JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 25. Februar
1. Während des Prozesses vor Pilatus verneint Jesus zunächst die Frage, ob er ein König sei: er sei es nicht im irdischen und politischen Sinn; dann, als ihn Pilatus zum zweiten Mal fragt, antwortet er: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege“ (Joh 18,37). Diese Antwort verbindet die königliche und priesterliche Sendung des Messias mit dem wesentlichen Merkmal der prophetischen Sendung. Denn der Prophet wird dazu berufen und gesandt, von der Wahrheit Zeugnis zu geben. Als Zeuge der Wahrheit spricht er im Namen Gottes. Er ist gewissermaßen die Stimme Gottes. Das war die Sendung der Propheten, die Gott die Jahrhunderte hindurch Israel sandte.
In der Gestalt des Königs und Propheten David ist in besonderer Weise das Prophetische mit der Berufung zum König verbunden.
2. Die Geschichte der Propheten des Alten Testaments lässt klar erkennen, dass ihre Aufgabe, die Wahrheit dadurch zu verkünden, dass sie im Namen Gottes sprechen, vor allem ein Dienst ist, sowohl in Bezug auf den göttlichen Auftraggeber wie auf das Volk, vor dem der Prophet als Gesandter Gottes auftritt. Daraus folgt, dass der prophetische Dienst nicht nur eine bedeutsame und ehrenvolle, sondern auch eine schwierige und mühsame Aufgabe ist. Ein deutliches Beispiel dafür ist das Schicksal des Propheten Jeremia, der in dem Maße auf Widerstand, Ablehnung und sogar Verfolgung stieß, in dem die von ihm verkündete Wahrheit unbequem war. Jesus selbst, der wiederholt auf die von den Propheten ertragenen Leiden Bezug nahm, hat sie persönlich in vollem Ausmaß erfahren.
3. Diese ersten Hinweise auf den Dienstcharakter der Sendung des Propheten führen uns gleichsam hin zur Gestalt des Gottesknechts (Ebed Jahwé), der uns bei Jesaja (genauer gesagt im sogenannten „Deuterojesaja“) begegnet. In dieser Gestalt findet die messianische Tradition des Alten Bundes besonders reichen und bedeutsamen Ausdruck, wenn wir in Betracht ziehen, dass der Gottesknecht, an dem vor allem die Wesensmerkmale des Propheten ins Auge fallen, in gewisser Weise auch die Würde des Priesters und des Königs in sich vereint. Jesajas Lieder vom Gottesknecht bieten eine alttestamentliche Synthese über den Messias, die für künftige Entwicklungen offen ist. Obwohl viele Jahrhunderte vor Christus geschrieben, dienen sie in erstaunlicher Weise zur Identifizierung seiner Gestalt, besonders was die Beschreibung des leidenden Gottesknechtes betrifft: ein derart zutreffendes und getreues Bild, dass man es — die Ereignisse des Paschamysteriums Christi vor Augen — geradezu als Porträt bezeichnen könnte.
4. Es ist zu beachten, dass die Bezeichnung „Knecht“, „Gottesknecht“ im Alten Testament oft verwendet wird. Viele herausragende Gestalten bezeichnen sich als „Knechte Gottes“ oder werden so genannt — so Abraham (Gen 26,24), Jakob (Gen 32,11), Mose, David, Salomo und die Propheten. Auch einigen heidnischen Persönlichkeiten, die in der Geschichte Israels eine Rolle spielen, erkennt die Heilige Schrift diese Bezeichnung zu: so z. B. Nebukadnezar (Jer 25,8–9) und Kyrus (Jes 44,27). Schließlich wird ganz Israel als Volk „Knecht Gottes“ genannt (vgl. Jes 41,8–9; 42,19; 44,21; 48,20); das entspricht einem Sprachgebrauch, dessen Widerhall wir auch im Lobgesang Mariens finden, die Gott preist, weil „er sich seines Knechtes Israel annimmt“ (Lk 1,54).
5. Was Jesajas Lieder vom Gottesknecht angeht, stellen wir vor allem fest, dass sie sich nicht auf ein Kollektiv, wie etwa ein Volk, beziehen, sondern auf eine einzelne Person, die der Prophet gewissermaßen vom sündigen Israel unterscheidet: „Seht, das ist mein Knecht“ — so lesen wir im ersten Lied —, „ich halte ihn an der Hand; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen. Ich habe meinen Geist in ihn gelegt, damit er den Völkern das Recht bringt. Er schreit nicht und lärmt nicht, und man hört seine Stimme nicht auf den Straßen. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus ... Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht verkündet hat“ (Jes 42,1–4). „Ich, der Herr, ... habe dich geschaffen und dazu bestimmt, was ich meinem Volk verhieß, zu vollbringen und ein Licht für die anderen Völker zu sein: blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen und alle, die im Dunkel sitzen, aus ihrer Haft zu befreien“ (Jes 42,6–7).
6. Das zweite Lied entwickelt denselben Gedanken weiter: „Hört auf mich, ihr Inseln, horcht, ihr Völker in der Ferne! Der Herr hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt. Er machte meinen Mund zu einem scharfen Schwert, er verbarg mich im Schatten seiner Hand. Er machte mich zum spitzen Pfeil und er steckte mich in seinen Köcher“ (Jes 49,1–2). „Und er sagte: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder zusammenzubringen ... Ich mache dich auch zum Licht aller Völker; bis ans Ende der Erde soll man meine rettende Hilfe erfahren“ (Jes 49,6). „Gott, der Herr, gab mir eine gelehrige Zunge, damit ich die Müden stärken kann durch ein aufmunterndes Wort“ (Jes 50,4). Und weiter: „Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen, Könige müssen vor ihm verstummen“ (Jes 52,15). „Mein Knecht ist gerecht, darum macht er viele gerecht; er nimmt ihre Schuld auf sich“ (Jes 53,11).
7. Diese zuletzt angeführten Texte, die zum dritten und vierten Lied gehören, bringen uns mit eindrucksvollem Realismus das Bild vom leidenden Knecht Gottes nahe, auf das wir später noch zurückkommen werden. Alles, was Jesaja sagt, scheint auf erstaunliche Weise das anzukündigen, was der heilige Greis Simeon am Lebensbeginn Jesu weissagen wird, wenn er das Kind als „Licht, das die Heiden erleuchtet“ und als „Zeichen, dem widersprochen wird“, begrüßt (vgl. Lk 2,32.34). Bereits im Buch Jesaja tritt uns die Gestalt des Messias als Prophet entgegen, der in die Welt kommt, um Zeugnis zu geben von der Wahrheit, und der sein Volk eben aufgrund dieser Wahrheit ablehnt, während er durch seinen Tod zur Ursache der Rechtfertigung für „viele“ wird.
8. Von Anbeginn der messianischen Tätigkeit Jesu finden die Lieder vom Knecht Gottes im Neuen Testament breiten Widerhall. Bereits die Beschreibung der Taufe im Jordan erlaubt es, eine Parallele zu den Texten des Jesaja zu ziehen. Matthäus schreibt: „Kaum war Jesus getauft ..., da öffnete sich der Himmel, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen“ (Mt 3,16); und bei Jesaja heißt es: „Ich habe meinen Geist in ihn gelegt“ (Jes 42,1). Der Evangelist fügt hinzu: „Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe“ (Mt 3,17), während bei Jesaja Gott von seinem Knecht sagt: „Das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen“ (Jes 42,1). Johannes der Täufer zeigt auf Jesus, der zum Jordan kommt, mit den Worten: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29), ein Ausruf, der das dritte und vierte Lied vom leidenden Gottesknecht gleichsam zusammenfasst.
9. Eine ähnliche Beziehung findet sich in dem Abschnitt, in dem Lukas die ersten, von Jesus in der Synagoge von Nazaret ausgesprochenen messianischen Worte wiedergibt; Jesus liest dabei den Text des Jesaja: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,17–19). Das sind die Worte des ersten Liedes vom Gottesknecht (Jes 42,1–7; vgl. auch Jes 61,1–2).
10. Wenn wir dann auf Leben und Dienst Jesu blicken, erscheint er uns als der Gottesknecht, der den Menschen Rettung bringt, sie heilt, sie von ihrer Schuld befreit, der sie nicht mit Gewalt, sondern mit Güte für sich gewinnen will. Das Evangelium, besonders das nach Matthäus, greift häufig auf das Buch Jesaja zurück, dessen prophetische Ankündigung sich in Christus verwirklicht, etwa wenn es erzählt: „Am Abend brachte man viele Besessene zu ihm. Er trieb mit seinem Wort die Geister aus und heilte alle Kranken. Dadurch sollte sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist: Er hat unsere Leiden auf sich genommen und unsere Krankheiten getragen“ (Mt 8,16–17; vgl. Jes 53,4). Und an anderer Stelle: „Viele folgten ihm, und er heilte alle Kranken … Auf diese Weise sollte sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist: Seht, das ist mein Knecht …“ (Mt 12,15–21); hier gibt der Evangelist einen langen Abschnitt aus dem ersten Lied vom Gottesknecht wieder.
11. Wie die Evangelien, so zeigt auch die Apostelgeschichte, dass die erste Generation der Jünger Christi, angefangen mit den Aposteln, zutiefst davon überzeugt ist: In Jesus hat sich alles erfüllt, was der Prophet Jesaja in seinen inspirierten Liedern vom Gottesknecht angekündigt hat, nämlich dass er der erwählte Gottesknecht ist (vgl. z. B. Apg 3,13; 3,26; 4,27; 4,30; 1 Petr 2,22–25), der die Sendung des Knechtes Jahwes erfüllt und das neue Gesetz bringt, der das Licht und der Bund für alle Völker ist (vgl. Apg 13,46–47). Dieselbe Überzeugung finden wir daher in der Didache wieder, im „Martyrium des hl. Polykarp“ und im ersten Brief des hl. Clemens von Rom.
12. Etwas sehr Wichtiges sei noch hinzugefügt: Jesus selbst spricht unter deutlicher Anspielung auf Jes 53 von sich als einem Knecht, wenn er sagt: „Auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45; Mt 20,28). Dieselbe Auffassung bringt er zum Ausdruck, indem er den Aposteln die Füße wäscht (vgl. Joh 13,3–4; 13,12–15).
Neben den Stellen aus dem ersten Lied vom Gottesknecht (Jes 42,1–7), die die Erwählung des Knechtes und seine prophetische Sendung der Befreiung, der Heilung und des Bundes für alle Menschen hervorheben, sowie den Anspielungen darauf, bezieht sich im Gesamttext des Neuen Testaments die Mehrzahl der Texte auf das dritte und vierte Lied (Jes 50,4–11; 52,13–53,12) vom leidenden Gottesknecht. Es ist derselbe Gedanke, den der hl. Paulus im Brief an die Philipper zusammenfassend formuliert, wenn er Christus preist: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich … er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod“ (Phil 2,6–8).
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Liebe Brüder und Schwestern!
Jesus Christus als der im Alten Testament verheißene Messias vereinigt in sich die Würde des Königs, des Priesters und des Propheten. Unsere heutigen Überlegungen gelten seiner prophetischen Sendung. Vor Pilatus bekennt Jesus: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege“ (Joh 18,37). Dies ist die spezifische Sendung des Propheten. Er bezeugt die Wahrheit und spricht als Gesandter Gottes. Dafür erleidet er vonseiten der Menschen oft Ablehnung und Verfolgung.
Jesaja beschreibt diese Sendung des Propheten besonders anschaulich in der Gestalt des Gottesknechtes. Seine Lieder vom Gottesknecht bieten eine alttestamentliche Synthese über den Messias. Obwohl auch ganz Israel mitunter „Knecht Gottes“ genannt wird, bezieht sich diese Bezeichnung bei Jesaja auf eine einzelne Person. Dort heißt es von ihr: „Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze … Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt“ (Jes 42,1). Oder an einer anderen Stelle: „Der Herr hat mich schon im Mutterleib berufen … Ich mache dich zum Licht für die Völker, damit mein Heil bis ans Ende der Erde reicht“ (Jes 49,1.6).
Das Neue Testament nimmt sehr oft Bezug gerade auf den Propheten Jesaja und zeigt, wie in Jesus Christus seine Aussagen über den Gottesknecht sich erfüllen. Der greise Simeon preist Christus als „Licht, das die Heiden erleuchtet“, als „Zeichen, dem widersprochen wird“ (Lk 2,32.34). Bei der Taufe steigt der Geist Gottes sichtbar auf ihn herab (vgl. Mt 3,16). Und Johannes der Täufer verkündet ihn als das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29). Christus selbst bezeichnet sich als den Menschensohn, der gekommen ist, „sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Im ganzen Neuen Testament erscheint Jesus Christus als der erwählte Gottesknecht, in dem sich die prophetische Gestalt des Gottesknechtes bei Jesaja erfüllt und Wirklichkeit wird zum Heil der Menschen.
Herzlich grüsse ich hiermit alle Pilger aus den Ländern deutscher Sprache, alle genannten Gruppen, aber auch die Familien und einzelnen Besucher, besonders die Ordensschwestern des geistlichen Erneuerungskurses in La Storta. Bemüht euch darum, Jesus Christus im Glauben immer mehr kennenzulernen. Er schenke euch seine Liebe und führe euch immer tiefer in seine Nachfolge. Das erbitte ich euch allen von Herzen mit meinem besonderen Apostolischen Segen.
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