JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 2. Oktober 1985
1. „Gott ist die Liebe ...“: Diese Worte, die in einem der letzten Bücher des Neuen Testamentes, nämlich dem ersten Johannesbrief (1 Joh 4,16), stehen, bilden gleichsam den Schlussstein und die Krönung der Wahrheit über Gott, die sich durch zahlreiche Worte und viele Geschehnisse hindurch einen Weg gebahnt hat, um mit dem Kommen Christi und vor allem mit seinem Kreuz und seiner Auferstehung schließlich volle Glaubensgewissheit zu werden. In diesen Worten findet die Aussage Christi selbst einen treuen Widerhall: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16).
Der Glaube der Kirche gipfelt in dieser letzten Wahrheit: Gott ist die Liebe! Er hat sich selbst im Kreuz und in der Auferstehung Christi endgültig als Liebe geoffenbart. „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen. Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,16).
2. Die Wahrheit, dass Gott die Liebe ist, stellt gleichsam den Gipfel all dessen dar, was „durch die Propheten und zuletzt durch den Sohn ...“ geoffenbart worden ist, wie es im Hebräerbrief heißt (Hebr 1,1). Diese Wahrheit erhellt den ganzen Inhalt der göttlichen Offenbarung und besonders die geoffenbarte Wirklichkeit der Schöpfung und des Bundes. Wenn die Schöpfung die Allmacht des Schöpfergottes offenbart, so erklärt sich die Ausübung der Allmacht endgültig durch die Liebe. Gott hat erschaffen, weil er es vermochte, weil er allmächtig ist; aber seine Allmacht wurde von der Weisheit geleitet und von der Liebe bewegt. Das ist das Schöpfungswerk. Das Werk der Erlösung ist noch beredter und bietet uns einen noch grundlegenderen Beweis: Gegenüber dem Bösen, gegenüber der Sünde der Geschöpfe bleibt die Liebe als Ausdruck der Allmacht. Nur die allmächtige Liebe vermag das Gute aus dem Bösen hervorzuholen und das neue Leben aus Sünde und Tod.
3. Die Liebe als Macht, die Leben schenkt und mit Leben erfüllt, ist in der ganzen Offenbarung gegenwärtig. Der lebendige Gott, der Gott, der allen Lebenden Leben schenkt, ist der, von dem die Psalmen sagen: „Sie alle warten auf dich, dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit. Gibst du ihnen, dann sammeln sie ein; öffnest du deine Hand, werden sie satt an Gutem. Verbirgst du dein Gesicht, sind sie verstört; nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde“ (Ps 104,27-29). Das Bild ist der Schöpfung selbst entnommen. Wenn dieses Bild anthropomorphe Züge trägt (wie viele Texte der Heiligen Schrift), so ist dieser Anthropomorphismus in der Bibel begründet: Da der Mensch nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist, haben wir das Recht, von Gott „nach dem Bild und Gleichnis“ des Menschen zu sprechen. Andererseits verdunkelt dieser Anthropomorphismus nicht die Transzendenz Gottes: Gott wird nicht auf menschliche Dimensionen reduziert. Sämtliche Regeln der Analogie und der analogen Sprechweise sowie jene der Analogie des Glaubens werden gewahrt.
4. Im Bund gibt sich Gott den Menschen, allen voran dem von ihm auserwählten Volk, zu erkennen. Einer fortschreitenden Pädagogik folgend, offenbart der Gott des Bundes die Eigenschaften seines Seins, die man seine Attribute zu nennen pflegt. Es sind das vor allem Eigenschaften moralischer Art, in denen sich schrittweise der Gott der Liebe enthüllt. Wenn sich Gott in der Tat vor allem im Sinaibund als Gesetzgeber, als höchste Quelle des Gesetzes, offenbart, findet diese gesetzgebende Autorität ihren vollen Ausdruck und ihre volle Bestätigung in den Eigenschaften des göttlichen Handelns, welche die Heilige Schrift uns kennenlehrt. Die inspirierten Bücher des Alten Testaments machen dies offenbar. So lesen wir zum Beispiel im Buch der Weisheit: „Deine Stärke ist die Grundlage deiner Gerechtigkeit, und deine Herrschaft über alles lässt dich gegen alles Nachsicht üben ... Weil du über Stärke verfügst, richtest du in Milde und behandelst uns mit großer Nachsicht; denn die Macht steht dir zur Verfügung, wann immer du willst“ (Weish 12,16.18).
Und weiter: „Keiner vermag seine Werke zu verkünden, und wer ergründet seine großen Taten?“ (Sir 18,4).
Die Schriften des Alten Testaments betonen die Gerechtigkeit Gottes, aber auch seine Milde und sein Erbarmen.
Sie unterstreichen besonders die Treue Gottes in dem Bund; diese Treue ist ein Aspekt seiner „Unwandelbarkeit“ (vgl. z. B. Ps 111,7-9; Jes 65,1-2; 16-19).
Wenn vom Zorn Gottes die Rede ist, handelt es sich immer um den gerechten Zorn eines Gottes, der zudem „langmütig und reich an Gnade“ ist (Ps 145,8). Wenn sie schließlich - stets in der erwähnten anthropomorphen Auffassung - die „Eifersucht“ des Gottes des Bundes gegenüber seinem Volk hervorheben, stellen sie das immer als ein Attribut der Liebe dar: „der leidenschaftliche Eifer des Herrn der Heere“ (Jes 9,6).
Wir haben bereits früher gesagt, dass sich die Attribute Gottes nicht von seinem Seinswesen unterscheiden; es wäre daher zutreffender, nicht so sehr vom gerechten, treuen, weisen Gott zu sprechen, als vielmehr von dem Gott, der Gerechtigkeit, Treue, Milde und Erbarmen ist - so wie der hl. Johannes geschrieben hat: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,16).
5. Das Alte Testament bereitet mit der Fülle seiner Weisheitsbücher auf die endgültige Offenbarung Gottes als Liebe vor. In einem dieser Texte lesen wir: „Du erbarmst dich aller, weil du alles vermagst ... Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, du hättest es nicht geschaffen. Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre? Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens“ (Weish 11,23-26). Kann man denn nicht sagen, dass in diesen Worten des Buches der Weisheit durch das schöpferische „Sein“ Gottes bereits klar der Gott, der die Liebe ist (amor – caritas), durchscheint?
Aber betrachten wir andere Texte, wie z. B. den des Buches Jona: „Denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und voll Güte, und dass deine Drohungen dich reuen“ (Jon 4,2).
Oder auch den Psalm 145: „Der Herr ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Gnade. Der Herr ist gütig zu allen, sein Erbarmen waltet über all seinen Werken“ (Ps 145,8-9).
Je mehr wir in die Lektüre der Schriften der großen Propheten eindringen, umso mehr enthüllt sich uns das Gesicht Gottes als des Gottes, der die Liebe ist. So spricht der Herr durch den Mund des Jeremia zum Volk Israel: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt“ (Jer 31,3).
Und hier die Worte des Jesaja: „Zion sagt: Der Herr hat mich verlassen. Gott hat mich vergessen. Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, eine Mutter ihren eigenen Sohn? Und selbst wenn sie ihr Kind vergessen würde: Ich vergesse dich nicht“ (Jes 49,14-15).
Wie bezeichnend ist doch in den Worten Gottes dieser Bezug zur mütterlichen Liebe: Die Barmherzigkeit Gottes gibt sich nicht nur durch die Väterlichkeit zu erkennen, sondern auch durch die unvergleichliche Zartheit der Mütterlichkeit. Hören wir noch einmal Jesaja: „Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen und die Hügel zu wanken beginnen – meine Gnade wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken, spricht der Herr, der Erbarmen hat mit dir“ (Jes 54,10).
6. Diese wunderbare Vorbereitung, die von Gott in der Geschichte des Alten Bundes besonders mit Hilfe der Propheten getroffen wurde, wartete auf die endgültige Erfüllung. Und das endgültige Wort des Gottes, der die Liebe ist, kam mit Christus.
Es ist nicht nur ausgesprochen, sondern im Ostermysterium des Kreuzes und der Auferstehung gelebt worden. Das verkündet der Apostel: „Gott aber, der voll Erbarmen ist, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht. Aus Gnade seid ihr gerettet“ (Eph 2,4-5).
Wahrhaft können wir also unserem Glaubensbekenntnis an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erde, tiefsten Ausdruck verleihen mit der großartigen Definition des hl. Johannes: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,16).
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Liebe Brüder und Schwestern!
„Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,16). In dieser Aussage des ersten Johannesbriefes gipfelt der Glaube der Kirche an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde. Diese Wahrheit ist bereits in der Offenbarung des Alten Bundes andeutungsweise enthalten. Sie wird jedoch zur vollen Gewissheit mit dem Kommen Christi, mit seinem Kreuz und seiner Auferstehung: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt“, wie die Heilige Schrift sagt, „dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16).
Gott hat sich den Menschen nur schrittweise geoffenbart. Er zeigt seine Liebe durch seine Allmacht in der Schöpfung als der lebendige Gott, der allen Lebewesen das Leben schenkt. Er offenbart im Handeln mit den Menschen seine Eigenschaften: Gerechtigkeit, die er aber mit Nachsicht übt; vor allem Milde und Erbarmen. So heißt es im Buch der Weisheit: „Du hast mit allen Erbarmen, weil du alles vermagst ... Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast“ (Weish 11,23 ff.). Die Propheten lassen den Herrn sprechen: „Mit ewiger Liebe habe ich dich (Israel) geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt“ (Jer 31,3). „Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen ..., meine Huld wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken“ (Jes 54,10). Mit einer Vielzahl solcher und ähnlicher Aussagen bereitet das Alte Testament die uns in Christus geschenkte und durch seinen Tod und durch seine Auferstehung bezeugte volle Offenbarung der Glaubenswahrheit vor, dass Gott die Liebe selber ist.
Mit dieser kurzen Betrachtung grüße ich herzlich alle Audienzteilnehmer aus den Ländern deutscher Sprache: aus Deutschland, Osterreich und der Schweiz; vor allem die zahlreichen jugendlichen von den verschiedenen Gymnasien. Ich danke euch für euer Kommen und wünsche euch einen lebendigen Glauben und ein frohes Bekenntnis zu Christus und seiner Kirche.
Einen besonderen Willkommensgruß richte ich an die anwesenden Chöre, unter ihnen die Singknaben der St. Ursen-Kathedrale in Solothurn, wie auch an die Teilnehmer der Pilgerfahrt ”Rom im Rollstuhl“ aus den Bistümern Basel, Chur, Sankt Gallen und Sitten. Letzteren bekunde ich meine aufrichtige Verbundenheit und Anteilnahme an ihrem Lebensschicksal. Ich erbitte euch Trost und Stärke, damit ihr euer schweres Los als überzeugte Christen zu tragen und für die Menschen und die Kirche fruchtbar zu machen versteht. Euch und allen deutschsprachigen Pilgern erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.
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