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BRIEF DES HEILIGEN VATERS
AN DAS UKRAINISCHE VOLK
neun Monate nach Ausbruch des Krieges

24. November 2022

Liebe ukrainische Brüder und Schwestern!

Seit neun Monaten ist in eurem Land der absurde Wahnsinn des Krieges entfesselt. In eurem Himmel hallen unaufhörlich das unheimliche Dröhnen von Explosionen und der beängstigende Klang von Sirenen wider. Bomben hämmern auf eure Städte ein, Raketenschauer verursachen Tod, Zerstörung und Schmerz, Hunger, Durst und Kälte. Auf euren Straßen mussten viele Menschen fliehen und dabei ihr Zuhause und ihre Lieben zurücklassen. Neben euren großen Flüssen fließen jeden Tag Ströme von Blut und Tränen.

Ich möchte meine Tränen mit euren verbinden und euch sagen, dass kein Tag vergeht, an dem ich euch nicht nahe bin und euch in meinem Herzen und meinem Gebet trage. Euer Schmerz ist mein Schmerz. Im Kreuz Jesu sehe ich heute euch, die ihr das Grauen erleidet, das diese Aggression entfesselt hat. Ja, das Kreuz, das den Herrn gequält hat, lebt in den Zeichen von Folter wieder auf, die an den Leichen gefunden wurden, in den Massengräbern, die in verschiedenen Städten entdeckt wurden, in diesen und so vielen anderen grausamen Bildern, die uns in die Seele gedrungen sind, die aufschreien lassen: Warum? Wie können Menschen so mit anderen Menschen umgehen?

Viele tragische Geschichten kommen mir wieder in den Sinn, von denen ich erfahre. Vor allem die der Kleinen: Wie viele Kinder wurden getötet, verletzt oder zu Waisen gemacht, ihren Müttern entrissen! Ich trauere mit euch um jedes Kind, das wegen dieses Krieges sein Leben verloren hat, wie Kira in Odessa, wie Lisa in Winnyzja und wie Hunderte von anderen Kindern: In jedem von ihnen hat die gesamte Menschheit eine Niederlage erlitten. Jetzt leben sie in Gottes Schoß, sie sehen eure Qualen und beten, dass sie ein Ende finden. Aber wie könnten wir nicht für sie und für all jene, die deportiert worden sind, Kleine und Große, Schmerz empfinden? Das Leid der ukrainischen Mütter ist unermesslich.

Dann denke ich an euch junge Menschen, die ihr zur tapferen Verteidigung eures Vaterlandes Hand an die Waffen legen musstet, statt die Träume zu verwirklichen, die ihr für die Zukunft gehegt hattet; ich denke an euch Ehefrauen, die ihr eure Ehemänner verloren habt und euch auf die Lippen beißt, und still, mit Würde und Entschlossenheit, weiterhin jedes Opfer für eure Kinder bringt; an euch Erwachsene, die ihr mit allen Mitteln versucht, eure Lieben zu schützen; an euch ältere Menschen, die ihr in die dunkle Nacht des Krieges geworfen wurdet, statt einen unbeschwerten Lebensabend zu genießen; an euch Frauen, die ihr Gewalt erlitten habt und große Lasten in eurem Herzen tragt; an euch alle, die ihr an Seele und Leib verwundet seid. Ich denke an euch und bin euch nahe mit Zuneigung und Bewunderung dafür, wie ihr euch solch schweren Prüfungen stellt.

Und ich denke an euch freiwillige Helfer, die ihr euch jeden Tag für die Menschen einsetzt; an euch Hirten des heiligen Volkes Gottes, die ihr – oft unter großer Gefahr für eure persönliche Unversehrtheit – bei den Menschen geblieben seid, um ihnen den Trost Gottes und die Solidarität ihrer Geschwister zu bringen, um auf kreative Weise Gemeinderäume und Klöster in Unterkünfte umzuwandeln, wo Menschen in Not Gastfreundschaft, Hilfe und Nahrung angeboten werden. Ich denke auch an die Flüchtlinge und Binnenvertriebenen, die sich weit weg von ihren oftmals zerstörten Wohnungen befinden; und an die politischen Verantwortungsträger, für die ich bete: Auf ihnen ruht die Pflicht, das Land in tragischen Zeiten zu regieren und weitsichtige Entscheidungen für den Frieden sowie für die Entwicklung der Wirtschaft zu treffen, während viel lebenswichtige Infrastruktur zerstört wird, in Städten wie auf dem Land.

Liebe Brüder und Schwestern, in all diesem Meer des Bösen und des Leids – neunzig Jahre nach dem schrecklichen Völkermord des Holodomor – bewundere ich euren gesunden Eifer. Trotz der unermesslichen Tragödie, die es erleidet, hat sich das ukrainische Volk nie entmutigen lassen oder ist in Mitleid versunken. Die Welt hat ein mutiges und starkes Volk erkannt, ein Volk, das leidet und betet, weint und kämpft, durchhält und hofft: ein edles und gemartertes Volk. Ich bleibe euch nahe, mit dem Herzen und dem Gebet, mit humanitärer Fürsorge, damit ihr euch begleitet fühlt, damit man sich nicht an den Krieg gewöhnt, damit ihr heute und vor allem morgen nicht allein gelassen werdet, wenn vielleicht die Versuchung kommt, eure Leiden zu vergessen.

In diesen Monaten, in denen die Härte des Klimas das, was ihr erlebt, noch tragischer macht, möchte ich, dass die Zuneigung der Kirche, die Kraft des Gebetes, die Liebe, die so viele Brüder und Schwestern in allen Breitengraden für euch empfinden, wie Liebkosungen auf eurem Gesicht sind. In wenigen Wochen wird Weihnachten sein, und der Aufschrei des Leidens wird noch stärker zu vernehmen sein. Aber ich möchte mit euch nach Bethlehem zurückkehren, zu der Prüfung, der sich die Heilige Familie in jener Nacht stellen musste, die bloß kalt und dunkel zu sein schien. Stattdessen kam das Licht: nicht von Menschen, sondern von Gott; nicht von der Erde, sondern vom Himmel.

Möge seine und unsere Mutter, die selige Jungfrau Maria, über euch wachen. Ihrem Unbefleckten Herzen habe ich, vereint mit den Bischöfen der Welt, die Kirche und die Menschheit geweiht, insbesondere euer Land und Russland. Ihrem mütterlichen Herzen bringe ich eure Leiden und eure Tränen dar. Lasst uns nicht müde werden, sie, die – wie ein großer Sohn eures Landes schrieb – „Gott in unsere Welt gebracht hat“, um das ersehnte Geschenk des Friedens zu bitten, in der Gewissheit: »für Gott ist nichts unmöglich« (Lk 1,37). Möge er die berechtigten Erwartungen eurer Herzen erfüllen, eure Wunden heilen und euch seinen Trost spenden. Ich bin bei euch, ich bete für euch und bitte euch, für mich zu beten.

Möge der Herr euch segnen und die Gottesmutter euch beschützen.

Rom, Sankt Johannes im Lateran, 24. November 2022

FRANZISKUS



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