JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 27. Juni 1984
1. Als ich in den vergangenen Wochen das Hohelied der Liebe erläuterte, habe ich hervorgehoben, dass das sakramentale Zeichen der Ehe aufgrund der „Sprache des Leibes“ zutage tritt, die Mann und Frau in der ihnen eigenen Wahrheit zum Ausdruck bringen. Unter diesem Aspekt möchte ich heute einige Abschnitte aus dem Buch Tobias analysieren.
In dem Bericht über die Vermählung des Tobias mit Sara findet sich außer dem Ausdruck „Schwester“ — der auf eine bräutliche Liebe mit geschwisterlichen Wesenszügen hinweist — auch ein anderer Ausdruck, der auf das erwähnte Hohelied anspielt.
Wie ihr euch erinnern werdet, ist im Zwiegespräch der Brautleute die Liebe, die sie einander erklären, „stark wie der Tod“ (Hld 8,6). Im Buch Tobias lesen wir, dass Tobias „Zuneigung zu dem Mädchen fasste und sein Herz ihr gehörte“ (Tob 6,19); damit wird eine Situation vorgestellt, welche die Wahrheit der Worte über die Liebe, die „stark ist wie der Tod“, bestätigt.
2. Zum besseren Verständnis muss man auf einige Einzelheiten zurückgreifen, deren besonderer Charakter sich auf dem Hintergrund des Buches Tobias erklärt. Wir lesen dort, dass Sara, die Tochter des Raguel, zuvor „mit sieben Männern verheiratet“ gewesen war (Tob 6,14), die aber alle noch vor dem Vollzug der Ehe mit ihr gestorben waren. Das war Werk des bösen Geistes, und auch der junge Tobias hatte Grund, einen ähnlichen Tod zu fürchten.
So musste sich die Liebe des Tobias vom ersten Augenblick an der Probe auf Leben und Tod stellen. Die Worte von der Liebe, „stark wie der Tod“, welche von den Brautleuten des Hohenliedes im Überschwung des Herzens gesprochen wurden, nehmen hier den Charakter einer tatsächlichen Prüfung an. Wenn sich die Liebe als stark wie der Tod erweist, dann vor allem in dem Sinn, dass Tobias und mit ihm Sara dieser Prüfung ohne zu zögern entgegengehen. Doch in dieser Prüfung auf Leben und Tod siegt das Leben, weil sich während der Prüfung in der Hochzeitsnacht die Liebe, durch das Gebet gestützt, stärker als der Tod erweist.
3. Diese Prüfung auf Leben und Tod hat noch eine weitere Bedeutung, die uns die Liebe und die Ehe der Neuvermählten begreifen lässt. Denn während sie als Mann und Frau eins werden, befinden sie sich in einer Situation, in der die Kräfte von Gut und Böse einander bekämpfen und sich gegenseitig messen. Das Zwiegespräch von Braut und Bräutigam im Hohenlied scheint diese Dimension der Wirklichkeit gar nicht wahrzunehmen. Die Brautleute des Hohenliedes leben und äußern sich in einer idealen oder abstrakten Welt, in der anscheinend der Kampf der objektiven Kräfte zwischen Gut und Böse nicht existiert. Sind es vielleicht gerade die Kraft und die innere Wahrheit der Liebe, welche den Kampf im und um den Menschen mildern?
Die Fülle dieser Wahrheit und Kraft, welche der Liebe eigen ist, scheint jedoch anderer Art zu sein und eher in die Richtung zu weisen, in die uns die Erfahrung des Buches Tobias führt. Die Wahrheit und die Kraft der Liebe offenbaren sich in der Fähigkeit, sich zwischen die Kräfte von Gut und Böse zu stellen, die im Menschen und um ihn im Widerstreit liegen, weil die Liebe auf den Sieg des Guten vertraut und bereit ist, alles zu tun, damit das Gute siegt.
Die Wahrhaftigkeit der Liebe der Brautleute im Buch Tobias wird also nicht von Worten der überschwänglichen Liebe bestätigt, wie im Hohenlied, sondern durch die Entscheidungen und Handlungen, welche die ganze Last der menschlichen Existenz im gegenseitigen Einswerden der beiden auf sich nehmen. Die „Sprache des Leibes“ scheint hier die Worte der Entscheidung und Handlungen zu gebrauchen, die der Liebe entspringen, und diese siegt, weil sie betet.
4. Das Gebet des Tobias (Tob 8,5–8), das vor allem ein Lob- und Dankgebet und dann erst ein Bittgebet ist, stellt die „Sprache des Leibes“ auf den Boden der wesentlichen Begriffe der Theologie des Leibes. Es ist eine „objektivierte“ Sprache, die nicht so sehr von der Gefühlskraft der Erfahrung, sondern vielmehr von der Tiefe und dem Ernst der Wahrheit der menschlichen Existenz selbst durchdrungen ist.
Die Brautleute bekennen sich zu dieser Wahrheit gemeinsam und einstimmig vor dem Gott des Bundes, dem „Gott unserer Väter“. Man kann sagen, dass unter diesem Aspekt die „Sprache des Leibes“ zur Sprache der Verwalter des Sakraments wird, die wissen, dass im ehelichen Bündnis jenes Geheimnis Ausdruck findet und sich verwirklicht, das seine Quelle in Gott selbst hat. Ihr eheliches Bündnis ist in der Tat das Abbild – und das Ursakrament des Bundes Gottes mit dem Menschen, mit dem Menschengeschlecht – jenes Bundes, der seinen Ursprung in der ewigen Liebe hat.
Tobias und Sara beenden ihr Gebet mit folgenden Worten: „Hab Erbarmen mit mir und lass mich gemeinsam mit ihr ein hohes Alter erreichen!“ (Tob 8,7).
Man darf annehmen (aufgrund des Zusammenhangs), dass sie vor Augen haben, ihre Lebensgemeinschaft bis ans Ende ihrer Tage aufrechtzuerhalten – eine Aussicht, die sich ihnen mit der Probe auf Leben und Tod bereits in der Hochzeitsnacht eröffnet. Zugleich erkennen sie mit den Augen des Glaubens die Heiligkeit dieser Berufung, in der sie – durch ihr Einswerden, das auf der gegenseitigen Wahrheit der „Sprache des Leibes“ beruht – den im Geheimnis des Anfangs enthaltenen Anruf Gottes erwidern müssen. Und darum ihre Bitte: „Hab Erbarmen mit mir und mit ihr.“
5. Die Brautleute des Hohenliedes erklären sich gegenseitig mit glühenden Worten ihre menschliche Liebe. Die Neuvermählten des Buches Tobias bitten Gott um die Fähigkeit, die Liebe zu erwidern. Beide haben ihren Platz im sakramentalen Zeichen der Ehe. Beide wirken an der Formung dieses Zeichens mit.
Man kann sagen, dass die „Sprache des Leibes“ durch beide sowohl in der subjektiven Dimension der Wahrhaftigkeit der menschlichen Herzen als auch in der objektiven Dimension der Wahrheit des Lebens in der ehelichen Gemeinschaft zur Sprache der Liturgie wird.
Das Gebet der Neuvermählten des Buches Tobias scheint das – sicher in anderer Weise – zu bestätigen als das Hohelied und auch in einer Weise, die zweifellos tiefer bewegt.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Unsere wöchentlichen Überlegungen über das Geheimnis der bräutlichen Liebe führen uns heute zum Buch Tobias. Die Liebe, die Braut und Bräutigam einander schwören, wird im Hohenlied bezeichnet als „stark wie der Tod“ (Hld 8,6). Von Tobias heißt es, dass er Sara so sehr liebte, dass „sein Herz ihr gehörte“ (Tob 6,19). Bei seiner Werbung um sie hat er selbst zunächst eine Probe auf Leben und Tod bestehen müssen. Sieben Männer waren vor ihm durch den Geist des Bösen bereits ums Leben gekommen. In Tobias erweist sich die Liebe, die durch das Gebet gestützt wird, stärker als der Tod.
Zugleich hat die Probe für Tobias und Sara noch eine weitere Bedeutung. Sie werden durch ihre gegenseitige Liebe und die bräutliche Zuordnung zueinander in den Widerstreit der Kräfte von Gut und Böse gestellt. Die Liebe vertraut jedoch auf den Sieg des Guten. Tobias und Sara beenden ihr Gebet mit der folgenden Bitte: „Hab Erbarmen mit mir, und lass mich gemeinsam mit ihr ein hohes Alter erreichen!“ (Tob 8,7). Beide sind entschlossen, ihre eheliche Lebensgemeinschaft bis zum Ende ihrer Tage aufrechtzuerhalten.
Mit dieser kurzen Betrachtung grüße ich sehr herzlich alle heutigen Audienzteilnehmer deutscher Sprache: die Gruppen und Einzelpilger, besonders die Priester und Ordensleute sowie die Gruppe von Abgeordneten und Staatssekretären aus dem Land Niedersachsen. Allen Rombesuchern erbitte ich in der Ewigen Stadt geistlich fruchtbare Tage und neue Zuversicht und Glaubensmut für ihre vielfältigen Aufgaben in der Heimt. Dafür erteile ich allen anwesenden Pilgern von Herzen meinen besonderen Apostolischen Segen.
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