JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 28. September 1983
1. „Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben“ (1 Joh 4,9).
Liebe Brüder und Schwestern, am Anfang von allem steht Gottes Liebe, die uns auf wunderbare Weise erschaffen und mit allen Geschöpfen zusammen ins Dasein gerufen, von der Schuld befreit und gereinigt hat durch Jesus Christus, der unsere Sünden gesühnt und getilgt und uns wieder in die Gnade und in die Gemeinschaft mit Gott eingesetzt hat.
Diese durch Jesus Christus vollbrachte Tat Gottes ist etwas so Gewaltiges und so Geheimnisvolles, dass kein menschliches Wort es gebührend auszudrücken vermag. Die Verfasser des Neuen Testaments, die sie als neues Paschaopfer, als Opfer des Neuen Bundes und als großes Sühneopfer bezeichnet haben, waren sich wohl bewusst, dass keiner dieser Begriffe die Erlösungstat Christi, in dem sich das Erbarmen des um unser Schicksal väterlich besorgten Gottes offenbart, umfassend ausdrücken kann. Darum haben sie neben den Bildern vom Opfer auch Worte und Bilder verwendet, die sie ihrer religiösen und profanen Erfahrung entnahmen. So lesen wir denn im Neuen Testament, dass Jesus für uns gesühnt hat, dass Gott uns in Christus erlöst, uns losgekauft und versöhnt hat und dass er uns von unserer Schuld und Unreinheit befreit und gereinigt hat.
2. Richten wir unsere Aufmerksamkeit einen Augenblick auf einige dieser Ausdrücke. Sie beschreiben vor allem einen Zustand, aus dem wir herausgerissen wurden – etwas Negatives, Dunkles wie Versklavung, Korruption, Gefahr, Entfremdung, Verderben und Feindschaft –, um uns in einen neuen Zustand der Heiligkeit, der Freiheit und des Lebens zu versetzen. Aus einem Zustand des Todes und der Sünde sind wir in einen Zustand der Befreiung und Gnade gelangt.
Um das Geschenk der Erlösung in seiner ganzen Tiefe zu verstehen, müssen wir also erfassen, was für ein gewaltiges Übel die Sünde ist: „quanti ponderis sit peccatum“ (hl. Anselm). Das Zweite Vatikanische Konzil legt in der Konstitution Gaudium et spes (Nr. 27) zunächst eine erschreckende Aufzählung moderner Sünden vor und bemerkt dann: „All diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.“ Die letzten Worte erinnern an die bekannte Definition der Sünde als Gott zugefügte Beleidigung durch Ungehorsam gegenüber seinem Gesetz, das ein Gesetz der Liebe ist. Wir alle sind uns solchen Ungehorsams mehr oder weniger bewusst. Wir alle sündigen in der einen oder anderen Weise und haben die Herrlichkeit und Ehre Gottes verletzt (vgl. Röm 3,23). Nun aber befreit uns der Tod Christi von unseren Sünden, denn die Erlösung ist ja ihrem Wesen nach die Vernichtung der Sünde.
3. Wir können nun das Vokabular der Erlösung besser verstehen, das heißt die Begriffe, mit welchen das Neue Testament die Erlösung bezeichnet, wo es vom Glauben der Apostel und der ersten christlichen Gemeinde Zeugnis gibt.
Einer der am häufigsten wiederkehrenden Ausdrücke ist „Erlösung“, „apolýtrōsis“. Wenn wir sagen, Jesus hat uns „erlöst“, dann verwenden wir ein Bild, das die Befreiung aus der Sklaverei, aus der Gefangenschaft – gemeint ist die Gefangenschaft der Sünde – bezeichnet. Wie Gott sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat, wie man einen Gefangenen um Lösegeld freikauft, wie man ein wertvolles Gut, das in den Besitz eines anderen geraten ist, zurückkauft, so hat Gott uns durch das Blut Christi freigekauft. „Nicht um einen vergänglichen Preis, nicht um Silber oder Gold“ – schreibt der hl. Petrus – „wurdet ihr aus eurer sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise losgekauft, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel“ (1 Petr 1,18).
Ein anderer klassischer Ausdruck ist Sühne: Jesus hat unsere Sünden gesühnt.
So schreibt zum Beispiel der hl. Johannes: „Gott hat uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt“ (1 Joh 4,10), „aber nicht nur für unsere Sünden, sondern auch für die der ganzen Welt“ (1 Joh 2,2). In der Sprache der Bibel bedeutet „Sühne“ Tilgung, Reinigung, Vernichtung der Schuld und ihrer verderblichen Auswirkungen. Durch den Tod Christi und seine gänzliche Hingabe an den Vater wird die Sünde des Menschen getilgt und ausgemerzt, und der Mensch wird gereinigt und Gott wohlgefällig.
4. Aber es gibt eine Möglichkeit, das Werk Christi zu beschreiben, die für uns am klarsten und einsichtigsten ist; sie geht aus der Erfahrung der Versöhnung hervor: Im Tode Christi sind wir mit Gott versöhnt worden.
Urheber der Versöhnung ist Gott, der die Initiative dazu in Freiheit ergriffen hat; Jesus Christus hat sie vollzogen und vermittelt; der Mensch ist ihr Empfänger.
In der Tat steigt die Versöhnung von Gott zum Menschen herab, erfasst ihn durch Jesus Christus und schafft in ihm ein neues Sein, lässt ihn von einer Existenzweise in eine andere übergehen und erschließt ihm die Möglichkeit der Versöhnung nicht nur mit Gott, sondern auch mit den Brüdern.
Das Heilige Jahr will vor allem eine eindringliche und leidenschaftliche Aufforderung sein, das Herz dem göttlichen Geschenk der Versöhnung zu öffnen.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Das Werk unserer Erlösung ist etwas so Gewaltiges, dass es weder in einem Menschenleben noch in der Geschichte der Kirche gebührend erlebt und erfasst werden kann. Menschliches Denken und Sprechen kann sich an solche Geheimnisse nur herantasten.
„Erlösen“, „loskaufen“, „befreien“, „reinigen“, „waschen“, „befrieden“, so heißt es in den Büchern der Schrift. Übergang also von Versklavung und Entstellung zur herrlichen Schönheit und Freiheit der Kinder Gottes. Übergang durch das Wirken des Vaters in seinem Sohn: „Gott hat seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt, damit wir durch ihn leben.“
Dieses Leben aber ist Gemeinschaft mit ihm, so wie die Knechtschaft der Sünde Trennung von ihm bedeutet. Und so ist Erlösung immer auch Versöhnung. Versöhnung im Sohn.
Lassen wir uns mit Gott versöhnen!
Eigens begrüße ich euch, ihr Seminaristen des Niels-Stensen-Kollegs. Mögen euch diese Tage in Rom dazu helfen, als Seminaristen und einst als Priester im Geiste von Niels Stensen zu leben und zu wirken!
Aus dem Erzbistum Köln grüße ich die Bonner Pilgergruppe und die Lesergemeinschaft der Kirchenzeitung. Eure Romwallfahrt und die Verbundenheit mit der Kirche im Bistum und in der Welt durch die Lektüre der kirchlichen Presse helfen euch, mit frohem Herzen und wachem Geist Kirche Jesu Christi zu sein.
Ein herzliches Willkommen auch dem Bund der deutschen Zollbeamten. Mit Ihrem Einsatz im Sinne des Europagedankens bereichern Sie Ihr Berufsethos um einen wertvollen Akzent. Gott segne Ihre Arbeit!
Ein hohes Berufsethos ist es auch, das den Kraftfahr-Verband der deutschen Ärzte beseelt, dessen Vertreter ich hier begrüße. Möge die Straße mit ihren Belastungen und Gefahren immer auch Gegenstand und Schauplatz jener Nächstenliebe sein, die uns der Herr im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter so einladend vor Augen stellt.
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Auch heute lade ich euch zum Gebet für den Libanon ein.
Nach den heftigen Gefechten, die sich über mehrere Wochen hingezogen und in beängstigendem Maße Zerstörungen und Opfer unter den Kämpfenden sowie unter der völlig entmutigten und erschöpften Zivilbevölkerung hervorgerufen haben, wurde endlich ein Waffenstillstand erreicht.
Dieser ist noch unsicher und bedarf, wenn er wirksam werden soll, des guten Willens aller. Er ist jedoch von großer Wichtigkeit – vor allem, weil nicht mehr geschossen wird und weil er ferner Garantien gegen ein Wiederaufflammen der Kämpfe vorsieht und ein Vorgehen verspricht, das zu einer Wiederaufnahme des Dialogs zwischen den beteiligten Gruppen führen sollte, mit dem Ziel, eine nationale Versöhnung zu erreichen.
Wenn man an die früheren Erfahrungen denkt, kann man die Hindernisse und Schwierigkeiten, die noch zu überwinden sind, voraussehen; man darf aber hoffen – und muss vor allem darum beten –, dass der gute Wille und das Verantwortungsbewusstsein sowohl bei den Verantwortlichen der Gruppen innerhalb des Libanon als auch bei den Autoritäten jener Regierungen sich durchsetzen, die irgendwie am Schicksal des geplagten Landes interessiert sind.
Die heilige Jungfrau, Herrin und Königin des Libanon, möge alle Bemühungen des guten Willens unterstützen, die auf eine Wiederherstellung des Friedens und der Einheit in dieser geliebten Nation abzielen.
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