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BOTSCHAFT VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER DES INTERNATIONALEN FRIEDENSTREFFENS, DAS DIE ST.-EGIDIO-GEMEINSCHAFT VERANSTALTET HAT  

(Berlin, 10.-12. September 2023)

 

Liebe Schwestern und Brüder,

in diesem Jahr seid ihr in Berlin vor dem Brandenburger Tor versammelt, Repräsentanten der christlichen Kirchen und Gemeinschaften und der Weltreligionen, sowie Vertreter der Zivilgesellschaft. Ihr seid auf Einladung der Gemeinschaft Sant’Egidio zusammengekommen, die mit Treue den Pilgerweg des Gebets und des Dialogs fortsetzt, den Johannes Paul II. 1986 in Assisi begonnen hat. Der Ort eures Treffens ist besonders bedeutungsvoll und ruft Erinnerungen wach, denn genau an eurem Versammlungsort kam es zu einem historischen Ereignis: zum Fall jener Mauer, die die beiden deutschen Staaten spaltete. Diese Mauer trennte auch zwei Welten: West- und Osteuropa. Zum Fall der Mauer kam es durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren, durch den Mut vieler und das Gebet unzähliger Menschen. So wurden neue Perspektiven eröffnet: die Freiheit für die Völker, die Wiedervereinigung von Familien, aber auch Hoffnungen auf einen neuen Weltfrieden nach dem Kalten Krieg.

Leider wurde im Laufe der Jahre nicht auf dieser gemeinsamen Hoffnung weiter aufgebaut, sondern auf Einzelinteressen und auf dem Misstrauen gegenüber den anderen. Dadurch wurden neue Mauern errichtet, anstatt sie einzureißen. Und von der Mauer zum Schützengraben ist es leider oft nur ein kleiner Schritt. Auch heute noch zerstören Kriege zu viele Teile der Welt. Ich denke an viele Regionen in Afrika oder im Nahen Osten, aber auch an viele andere Orte der Erde; und an Europa, das den Krieg in der Ukraine erlebt – ein schrecklicher Konflikt, bei dem kein Ende in Sicht ist und der Tote, Verletzte, Schmerz, Flucht, Zerstörung gebracht hat.

Im vergangenen Jahr war ich mit euch in Rom vor dem Kolosseum versammelt, um für den Frieden zu beten. Wir haben den Schrei nach Frieden gehört, der mit Füßen getreten und verletzt wird. Damals sagte ich: »Der Schrei nach Frieden darf nicht verstummen. Er erklingt in den Herzen der Mütter, er zeigt sich auf den Gesichtern der Flüchtlinge, der fliehenden Familien, der Verwundeten oder der Sterbenden. Und dieser stumme Schrei steigt zum Himmel auf. Er verfügt über keine Zauberformeln, um Konflikte zu beenden, aber er besitzt das heilige Recht, im Namen der Leiden um Frieden zu bitten, und er verdient es, Gehör zu finden. Er verdient es, dass alle, angefangen bei den Regierenden, sich niederbeugen und ernsthaft und respektvoll zuhören. Der Schrei nach Frieden bringt den Schmerz und das Grauen des Krieges zum Ausdruck, der der Vater aller Armut ist.«

Angesichts dieses Szenarios darf man nicht resignieren. Es ist ein »mehr« nötig. Man muss »den Frieden wagen«, das ist das zentrale Anliegen eures Treffens. Der Realismus genügt nicht, es reichen nicht die politischen Erwägungen, es genügen auch nicht die bisher umgesetzten strategischen Aspekte. Es ist mehr nötig, denn der Krieg geht weiter. Wir müssen »den Frieden wagen«: und zwar jetzt! Denn zu viele Konflikte dauern schon zu lange an, und einige scheinen überhaupt kein Ende nehmen zu wollen. In einer Welt, in der alles schnell fortschreitet, scheint nur ein Ende der Kriege langsam voranzugehen. Es braucht Mut, eine Wende herbeizuführen trotz der Hindernisse und der objektiven Schwierigkeiten. Es wird die Prophetie benötigt, den Frieden zu wagen: das gilt für jene, die das Schicksal der Länder im Krieg in Händen halten, für die internationale Gemeinschaft und für uns alle, insbesondere für gläubige Männern und Frauen. Denn den Tränen der Mütter und Väter, der Trauer um die Gefallenen, der Sinnlosigkeit der Zerstörungen, muss eine Stimme verliehen werden, um den Wahnsinn des Krieges anzuprangern.

Ja, der Mut zum Frieden ruft insbesondere die Gläubigen zur Verantwortung. In ihnen verwandelt er sich in Gebet, um vom Himmel das zu erbitten, was auf der Erde unmöglich erscheint. Die Beharrlichkeit im Gebet ist die erste Form des Wagemutes. Christus weist im Evangelium darauf hin, dass sie »allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten« (Lk 18,1): »Bittet und es wird euch gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet« (Lk  11,9). Haben wir keine Angst zu Bettlern um Frieden zu werden, indem wir uns mit den Schwestern und Brüdern der anderen Religionen vereinen, und mit allen, die sich nicht mit der Unvermeidlichkeit von Konflikten abfinden. Ich vereine mich mit eurem Gebet um das Ende aller Kriege und bedanke mich von Herzen für alles, was ihr tut.

Es ist in der Tat notwendig, voranzuschreiten und die Mauer des Unmöglichen zu überwinden, die auf der Grundlage scheinbar unwiderlegbarer Argumente, der Erinnerung an so viele Leiden der Vergangenheit und schlimmer erlittener Wunden errichtet wurde. Es ist schwierig, aber es ist nicht unmöglich. Es ist nicht unmöglich für die Gläubigen, die den Wagemut eines hoffnungsvollen Gebetes hegen. Es darf aber auch für die Politiker, für die Verantwortungsträger und die Diplomaten nicht unmöglich sein. Beten wir weiter unermüdlich für den Frieden, klopfen wir demütig und beharrlich an die stets offene Tür des Herzens Gottes und an die Türen der Menschen. Bitten wir, dass Wege des Friedens aufgetan werden, vor allem für die geliebte und gequälte Ukraine. Haben wir Vertrauen, dass der Herr immer den verzweifelten Schrei seiner Kinder hört. Erhöre uns, o Herr!

Rom, aus dem Lateran, 5. September 2023

Franziskus



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