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JOHANNES PAUL II.

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 1. Juli 1987

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1. Vielleicht gibt es keinen besseren Ausdruck für die Selbstoffenbarung Gottes im Sohn als das Wort „Abba — Vater“. „Abba“ ist ein aramäischer Ausdruck, der im griechischen Text des Markusevangeliums (Mk 14,36) beibehalten wurde. Er taucht genau dort auf, wo Jesus sich an den Vater wendet. Und obwohl man es in allen Sprachen übersetzen kann, gibt er seinen einzigartigen, unwiderruflichen Inhalt am besten auf den Lippen Jesu von Nazaret wieder.

2. In der Tat bringt „Abba“ nicht nur das traditionelle Gotteslob zum Ausdruck: „Ich preise dich, Herr, Vater des Himmels und der Erde“ (Mt 11,25), sondern offenbart aus dem Mund Jesu auch das Bewusstsein von der einmaligen und ausschließlichen Beziehung, die zwischen dem Vater und ihm, zwischen ihm und dem Vater besteht. „Abba“ drückt dieselbe Wirklichkeit aus, auf die Jesus in so schlichter und zugleich außerordentlicher Weise mit den Worten anspielt, die im Text des Matthäusevangeliums (Mt 11,27) und auch in jenem des Lukas (Lk 10,22) erhalten geblieben sind: „Niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will.“ Das heißt, die Bezeichnung „Abba“ gibt nicht nur Zeugnis vom Geheimnis des wechselseitigen Bandes zwischen dem Vater und dem Sohn, sondern fasst gewissermaßen die ganze Wahrheit vom inneren Leben Gottes in seiner trinitarischen Tiefe zusammen: jenes wechselseitige Erkennen des Vaters und des Sohnes, aus dem die ewige Liebe hervorgeht.

3. Das Wort „Abba“ gehört zum Sprachgebrauch innerhalb einer Familie und bezeugt diese besondere Einheit von Personen, die zwischen dem Vater und dem von ihm gezeugten Sohn besteht, zwischen dem Sohn, der den Vater liebt und von ihm geliebt wird. Als Jesus sich dieses Wortes bediente, um von Gott zu sprechen, musste er unter seinen Zuhörern Verwunderung und sogar Empörung hervorrufen. Ein Jude hätte nicht einmal im Gebet davon Gebrauch gemacht. Nur wer sich im eigentlichen Sinn für den Sohn Gottes hielt, konnte über Ihn und zu Ihm als dem Vater, „Abba“, d. h. „mein Vater“, „Vati“, „Papa“, sprechen.

4. Bei Jeremias heißt es an einer Stelle, Gott erwarte, als Vater angerufen zu werden: „Ich dachte, du würdest mich Vater nennen“ (Jer 3,19). Dies ist wie eine Prophezeiung, die sich in den messianischen Zeiten erfüllen sollte. Jesus von Nazaret verwirklichte und überstieg sie, indem er von sich in Bezug auf Gott als von dem sprach, der „den Vater kennt“, und sich dabei der kindlichen Ausdrucksweise „Abba“ bediente. Er spricht ständig vom Vater und ruft zum Vater wie einer, der das Recht hat, sich an ihn einfach mit dem Anruf „Abba — mein Vater“ zu wenden.

5. All dies wurde von den Evangelisten aufgezeichnet. Vor allem im Markusevangelium ist zu lesen, dass Jesus, als er in Getsemani betete, ausrief: „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst“ (Mk 14,36). Die Parallelstelle bei Matthäus lautet: „Mein Vater“, d. h. „Abba“, obwohl das aramäische Wort nicht buchstäblich wiederholt wird (vgl. Mt 26,39–42). Auch wenn der Text des Evangeliums sich auf „Vater“ allein beschränkt (wie in Lk 22,42, und auch in einem anderen Zusammenhang bei Joh 12,27), ist der wesentliche Inhalt der gleiche.

6. Jesus hat seine Zuhörer verstehen gelehrt, dass das Wort „Gott“ und insbesondere das Wort „Vater“ aus seinem Mund „Abba“ — „mein Vater“ bedeutete. Dies gilt schon von seiner Kindheit an; so sagte der knapp zwölfjährige Jesus zu seinen Eltern, die ihn drei Tage lang gesucht hatten: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ (Lk 2,49). Und am Ende seines Lebens, im Hohepriesterlichen Gebet, mit dem er seine Sendung beschließt, besteht er darauf, Gott zu bitten: „Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht“ (Joh 17,1). „Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast“ (Joh 17,11). „Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt, ich aber habe dich erkannt“ (Joh 17,25). Bereits in der Ankündigung der Letzten Dinge im Gleichnis vom Weltgericht erscheint er als derjenige, der sagt: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid …“ (Mt 25,34). Am Kreuz spricht er jene letzten Worte: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46).

Als Auferstandener schließlich kündigt er seinen Jüngern an: „Und ich werde die Gabe, die mein Vater verheißen hat, zu euch absenden“ (Lk 24,49).

7. Jesus Christus, der mit so viel Tiefe „den Vater erkennt“, ist gekommen, den Menschen, die der Vater ihm gegeben hat, seinen Namen zu offenbaren (vgl. Joh 17,6). Ein besonderer Augenblick dieser Offenbarung des Vaters ist die Antwort, die er seinen Jüngern gibt, als sie ihn bitten: „Lehre uns beten!“ (vgl. Lk 11,1). Da spricht er ihnen das Gebet vor, das mit den Worten „Unser Vater“ (Mt 6,9–13) oder „Vater“ (Lk 11,2–4) beginnt. Durch die Offenbarung dieses Gebetes erkennen die Jünger, dass sie in besonderer Weise an der Gotteskindschaft teilhaben, von der der Apostel Johannes im Prolog seines Evangeliums sagen wird: „Allen aber, die ihn aufnahmen (d. h. allen, die das Wort, ‚das Fleisch geworden ist‘, aufnahmen), gab er Macht, Kinder Gottes zu werden“ (Joh 1,12). Seiner eigenen Weisung entsprechend, beten sie deshalb zu Recht: „Vater unser“.

8. Jesus unterscheidet aber immer zwischen „meinem Vater“ und „eurem Vater“. Auch nach der Auferstehung sagt er zu Maria von Magdala: „Geh … zu meinen Brüdern, und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (Joh 20,17). Weiter ist zu beachten, dass an keiner Stelle des Evangeliums zu lesen ist, Jesus habe seinen Jüngern empfohlen, mit dem Wort „Abba“ zu beten. Dieses betrifft ausschließlich seine persönliche Beziehung als Sohn zum Vater. Zugleich ist jedoch der „Abba“ Jesu wirklich auch derjenige, der „unser Vater“ ist, wie aus dem Gebet hervorgeht, das er die Jünger lehrte. Er ist es durch Teilhabe oder, besser, durch Adoption, wie die Theologen aus der Schule des hl. Paulus lehren werden, der im Brief an die Galater schreibt: „Gott sandte seinen Sohn …, damit wir die Sohnschaft erlangen“ (Gal 4,4 f.; vgl. Thomas v. Aquin, III, q. 23, aa. 1 und 2).

9. In diesem Zusammenhang muss man auch die folgenden Worte aus dem Brief an die Galater lesen und auslegen: „Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater“ (Gal 4,6). Dazu kommen die Worte aus dem Brief an die Römer: „Ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, … sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!“ (Röm 8,15). Wenn wir deshalb als Adoptivkinder (adoptiert in Christus „Söhne im Sohn“, sagt der hl. Paulus, vgl. Röm 8,29) Gott als „Vater“ und „unseren Vater“ anrufen, beziehen sich diese Worte auf denselben Gott, zu dem Jesus mit unvergleichlicher Vertraulichkeit sagte: „Abba, … mein Vater“.

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Liebe Brüder und Schwestern!

Auch euch möchte ich bitten, mit mir einige Augenblicke nachzusinnen über das tiefe Geheimnis der Person Jesu von Nazaret, das besonders deutlich wird, wenn er von seinem Vater spricht und damit Gott selbst meint. Jesus hat dabei in seiner aramäischen Muttersprache ein Wort gebraucht, das seinen Zuhörern so sehr aufgefallen sein muss, dass es der Evangelist Markus sogar in den griechischen Text seines Evangeliums übernommen hat.

Dieses Wort heißt „Abba“ — „mein Vater“. Es gehört zur intimen Sprache in der Familie und will dem ganz engen, von Liebe und Achtung getragenen Verhältnis von Vater und Sohn Ausdruck geben. Ein gläubiger Jude hätte es kaum gewagt, sich mit diesem intimen Wort „Abba“ an den alles überragenden Gott zu wenden. Und so zeigt uns Jesus gerade durch den Gebrauch dieses Wortes, wie unendlich nahe und eng er sich Gott verbunden weiß. Hier offenbart uns der Herr seine einmalige Einheit mit Gott, wie er sie in jenen Worten weiter ausgeführt hat, die wir zu Beginn dieser Audienz gehört haben; betend spricht Jesus: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde … Niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will“ (Mt 11,25.27).

Und tatsächlich hat uns Jesus den Vater im Himmel, seinen eigenen göttlichen Vater, offenbaren wollen. So will er uns in seine liebende Gemeinschaft mit Gott hineinnehmen. Der Apostel Paulus wird sagen, dass Gott uns gleichsam wie „Adoptivkinder“ seinem eingeborenen, wesensgleichen Sohn als Brüder und Schwestern an die Seite stellt, nachdem dieser unsere Menschennatur angenommen hat.

Besonders eindrucksvoll wird uns diese „Adoption“ deutlich, wenn Jesus uns auf die Bitten der Jünger ein Gebet schenkt, in dem wir diese neue, ungeahnte Beziehung zu Gott ausdrücken dürfen: Es ist das „Vaterunser“. Betet es oft und innig; sucht dabei bewusst die geistige Gemeinschaft mit Jesus Christus, damit euer Beten von seiner Liebe und Treue zu Gott umfangen werde und so eine Tiefe erhalte, die wir, auf uns allein gestellt, ihm nie geben könnten. — Gern schließe ich eure Anliegen auch in mein Beten ein und segne euch alle von Herzen.