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JOHANNES PAUL II.

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 25. Januar 1984

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1. „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Christus, der Sohn Gottes, nimmt durch seine Menschwerdung die Menschennatur eines jeden Menschen an, auch des ärmsten und verlassensten. Er wird dermaßen solidarisch mit jeder Person, dass er sich zum Garanten ihrer Würde macht. Denn in seinem Tod als äußerstem Ausdruck jener menschlich unbegreiflichen „Erniedrigung“ Gottes, von welcher der Philipperbrief spricht (vgl. Phil 2,6–11), erkauft Christus die Würde eines jeden Menschen und begründet auf unübertreffliche Weise seine Rechte.

In Christus kann auch der von allen verstoßene Mensch mit Paulus sagen: „Er hat mich geliebt und sich für mich hingegeben“ (Gal 2,20). Man muss in der Tat anerkennen, dass vom Alten zum Neuen Testament die echte Auffassung vom Menschen als Person und nicht nur als Individuum im Christentum unaufhaltsam stärker hervortritt. Wenn ein Einzelwesen zugrunde geht, bleibt die Art unverändert: In der vom Christentum begründeten Logik dagegen geht jedes Mal, wenn eine Person ausfällt, etwas Einmaliges und Unwiederholbares verloren.

2. Das Fundament der menschlichen Würde, die jeder Mensch erfassen kann, wenn er über seine Natur nachdenkt, über die Tatsache, dass er mit Freiheit, das heißt mit Verstand, Willen und Gemütskräften begabt ist, wird in der Erlösung durch Christus voll verständlich. In der Enzyklika Redemptor hominis habe ich geschrieben: „Dieses tiefe Staunen über den Wert und die Würde des Menschen nennt sich Evangelium, Frohe Botschaft. Es nennt sich Christentum“ (Redemptor hominis, Nr. 10).

Das macht das Bemühen nicht unfruchtbar, das der Mensch schon immer unternommen hat und weiter unternimmt, um seine Würde als Person auf seine Natur zu gründen und die Grundrechte festzulegen, die einem jeden von seinen Mitmenschen und von allen Institutionen garantiert werden müssen. Man kann sogar sagen, dass nach der Logik, aufgrund derer das Christliche das Menschliche und die Gnade die Natur entdecken lassen, dieses Bemühen noch höheren Wert bekommt.

Die Verwurzelung der Würde des Menschen in jener äußersten Tiefe, die von Christus am Kreuz verwirklicht wurde, zerstört also nicht, sondern erfüllt und krönt vielmehr das vernunftgemäße Forschen, mit dem der Mensch aller Zeiten – und besonders der moderne Mensch – zu einer immer klareren Definition der Werte zu gelangen sucht, die seiner aus Seele und Leib gebildeten Wirklichkeit innewohnen.

3. Immer wieder neu muss sich der Mensch über sich selbst beugen, um in der Fähigkeit, über sich als Person hinauszugehen, das heißt, in voller Freiheit und Wahrheit über sein Leben zu bestimmen, seine offensichtliche Würde zu entdecken. Außerhalb der Verknüpfung der Person mit der Wahrheit lässt sich diese Würde unmöglich begreifen. Die Wahrheit des Menschen liegt in seiner innersten Beziehung zu Gott, vor allem aufgrund des Siegels, das Gott bei der Erschaffung der natürlichen Struktur des Menschen eingeprägt hat. „Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn“ (Gen 1,27).

Die große Überlieferung der Kirchenväter und der Scholastik, von Augustinus über Johannes Damascenus bis zu Thomas von Aquin, hat die Lehre vom imago Dei, vom Abbild Gottes, gründlich erforscht und ist dabei zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen gelangt.

Zunächst wird der zum Abbild Gottes geschaffene Mensch aufgrund seiner Struktur durch seine mens, seinen Geist, den einzigartigen Sitz seiner Verstandes- und Willensfähigkeit, mit der Wahrheit in Zusammenhang gebracht. Die Verstandesfähigkeit, mit der er die Wahrheit erforscht, und die Willenskraft, mit der er nach ihr strebt, sind der elementare und universale Ausdruck seiner Würde. Zweitens erfährt der Mensch im Alltagsleben seine Zufälligkeit, die durch seine Grenzen und seine Sünde bedingt ist. Er wird sich nun bewusst, dass er geschaffen ist, um Abbild Gottes zu werden, aber nicht schon Gottes Abbild ist. Gottes Abbild ist nur das Wort, der Sohn, an dem der Vater all sein Wohlgefallen gefunden hat. Der Mensch ist nur ein sehr unvollkommenes Abbild Gottes (vgl. Thomas von Aquin, Scriptum super Sententiis, I d. 3, q. 3 a. 1 resp. ad Sum.).

Der Ausdruck „zum Abbild“ zeigt, dass der Mensch ein Streben nach der vollen Transparenz der Wahrheit hat. Er zeichnet ihm einen ethischen und asketischen Weg vor, der aus Tugend und Gesetz, aus Pflichten und Rechten besteht. Auf diesem Weg muss er früher oder später auf den stoßen, der Gottes volles Abbild ist: Christus, der jeden von uns mit sich „verbunden hat“.

4. Doch der Mensch ist nicht im Besitz der letzten Wahrheit, die seine Würde begründet. Er sehnt sich seit jeher nach ihr, doch sie überragt ihn immer. Die Griechen versuchten durch die Philosophie, die Juden durch das Gesetz, sich der Wahrheit zu nähern, die der Mensch als wirklichen, aber transzendenten Grund seines Seins wahrnimmt.

Christus zeigt uns in der Liebe diesen Zugang zur letzten Wahrheit, die er schließlich selbst ist. Die volle Verwirklichung der Würde des Menschen ist nur in der Dynamik der Liebe gegeben, die den Einzelnen zur Begegnung mit dem Anderen führt und ihn so für die Erfahrung der transzendenten Gegenwart dessen öffnet, der sich in seiner Menschwerdung „gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt hat“ (Gaudium et spes, Nr. 22).

„Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Das feierliche Wort, mit dem der göttliche Richter die Geschichte zu Ende führen wird, erleuchte unsere Schritte in der Zeit und lasse uns in der Liebe den Weg finden, der uns zur Erkenntnis des unwiederbringlichen Wertes jedes einzelnen Mitmenschen und damit zur vollen Verwirklichung unseres eigenen Menschseins führt.

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Liebe Brüder und Schwestern!

Herzlich grüße ich euch zur heutigen Jubiläumsaudienz im Heiligen Jahr. Wir hörten soeben in der Lesung die Worte Jesu: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Christus ist durch die Menschwerdung zum Bruder eines jeden Menschen geworden. Er ist solidarisch auch mit dem Ärmsten und sichert so dessen menschliche Würde. Jeder Mensch kann mit dem hl. Paulus sagen: Christus hat „mich geliebt und sich für mich hingegeben“ (Gal 2,20).

Im Neuen Testament wird die Würde der menschlichen Person voll offenbar. Sie gründet letztlich in der innersten Beziehung des Menschen zu Gott, in seiner Gottesebenbildlichkeit. Das göttliche Wort ist auf die vollkommenste Weise Ebenbild Gottes, der Mensch nur unvollkommen. Jeder Mensch ist jedoch berufen, in Christus Gott immer ähnlicher zu werden durch stetes Wachsen in der Wahrheit, in der Gerechtigkeit und Liebe. Dass Gott euch dazu seine Gnade schenken möge, erbitte ich euch mit meinem besonderen Apostolischen Segen.