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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS NACH KANADA
(24. - 30. JULI 2022)

HEILIGE MESSE

PREDIGT VON PAPST FRANZISKUS

Nationalheiligtum "Sainte Anne de Beaupré"
Donnerstag, 28. Juli 2022

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Der Weg der Emmausjünger am Ende des Lukasevangeliums ist ein Bild für unseren persönlichen Weg und den der Kirche. Auf dem Weg des Lebens und des Glaubens, wenn wir Träume, Pläne, Erwartungen und Hoffnungen unseres Herzens verwirklichen, stoßen wir auch auf unsere Schwächen und unsere Gebrechlichkeit, erleben Niederlagen und Enttäuschungen und bleiben manchmal wie gelähmt, gefangen in einem Gefühl, versagt zu haben. Das Evangelium verkündet uns, dass wir gerade in diesem Augenblick nicht allein sind: Der Herr kommt uns entgegen, begleitet uns, geht denselben Weg wie wir mit der Diskretion eines freundlichen Weggefährten, der uns die Augen öffnen und unser Herz wieder zum Brennen bringen will. Und wenn die Erfahrung des Scheiterns Raum für eine Begegnung mit dem Herrn gibt, dann ersteht das Leben wieder neu auf die Hoffnung hin, und wir können uns versöhnen: mit uns selbst, mit unseren Brüdern und Schwestern, mit Gott.

Gehen wir also dem Verlauf dieser Reise nach, die wir vom Scheitern zur Hoffnung nennen könnten.

Da ist zunächst das Gefühl des Scheiterns, das in den Herzen der beiden Jünger nach dem Tod Jesu wohnt. Sie hatten mit Begeisterung einen Traum verfolgt. In Jesus hatten sie all ihre Hoffnungen und Wünsche gesetzt. Jetzt, nach dem Ärgernis des Todes am Kreuz, kehren sie Jerusalem den Rücken, um nach Hause, in ihr altes Leben zurückzukehren. Sie kehren zurück, als wollten sie die Erfahrung vergessen, die ihre Herzen mit Bitterkeit erfüllte: der Messias, der wie ein Verbrecher am Kreuz getötet wird. Sie kehren niedergeschlagen und „traurig“ (Lk 24,17) nach Hause zurück: Die Erwartungen, die sie gehegt hatten, sind ins Leere gelaufen, die Hoffnungen, an die sie geglaubt hatten, haben sich zerschlagen, die Träume, die sie gerne erfüllt hätten, sind der Enttäuschung und der Bitterkeit gewichen.

Diese Erfahrung tritt auch in unserem Leben und auf unserem geistlichen Weg zutage, und zwar immer dann, wenn wir gezwungen sind, unsere Erwartungen zurückzuschrauben und uns mit der Mehrdeutigkeit der Realität, den dunklen Seiten des Lebens und unseren Schwächen auseinanderzusetzen. Das passiert uns jedes Mal, wenn unsere Ideale mit den Enttäuschungen des Lebens kollidieren und unsere Vorsätze aufgrund unserer Schwächen scheitern; wenn wir gutgemeinte Pläne hegen, dann aber nicht in der Lage sind, sie zu verwirklichen (vgl. Röm 7,18); wenn wir in unseren Aktivitäten oder Beziehungen früher oder später eine Niederlage, einen Fehler, ein Scheitern, einen Sturz erleben, wenn wir sehen, wie das, woran wir geglaubt oder wofür wir uns eingesetzt hatten, zerbricht, wenn wir uns von unserer Sünde und dem Schuldgefühl erdrückt fühlen.

Und so ergeht es Adam und Eva, wie wir es in der ersten Lesung gehört haben: Ihre Sünde hat sie nicht nur von Gott entfremdet, sondern auch voneinander entfernt: Sie können sich nur gegenseitig anklagen. Und wir sehen es auch bei den Emmausjüngern, deren Unzufriedenheit über das Scheitern von Jesu Vorhaben nur Raum für sterile Diskussionen lässt. Und das kann auch im Leben der Kirche geschehen, der Gemeinschaft der Jünger des Herrn, für die die beiden Jünger von Emmaus stehen. Obwohl sie die Gemeinschaft des Auferstandenen ist, kann es vorkommen, dass sie angesichts des Skandals des Bösen und der Gewalt von Golgatha verstört und enttäuscht umherzieht. Sie kann dann nichts anderes tun, als sich mit dem Gefühl des Scheiterns zu konfrontieren und sich zu fragen: Was ist passiert? Warum ist das passiert? Wie konnte das passieren?

Liebe Brüder und Schwestern, dies sind die Fragen, die sich jeder von uns stellt; und das sind auch die brennenden Fragen, die diese pilgernde Kirche in Kanada auf einem mühsamen Weg der Heilung und Versöhnung in ihrem Herzen bewegen. Auch wir, die wir mit dem Skandal des Bösen und dem im Fleisch unserer indigenen Brüder und Schwestern verwundeten Leib Christi konfrontiert werden, haben tiefe Bitterkeit verspürt und die Last des Versagens. Erlaubt mir also, mich geistig mit den vielen Pilgern zu vereinen, die hier die „heilige Stiege“ hinaufgehen, die an die Treppe erinnert, die Jesus zum Prätorium des Pilatus hinaufgestiegen ist, und gemeinsam mit euch als Kirche diesen Fragen nachzugehen, die aus einem Herzen voller Trauer aufsteigen: Warum ist das alles geschehen? Wie kann das in der Gemeinschaft derer geschehen, die Jesus nachfolgen?

Hierbei müssen wir uns jedoch vor der Versuchung der Flucht hüten, die in den beiden Jüngern des Evangeliums vorhanden ist: zu fliehen, zurück zu gehen, vom Ort des Geschehens wegzulaufen, zu versuchen, zu verdrängen, einen „ruhigen Ort“ wie Emmaus zu suchen, um zu vergessen. Angesichts der Misserfolge im Leben gibt es nichts Schlimmeres, als wegzulaufen, um sich ihnen nicht stellen zu müssen. Das ist eine Versuchung des Feindes, die unseren geistlichen Weg und den Weg der Kirche bedroht: Er will uns glauben machen, dass das Scheitern nun endgültig ist, er will uns durch Bitterkeit und Traurigkeit lähmen, uns davon überzeugen, dass man nichts mehr machen kann und dass es sich daher nicht lohnt, einen Weg für einen Neuanfang zu finden.

Stattdessen zeigt uns das Evangelium, dass gerade in Situationen der Enttäuschung und des Schmerzes, gerade dann, wenn wir wie versteinert die Gewalt des Bösen und die Beschämung der Schuld erfahren, wenn der Fluss unseres Lebens in Sünde und Versagen versiegt, wenn wir von allem entblößt sind und nichts mehr zu haben scheinen, dass gerade dann der Herr uns entgegenkommt und mit uns geht. Auf dem Weg nach Emmaus geht er diskret nebenher, um die traurigen Jünger zu begleiten und ihre resignierten Schritte mitzugehen. Und was tut er? Er benützt keine allgemeinen Worte der Ermutigung, keine Gelegenheitsfloskeln und keine oberflächlichen Tröstungen, sondern erhellt durch die Ausdeutung des Geheimnisses seines Todes und seiner Auferstehung in der Heiligen Schrift ihre Geschichte und die Ereignisse, die sie erlebt haben. So öffnet er ihnen die Augen für eine neue Sicht der Dinge. Auch wir, die wir in dieser Basilika gemeinsam an der Eucharistie teilnehmen, können viele Ereignisse der Geschichte neu interpretieren. Auf demselben Gelände standen früher schon dreimal Kirchen; und es gab diejenigen, die vor den Schwierigkeiten nicht flohen, die trotz eigener und fremder Fehler weiterträumten; die sich von dem verheerenden Brand vor hundert Jahren nicht entmutigen ließen und mit Mut und Kreativität dieses Gotteshaus bauten. Und wer von den nahen Plains of Abraham aus an der Eucharistie teilnimmt, kann auch den Geist derer spüren, die sich nicht vom Hass des Krieges, der Zerstörung und des Schmerzes gefangen nehmen ließen, sondern es verstanden, eine Stadt und ein Land neu zu gestalten.

Schließlich bricht Jesus vor den Emmausjüngern das Brot, öffnet ihnen damit die Augen und zeigt sich erneut als Gott der Liebe, der sein Leben für seine Freunde hingibt. Auf diese Weise hilft er ihnen, sich mit Freude wieder auf den Weg zu machen, neu zu beginnen, vom Scheitern zur Hoffnung zu gelangen. Brüder und Schwestern, der Herr möchte dasselbe mit jedem von uns und mit seiner Kirche tun. Wie können unsere Augen wieder geöffnet werden, wie kann unser Herz wieder für das Evangelium brennen? Was können wir tun, wenn wir von verschiedenen geistigen und materiellen Prüfungen heimgesucht werden, wenn wir den Weg zu einer gerechteren und geschwisterlicheren Gesellschaft suchen, wenn wir uns danach sehnen, uns von unseren Enttäuschungen und unserer Müdigkeit zu erholen, wenn wir hoffen, von den Wunden der Vergangenheit zu heilen und uns mit Gott und untereinander zu versöhnen?

Es gibt nur einen Pfad, einen Weg: Es ist der Weg Jesu; es ist der Weg, der Jesus ist (vgl. Joh 14,6). Glauben wir daran, dass Jesus unseren Weg begleitet, lassen wir es zu, dass er uns begegnet; lassen wir es zu, dass sein Wort die Geschichte, die wir als Einzelne und als Gemeinschaft leben, deutet und uns den Weg zur Heilung und zur Versöhnung zeigt; brechen wir im Glauben das eucharistische Brot gemeinsam, denn um diesen Tisch herum können wir uns als geliebte Kinder des Vaters wiederfinden, die berufen sind, alle Brüder und Schwestern zu sein. Beim Brechen des Brotes bestätigt Jesus, was die Jünger bereits von den Frauen als Zeugnis erhalten hatten und was sie nicht glauben wollten: dass er auferstanden ist! In dieser Basilika, in der wir der Mutter der Jungfrau Maria gedenken und in der sich auch die Krypta befindet, die der Unbefleckten Empfängnis gewidmet ist, können wir nicht umhin, die Rolle hervorzuheben, die Gott den Frauen in seinem Heilsplan zugedacht hat. Die heilige Anna, die selige Jungfrau Maria, die Frauen des Ostermorgens zeigen uns einen neuen Weg der Versöhnung: Die mütterliche Zärtlichkeit so vieler Frauen kann uns - als Kirche - in eine neue fruchtbare Zeit begleiten, in der wir so viel Unfruchtbarkeit und Tod hinter uns lassen und Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, wieder in den Mittelpunkt stellen können.

Im Zentrum unserer Fragen, der Kämpfe, die wir in uns austragen, sogar der pastoralen Aktivitäten, dürfen nicht wir selbst und unser Versagen stehen; wir müssen ihn, den Herrn Jesus, in den Mittelpunkt stellen. Ins Zentrum aller Dinge stellen wir sein Wort, das die Geschehnisse erhellt und uns die Augen öffnet, damit wir die wirkmächtige Gegenwart der Liebe Gottes und die Möglichkeit zum Guten auch in scheinbar ausweglosen Situationen sehen; ins Zentrum stellen wir das Brot der Eucharistie, das Jesus heute erneut für uns bricht, um sein Leben mit uns zu teilen, unsere Schwächen anzunehmen, unsere müden Schritte zu stützen und uns die Heilung des Herzens zu schenken. Und wenn wir mit Gott, mit den anderen und mit uns selbst versöhnt sind, können auch wir zu Werkzeugen der Versöhnung und des Friedens in der Gesellschaft, in der wir leben, werden.

Herr Jesus, unser Weg, unsere Kraft und unser Trost, wir wenden uns an dich wie die Emmausjünger: »Bleibe bei uns; denn es wird Abend, der Tag hat sich schon geneigt!« (Lk 24,29). Bleib bei uns, Herr, wenn die Hoffnung schwindet und sich die Nacht der Enttäuschung dunkel herabneigt. Bleib bei uns, denn mit dir, o Jesus, ändert sich die Richtung des Weges, und aus den Sackgassen des Misstrauens wird das Wunder der Freude neu geboren. Bleib bei uns, Herr, denn mit dir verwandelt sich die Nacht des Leids in den strahlenden Morgen des Lebens. Wir sagen schlicht: Bleib bei uns, Herr, denn wenn du an unsere Seite gehst, verwandelt sich das Scheitern in die Hoffnung auf ein neues Leben. Amen.



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