JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 21. Mai 1986
1. Auf unserem Weg, tiefer in das Geheimnis Gottes als Vorsehung einzudringen, begegnen wir häufig der Frage: Wie kann der Mensch überhaupt frei sein, wenn Gott in allem gegenwärtig und wirksam ist? Und vor allem: Was bedeutet seine Freiheit und welche Aufgabe hat sie? Und wie ist jene bittere Frucht der Sünde, die aus einer irregeleiteten Freiheit herrührt, im Licht der göttlichen Vorsehung zu verstehen?
Wir knüpfen noch einmal an die feierliche Aussage des Ersten Vatikanums an: „Alles, was Gott schuf, schützt und leitet er mit seiner Vorsehung, die ihre Kraft machtvoll von einem Ende zum andern entfaltet und das All voll Güte durchwaltet“ (Weish 8,1). „Alles liegt nackt und bloß vor seinen Augen“ (Hebr 4,13), „selbst das, was aus freier Initiative der Geschöpfe stattfinden wird“ (DS 3003).
Das Mysterium der göttlichen Vorsehung ist tief in das gesamte Schöpfungswerk eingeschrieben. Als Ausdruck der ewigen Weisheit Gottes geht der Plan der Vorsehung dem Schöpfungswerk voraus; als Ausdruck seiner ewigen Macht leitet und verwirklicht er dieses Werk, ja, man kann gewissermaßen sagen, die Vorsehung selbst verwirklicht sich in ihm. Es ist eine transzendente, aber zugleich dem Geschaffenen, allem Geschaffenen immanente Vorsehung. Das gilt nach dem Konzilstext, den wir eben gelesen haben, vor allem im Hinblick auf die mit Verstand und freiem Willen ausgestatteten Geschöpfe.
2. Auch wenn die Vorsehung „machtvoll und voll Güte“ (fortiter et suaviter) die ganze Schöpfung durchwaltet, umfängt sie doch in besonderer Weise jene Geschöpfe, die Abbild und Gleichnis Gottes sind, und die sich aufgrund der ihnen vom Schöpfer gewährten Freiheit „der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ in dem vom Zweiten Vatikanischen Konzil verstandenen Sinn (vgl. GS 36) erfreuen. In den Bereich dieser Geschöpfe müssen auch die geschaffenen Wesen rein geistiger Natur einbezogen werden, von denen später die Rede sein wird. Sie bilden die unsichtbare Welt. In der sichtbaren Welt bildet der Mensch den Gegenstand der besonderen Aufmerksamkeit der göttlichen Vorsehung. Er ist, wie das Zweite Vatikanische Konzil lehrt, „auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur“ (GS 24) und kann eben darum „sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden“ (GS 24).
3. Die Tatsache, dass die sichtbare Welt durch die Erschaffung des Menschen gekrönt wird, erschließt uns völlig neue Perspektiven in Bezug auf das Geheimnis der göttlichen Vorsehung. Das hebt die dogmatische Erklärung des Ersten Vatikanischen Konzils hervor, wenn sie unterstreicht, dass vor den Augen der Weisheit und des Wissens Gottes alles „bloß“, „offen“ (aperta), ja geradezu „nackt“ (nuda) daliegt – auch das, was die mit Verstand ausgestattete Kreatur kraft ihrer Freiheit vollbringt: was also das Ergebnis einer bewussten Wahl und einer freien Entscheidung des Menschen sein wird. Auch in Bezug auf diesen Bereich bewahrt die göttliche Vorsehung ihre erhabene, erschaffende und ordnende Wirkursächlichkeit. Es ist die transzendente Überlegenheit der liebenden und aus Liebe machtvoll und mit Güte handelnden Weisheit und somit die Vorsehung, die ihr eigenes, so reich ausgestattetes Geschöpf mit väterlicher Sorge leitet, erhält und es unter Achtung der ihm gegebenen Freiheit seinem Ziel entgegenführt.
4. An diesem Punkt der Begegnung des ewigen Schöpfungsplanes Gottes mit der Freiheit des Menschen zeichnet sich zweifellos ein ebenso unergründliches wie verehrungswürdiges Geheimnis ab. Es ist das Geheimnis, das in der innigen, ontologischen und erst dann psychologischen Beziehung zwischen dem göttlichen Handeln und der selbstständigen menschlichen Entscheidung besteht. Wir wissen, dass diese Entscheidungsfreiheit zur natürlichen Dynamik des mit Verstand ausgestatteten Geschöpfes gehört.
Ebenso kennen wir aus Erfahrung die Tatsache der echten, wenn auch verletzten und geschwächten menschlichen Freiheit. Was ihren Zusammenhang mit der göttlichen Wirkursächlichkeit betrifft, ist es angebracht, daran zu erinnern, wie sehr der hl. Thomas von Aquin die Auffassung von der Vorsehung als Ausdruck der göttlichen Weisheit betont hat, die alle Dinge nach dem ihnen eingeschriebenen Zweck ordnet: „ratio ordinis rerum in finem“, „die vernunftgemäße Ordnung der Dinge nach ihrem Zweck“ (vgl. Summa Theologica, 22,1). Alles, was Gott erschafft, erhält diese Zweckbestimmtheit – und wird damit Gegenstand der göttlichen Vorsehung (vgl. Summa Theologica 1,22,2). In dem nach Gottes Abbild geschaffenen Menschen soll die ganze sichtbare Schöpfung Gott näherkommen und so den Weg ihrer endgültigen Vollendung wiederfinden. Diesem Gedanken, der u. a. bereits vom hl. Irenäus ausgesprochen wurde (vgl. Adv. Haereses 4,38; 1105–1109), folgt die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Entwicklung der Welt durch das Werk des Menschen (vgl. GS 7). Die wahre Entwicklung, die der Mensch in seiner Welt vollbringen soll, der Fortschritt also, darf nicht bloß „technischen“, sondern muss vor allem „ethischen“ Charakter haben, um in der geschaffenen Welt das Reich Gottes zu vollenden (vgl. GS 35, 43, 57, 62).
5. Der nach dem Abbild Gottes geschaffene Mensch ist die einzige sichtbare Kreatur, die der Schöpfer „um ihrer selbst willen“ gewollt hat (GS 24). In der Welt, die unter der transzendenten Weisheit und Macht Gottes steht, ist der Mensch, wenn auch auf Gott hin bestimmt, jedoch zugleich ein Wesen, das Selbstzweck ist: Er besitzt als Person eine eigene Finalität (eine selbstständige Zielgerichtetheit), kraft welcher er nach Selbstverwirklichung strebt. Mit einer Gabe bereichert, die auch eine Aufgabe darstellt, ist der Mensch hineingenommen in das Geheimnis der göttlichen Vorsehung. Im Buch Jesus Sirach lesen wir:
„Der Herr hat die Menschen aus Erde erschaffen … und gab ihnen Macht über alles auf der Erde … Er bildete ihnen Mund und Zunge, Auge und Ohr und ein Herz zum Denken. Mit kluger Einsicht erfüllte er sie und lehrte sie, Gutes und Böses zu erkennen. Er zeigte ihnen die Größe seiner Werke, um die Furcht vor ihm in ihr Herz zu pflanzen … Er hat ihnen Weisheit geschenkt und ihnen das Gesetz des Lebens gegeben …“ (Sir 17,1f.6–8.11).
6. Mit einer solchen, sozusagen „existentiellen“ Ausrüstung ausgestattet, tritt der Mensch seine Reise in die Welt an. Er beginnt, seine Geschichte zu schreiben. Die göttliche Vorsehung begleitet ihn auf dem ganzen Weg. Wir lesen wiederum im Buch Jesus Sirach: „Ihre Wege liegen allezeit offen vor ihm, sie sind nicht verborgen vor seinen Augen … Alle Taten stehen vor ihm wie die Sonne, seine Augen ruhen stets auf ihren Wegen“ (Sir 15,15.19).
Der Psalmist gibt derselben Wahrheit den ergreifenden Ausdruck: „Nehme ich die Flügel des Morgenrots und lasse mich nieder am äußersten Meer, auch dort wird deine Hand mich ergreifen und deine Rechte mich fassen“ (Ps 139,9). „… du hast mich erforscht und du kennst mich … Als ich geformt wurde im Dunkeln, … waren meine Glieder dir nicht verborgen …“ (Ps 139,1.15).
7. Die göttliche Vorsehung ist also in der Geschichte des Menschen gegenwärtig, in der Geschichte seines Denkens und seiner Freiheit, in der Geschichte der Herzen und der Gewissen. Im Menschen und mit dem Menschen gewinnt das Wirken der Vorsehung eine „geschichtliche“ Dimension in dem Sinn, dass sie dem Rhythmus der Entwicklung der menschlichen Natur folgt und sich den Gesetzen dieser Entwicklung anpasst, obgleich sie in der souveränen Transzendenz ihres ungewordenen Seins unverändert und unveränderlich bleibt. Die Vorsehung ist ein ewiges Anwesendsein in der Geschichte des Menschen: der einzelnen und der Gemeinschaften. Die Geschichte der Völker und des ganzen Menschengeschlechts entfaltet sich unter dem „Blick“ Gottes und unter seinem allmächtigen Wirken. Wenn auch alles, was geschaffen wurde, von der Vorsehung geschützt und geleitet wird, so bewahrt die Autorität Gottes voll väterlicher Sorge gegenüber den mit Verstand und Freiheit ausgestatteten Geschöpfen doch die volle Achtung der Freiheit, die in der geschaffenen Welt Ausdruck der Ebenbildlichkeit mit dem göttlichen Sein, mit der göttlichen Freiheit selber ist.
8. Die Achtung der Freiheit des Geschöpfes ist so wesentlich, dass Gott in seiner Vorsehung sogar die Sünde des Menschen (und des Engels) zulässt. Das mit Verstand ausgestattete Geschöpf, das unter allen anderen Kreaturen herausragt, aber doch immer mit Grenzen und Unvollkommenheit behaftet bleibt, kann seine Freiheit missbrauchen, kann sie gegen Gott, seinen Schöpfer, gebrauchen. Für den menschlichen Geist ein quälendes Thema, über das schon das Buch Jesus Sirach tiefschürfende Betrachtungen anstellt:
„Er (Gott) hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen. Wenn du willst, kannst du das Gebot halten; Gottes Willen zu tun, ist Treue. Feuer und Wasser sind vor dich hingelegt, streck deine Hände aus nach dem, was du begehrst! Der Mensch hat Leben und Tod vor sich, was er begehrt, wird ihm zuteil. Überreich ist die Weisheit des Herrn; stark und mächtig ist er und sieht alles. Die Augen Gottes schauen auf das Tun der Menschen, er kennt alle ihre Taten. Keinem gebietet er zu sündigen, und die Betrüger unterstützt er nicht“ (Sir 15,14–20).
9. „Wer bemerkt seine eigenen Fehler?“, fragt der Psalmist (Ps 19,13). Doch auch auf diese unerhörte Verweigerung des Menschen fällt das Licht der Vorsehung Gottes, damit wir lernen, einer solchen Ablehnung nicht schuldig zu werden.
In der Welt, in welcher der Mensch als mit Verstand und Freiheit ausgestattetes Wesen erschaffen wurde, war die Sünde nicht nur möglich, sondern hat sich „von Anfang an“ auch als eine reale Gegebenheit erwiesen. Die Sünde ist der radikale Widerstand gegen Gott; sie ist das, was Gott entschieden und absolut nicht will. Trotzdem hat er sie zugelassen, als er die freien Geschöpfe, als er den Menschen schuf. Er hat die Sünde zugelassen, die die Folge des Missbrauchs der geschöpflichen Freiheit ist. Aus dieser Tatsache, die wir aus der Offenbarung kennen und in ihren Konsequenzen erfahren, können wir schließen: In den Augen der transzendenten Weisheit Gottes war es im Hinblick auf die Zweckbestimmtheit der ganzen Schöpfung wichtiger, dass es in der geschaffenen Welt die Freiheit gäbe – auch auf die Gefahr ihres Missbrauchs hin –, als dass die Welt, um die Möglichkeit der Sünde von der Wurzel her auszuschließen, der Freiheit beraubt würde.
Wenn der Gott der Vorsehung zwar einerseits die Sünde zugelassen hat, so hat er andererseits mit der liebenden Sorge des Vaters von Ewigkeit her den Weg der Wiedergutmachung, der Erlösung, der Rechtfertigung und der Rettung durch die Liebe vorgesehen. Denn die Freiheit ist der Liebe zugeordnet: Ohne Freiheit kann es keine Liebe geben. Und im Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Sünde und Erlösung wird das letzte Wort die Liebe zu sprechen haben.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Wer recht an Gott glaubt, ist sich bewusst, dass all sein Denken, Wollen und Handeln stets von der göttlichen Vorsehung begleitet und durchdrungen ist. Nichts geschieht ohne Wissen und Willen Gottes. Das ist eindeutiger christlicher Glaube, wie er von der Heiligen Schrift und den Konzilien vielfältig bezeugt wird. Genauso lange aber stellt sich dem Verstand des Menschen die Frage, wie die echte Entscheidungsfreiheit des Menschengeschöpfes mit der allmächtigen Gestaltungskraft der göttlichen Vorsehung zusammengedacht werden könne.
Die Suche nach einer gedanklichen Lösung dieses Problems sollte uns aber nicht übersehen lassen, welche staunenswerte Wirklichkeit der Mensch nach unserer Glaubenserfahrung tatsächlich ist: ein mit Verstand und Freiheit ausgestattetes Geschöpf, das gerade durch diese Eigenschaften seinem Schöpfer ähnlich sein darf. Mit dieser Begabung aus der liebenden Hand Gottes ist der Mensch auf den Weg einer geschichtlichen Entwicklung gesandt, auf dem er die gesamte Schöpfung ordnend und liebend gestalten und dem Schöpfer entgegenführen soll.
Die Verwirklichung dieser großartigen Möglichkeit im Menschen ist dem Schöpfer so wertvoll, dass er dabei sozusagen in Kauf nimmt, dass der Mensch seine Freiheit auch missbrauchen kann und bewusst das Böse, das Gottwidrige, wählt. So bildet die Sünde den dunklen Hintergrund der leuchtenden Würde des freien und gerechten Menschen. Gerade wegen ihres gottgewollten hohen Adels ist die Menschennatur auch in der Lage, sich der Gottferne zuzuwenden und ihre Würde zu vergeuden.
Aber auch diese finstere Möglichkeit des Menschen, die leider oft zur Wirklichkeit wird, ist noch einmal von der liebenden Vorsehung Gottes umfangen: In Christus eröffnet er uns einen Weg zur Erlösung, zur Befreiung von selbstverordneter Fessel, von selbstgewollter Erniedrigung. Und es ist unsere feste Hoffnung, dass dieses ständige Ringen von Gut und Böse in der Geschichte des Menschen letztlich den Sieg des Guten sehen wird. Dank und Anbetung gebührt dem allmächtigen und weisen Gott, der seiner Schöpfung diese Möglichkeit ständig schenkt und sie durch die Kirche Christi auch heute bezeugen lässt.
Mit dieser kurzen Betrachtung über das Glaubensgeheimnis der göttlichen Vorsehung grüße ich sehr herzlich alle Einzelbesucher und Gruppen deutscher Sprache. Besonders erwähnen mochte ich heute die Romwallfahrt der Diözese Regensburg mit Beteiligung einiger Kirchenchöre: vielen Dank für euren musikalischen Gruß an diese Audienzgemeinschaft! Hervorheben möchte ich auch die aus Katholiken und Protestanten zusammengesetzte Gruppe vom ökumenischen Zentrum “Uno” der Fokolare-Bewegung hier in Rom. Euch allen erbitte ich die reichen Gaben des Heiligen Geistes für ein echtes christliches Lebenszeugnis. Der Herr sei mit euch und erleuchte euer Denken, Wollen und Handeln! Gelobt sei Jesus Christus!
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