johannes Paul II., das den Abschluß einer langen Reihe von Begegnungen bildete. Von dem reichen Erbe, das er uns auch auf dem Gebiet des kanonischen Rechts hinterlassen hat, möchte ich heute die Aufmerksamkeit insbesondere auf die Instruktion Dignitas connubii lenken, die das Verfahren regelt, das bei Ehenichtigkeitsprozessen zu beachten ist. Mit ihr wollte man eine Art Vademecum erarbeiten, das die auf diesem Gebiet geltenden Normen nicht nur zusammenfaßt, sondern sie durch weitere Anordnungen bereichert, die für die rechte Anwendung der Normen notwendig waren. Der wichtigste Beitrag dieser Instruktion, die, wie ich wünsche, von den Mitarbeitern der kirchlichen Gerichtshöfe vollständig angewendet wird, besteht darin, aufzuzeigen, in welchem Maß und auf welche Weise in den Ehenichtigkeitsverfahren die Normen angewendet werden müssen, die in den Kanones bezüglich des ordentlichen Streitverfahrens enthalten sind, unter Beachtung der vorgeschriebenen besonderen Normen für Personenstandssachen und Sachen des öffentlichen Wohls.
Wie ihr sehr gut wißt, übersteigt die den Ehenichtigkeitsprozessen gewidmete Aufmerksamkeit immer mehr den Bereich der Spezialisten. Denn die kirchlichen Urteile auf diesem Gebiet wirken sich bei nicht wenigen Gläubigen auf die Möglichkeit aus, die eucharistische Kommunion empfangen zu können oder nicht. Gerade dieser vom Standpunkt des christlichen Lebens so entscheidende Aspekt erklärt, warum das Thema der Nichtigkeit der Ehe auch bei der jüngsten Bischofssynode über die Eucharistie wiederholt vorgebracht wurde. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß die in den Arbeiten der Synode zum Ausdruck gebrachte pastorale Sorge und der Geist der in Dignitas connubii gesammelten Rechtsnormen weit auseinandergehen, ja beinahe entgegengesetzt sind. Einerseits könnte es scheinen, als hätten die Synodenväter die kirchlichen Gerichtshöfe eingeladen, sich dafür einzusetzen, daß die nicht kanonisch getrauten Gläubigen so bald wie möglich ihre eheliche Situation regeln und wieder zum eucharistischen Mahl hinzutreten können. Anderseits hat es aber den Anschein, die kanonische Gesetzgebung und die jüngste Instruktion würden diesem pastoralen Antrieb Grenzen setzen, als sei es die Hauptsorge, die vorgesehenen juridischen Formalitäten zu erledigen, unter der Gefahr, die pastorale Zielsetzung des Verfahrens außer acht zu lassen. Hinter diesem Ansatz verbirgt sich eine behauptete Gegensätzlichkeit zwischen Recht und Pastoral im allgemeinen. Ich möchte jetzt nicht erneut die Frage vertiefen, die schon Johannes Paul II. wiederholt, vor allem in seiner Ansprache an die Römische Rota von 1990 (vgl. O.R. dt., Nr. 5, 2.2.1990, S. 9f.), behandelt hat. Bei dieser ersten Begegnung mit euch will ich mich vielmehr auf das konzentrieren, was den grundlegenden Berührungspunkt zwischen Recht und Pastoral darstellt: die Liebe zur Wahrheit. Mit dieser Aussage schließe ich mich in geistiger Weise auch dem an, was euch mein verehrter Vorgänger in der Ansprache vom vergangenen Jahr gesagt hat (vgl. O.R. dt., Nr. 8, 25.2.2005, S. 7).
Der kanonische Ehenichtigkeitsprozeß ist im wesentlichen ein Mittel, um die Wahrheit über das Eheband festzustellen. Sein konstitutives Ziel ist daher nicht, das Leben der Gläubigen unnötig zu verkomplizieren und ebensowenig ihre Streitlust anzufachen, sondern nur der Wahrheit zu dienen. Im übrigen ist das Institut des Prozesses im allgemeinen kein Mittel an sich, um irgendein Interesse zu verfolgen, sondern ein qualifiziertes Mittel, um der Verpflichtung zur Gerechtigkeit, jedem das Seine zu geben, nachzukommen. Der Prozeß ist gerade in seiner Wesensstruktur ein Institut der Gerechtigkeit und des Friedens. Denn das Ziel des Prozesses ist die Erklärung der Wahrheit seitens eines unparteiischen Dritten, nachdem den Parteien gleiche Gelegenheit gegeben worden war, innerhalb eines angemessenen Zeitraums der Erörterung Argumente und Beweise vorzubringen. Dieser Austausch der Ansichten ist normalerweise notwendig, damit der Richter die Wahrheit erkennen und folglich das Verfahren nach Gerechtigkeit entscheiden kann. Jedes prozessuale System muß also darauf abzielen, die Objektivität, die Rechtzeitigkeit und die Wirksamkeit der richterlichen Entscheidungen sicherzustellen.
Auch auf diesem Gebiet ist die Beziehung zwischen Glaube und Vernunft von grundlegender Bedeutung. Wenn der Prozeß der rechten Vernunft entspricht, kann die Tatsache nicht verwundern, daß die Kirche das prozessuale Verfahren anwendet, um innerkirchliche Fragen rechtlicher Natur zu lösen. So hat sich eine nunmehr jahrhundertlange Tradition gefestigt, die in den kirchlichen Gerichten der ganzen Welt bis heute beibehalten wird. Man sollte sich auch vor Augen halten, daß das kanonische Recht in der Zeit des mittelalterlichen klassischen Rechts ganz erheblich dazu beigetragen hat, die Gestaltung des prozessualen Verfahrens selbst zu vervollkommnen. Seine Anwendung in der Kirche betrifft vor allem die Fälle, in denen, wenn die Streitfrage verfügbar ist, die Parteien eine Einigung finden könnten, die den Streit beilegt, was aber aus verschiedenen Gründen nicht geschieht. Die Anwendung des Prozeßweges bei der Suche nach der Bestimmung dessen, was gerecht ist, zielt nicht darauf ab, die Konflikte zu verschärfen, sondern sie menschlicher zu machen, indem Lösungen gefunden werden, die den Erfordernissen der Gerechtigkeit objektiv angemessen sind. Natürlich genügt diese Lösung allein nicht, weil die Personen Liebe brauchen, aber wenn es unvermeidlich ist, ist sie ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung. Die Prozesse können sich dann auch um Sachverhalte drehen, die über die Verfügungsfähigkeit der Parteien hinausgehen, insofern sie die Rechte der ganzen kirchlichen Gemeinschaft betreffen. Gerade in diesen Bereich gehört der Prozeß, der die Nichtigkeit einer Ehe erklärt. Denn die Ehe ist in ihrer zweifachen natürlichen und sakramentalen Dimension kein Gut, über das die Eheleute verfügen könnten, und ebensowenig ist es möglich, in Anbetracht ihrer sozialen und öffentlichen Natur irgendeine Art von Selbsterklärung anzunehmen.
Hier ergibt sich von selbst die zweite Bemerkung. Kein Prozeß ist streng gegen die andere Partei gerichtet, als ginge es darum, ihr einen ungerechten Schaden zuzufügen. Das Ziel ist nicht, jemandem ein Gut zu nehmen, sondern die Zugehörigkeit der Güter zu den Personen und den Institutionen zu bestimmen und zu schützen. Zu dieser für jeden Prozeß gültigen Überlegung kommt im Fall der Ehenichtigkeit noch eine weitere spezifische Überlegung hinzu. Hier gibt es kein zwischen den Parteien strittiges Gut, das der einen oder anderen Partei zuzusprechen wäre. Gegenstand des Prozesses ist hingegen, die Wahrheit zu erklären im Bezug auf die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer konkreten Ehe, das heißt hinsichtlich einer Wirklichkeit, welche die Institution der Familie begründet und welche die Kirche und die zivile Gesellschaft im höchsten Maß betrifft. Deshalb kann man bekräftigen, daß in dieser Art von Prozessen die Adressatin des Antrags auf Erklärung die Kirche selbst ist. In Anbetracht der natürlichen Vermutung der Gültigkeit der formell geschlossenen Ehe bestellte mein Vorgänger Benedikt XIV., ein bedeutender Kanonist, den Bandverteidiger und machte dessen Beteiligung an besagten Prozessen zur Pflicht (vgl. Apostolische Konstitution Dei miseratione, 3. November 1741). Auf diese Weise wird die prozessuale Dialektik, die auf die Feststellung der Wahrheit ausgerichtet ist, in höherem Maße garantiert.
Das Kriterium der Suche nach der Wahrheit kann, ebenso wie es uns dazu anleitet, die Dialektik des Prozesses zu verstehen, auch dazu dienen, einen weiteren Aspekt der Frage zu erfassen: ihre pastorale Bedeutung, die von der Wahrheitsliebe nicht zu trennen ist. Denn es kann geschehen, daß die pastorale Liebe manchmal beeinträchtigt wird durch Haltungen, die den Menschen entgegenkommen wollen. Diese Haltungen scheinen pastoral zu sein, aber in Wirklichkeit entsprechen sie nicht dem Wohl der Personen und der kirchlichen Gemeinschaft; weil sie die Konfrontation mit der rettenden Wahrheit vermeiden, können sie sich geradezu als kontraproduktiv für die heilbringende Begegnung eines jeden mit Christus erweisen. Das Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe, das von Johannes Paul II. an dieser Stelle mit Nachdruck bekräftigt wurde (vgl. Ansprachen vom 21. Januar 2000, in O.R. dt., Nr. 7, 18.2.2000, S. 7f. und vom 28. Januar 2002, in O.R. dt., Nr. 8, 2.2.2002, S. 7f.), gehört zur Unversehrtheit des christlichen Mysteriums. Heute müssen wir leider feststellen, daß diese Wahrheit mitunter im Gewissen der Christen und der Menschen guten Willens verdunkelt ist. Gerade aus diesem Grund ist der Dienst trügerisch, den man den Gläubigen und den nichtchristlichen Eheleuten in Schwierigkeiten anbietet, wenn man in ihnen, vielleicht auch nur implizit, die Tendenz verstärkt, die Unauflöslichkeit der eigenen Ehe zu vergessen. So läuft gegebenenfalls das Eingreifen der kirchlichen Behörde in den Nichtigkeitsverfahren Gefahr, als reine Kenntnisnahme eines Scheiterns zu erscheinen.
Die in den Ehenichtigkeitsverfahren gesuchte Wahrheit ist jedoch keine abstrakte, vom Wohl der Personen losgelöste Wahrheit. Sie ist eine Wahrheit, die sich in den menschlichen und christlichen Weg jedes Gläubigen integriert. Es ist deshalb sehr wichtig, daß ihre Erklärung innerhalb eines vernünftigen Zeitraums erfolgt. Die göttliche Vorsehung weiß gewiß aus Bösem Gutes zu ziehen, auch wenn die kirchlichen Institutionen ihre Pflicht vernachlässigen oder Fehler begehen. Aber es ist eine dringende Pflicht, den Gläubigen das institutionelle Wirken der Kirche in den Gerichten immer näher zu bringen. Die pastorale Sensibilität muß dahin führen, daß man sich bemüht, den Ehenichtigkeiten schon bei der Zulassung zur Trauung vorzubeugen, und darauf hinwirkt, daß die Eheleute gegebenenfalls ihre Probleme lösen und den Weg der Versöhnung finden. Eben dieses pastorale Feingefühl muß angesichts der tatsächlichen Situation der Personen auch dazu führen, die Wahrheit zu verteidigen und die Normen anzuwenden, die vorgesehen sind, um sie im Prozeß zu schützen.
Ich hoffe, daß diese Überlegungen deutlich machen können, wie die Liebe zur Wahrheit die Institution des kanonischen Ehenichtigkeitsprozesses mit dem wahren pastoralen Sinn verbindet, der diese Prozesse erfüllen soll. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, erweisen sich die Instruktion Dignitas connubii und die Sorgen, die in der letzten Synode vorgebracht wurden, als völlig übereinstimmend. Meine Lieben, diese Harmonie herbeizuführen ist die schwierige und faszinierende Aufgabe, für deren diskrete Erfüllung die kirchliche Gemeinschaft euch sehr dankbar ist. Mit dem herzlichen Wunsch, daß eure richterliche Tätigkeit zum Wohl all derer beitrage, die sich an euch wenden, und ihnen helfe in der persönlichen Begegnung mit der Wahrheit, die Christus ist, segne ich euch voll Dankbarkeit und Zuneigung.
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