JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 22. Juli 1987
1. Jesus Christus ist der Sohn, der mit dem Vater innig vereint ist; der Sohn, der ganz „durch den Vater lebt“ (vgl. Joh 6,57); der Sohn, dessen ganzes Erdendasein vorbehaltlos dem Vater geschenkt wird. An diese Themen der vergangenen Katechesen knüpft die heutige Katechese eng an, wenn sie das Gebet Jesu behandelt. Gerade im Gebet wird die Tatsache besonders deutlich, dass der Sohn mit dem Vater innig vereint ist, sich ihm schenkt und auf ihn mit seiner ganzen menschlichen Existenz ausgerichtet ist. Das heißt, dass das Thema vom Gebet Jesu bereits in den voraufgegangenen Themen mitgesagt war, so dass man davon sprechen kann, dass Jesus von Nazaret „allzeit betete und darin nicht nachließ“ (vgl. Lk 18,1). Das Gebet war das Leben seiner Seele, und sein ganzes Leben war Gebet. Die Menschheitsgeschichte kennt keine andere Gestalt, die in solcher Fülle und auf solche Weise mit Gott im Zwiegespräch verweilte wie Jesus von Nazaret: der Menschensohn und zugleich Sohn Gottes, „eines Wesens mit dem Vater“.
2. In den Evangelien gibt es jedoch Stellen, die das Gebet Jesu hervorheben und ausdrücklich davon sprechen, dass „Jesus betete“. Dies geschieht zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten und unter verschiedenen Umständen. So z. B.: „In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten“ (Mk 1,35). Dies tat er nicht nur zu Beginn des Tages (als Morgengebet), sondern auch im Laufe des Tages und am Abend, ganz besonders aber nachts. So lesen wir: „Sein Ruf verbreitete sich immer mehr, sodass die Menschen von überall herbeiströmten. Sie alle wollten ihn hören und von ihren Krankheiten geheilt werden. Doch er zog sich an einen einsamen Ort zurück, um zu beten“ (Lk 5,15–16). Und ein andermal: „Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Spät am Abend war er immer noch allein auf dem Berg“ (Mt 14,23).
3. Die Evangelisten unterstreichen die Tatsache, dass das Gebet die besonders wichtigen Ereignisse im Leben Christi begleitet: „Zusammen mit dem ganzen Volk ließ auch Jesus sich taufen. Und während er betete, öffnete sich der Himmel …“ (Lk 3,21). Hier folgt die Beschreibung der Theophanie, die sich während der Taufe Jesu im Jordan ereignete. In ähnlicher Weise leitet das Gebet die Theophanie auf dem Berg der Verklärung ein: „Jesus nahm Petrus, Johannes und Jakobus beiseite und stieg mit ihnen auf einen Berg, um zu beten. Und während er betete, veränderte sich das Aussehen seines Gesichtes …“ (Lk 9,28–29).
4. Das Gebet war auch Vorbereitung auf wichtige Entscheidungen und bedeutende Augenblicke in Hinsicht auf die messianische Sendung Christi. So zieht er sich, bevor er an die Öffentlichkeit tritt, in die Wüste zurück, um zu fasten und zu beten (vgl. Mt 4,1–11 und par.); und auch vor der Wahl der Apostel ging Jesus „auf einen Berg, um zu beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott. Als es Tag wurde, rief er seine Jünger zu sich und wählte aus ihnen zwölf aus; sie nannte er auch Apostel“ (Lk 6,12–13). Ebenso vor dem Bekenntnis des Petrus bei Cäsarea Philippi: „Jesus betete einmal in der Einsamkeit, und die Jünger waren bei ihm. Da fragte er sie: Für wen halten mich die Leute? Sie antworteten: Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija; wieder andere sagen: Einer der alten Propheten ist auferstanden. Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Petrus antwortete: Für den Messias Gottes“ (Lk 9,18–20).
5. Tief ergreifend ist das Gebet vor der Auferweckung des Lazarus: „Jesus erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herumsteht, habe ich es gesagt, denn sie sollen glauben, dass du mich gesandt hast“ (Joh 11,41–42).
6. Das Gebet beim Letzten Abendmahl (das sogenannte Hohepriesterliche Gebet) sollte man hier ganz wiederholen. Wir wollen versuchen, wenigstens die Stellen zu berücksichtigen, die in den voraufgegangenen Katechesen noch nicht erwähnt worden sind, und zwar: „Jesus … erhob seine Augen zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht. Denn du hast ihm Macht über alle Menschen gegeben, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt“ (Joh 17,1–2). Jesus betet für das, was das wesentliche Ziel seiner Sendung ist: die Ehre Gottes und das Heil der Menschen. Und er fügt hinzu: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast. Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und das Werk zu Ende geführt, das du mir aufgetragen hast. Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war“ (Joh 17,3–5).
7. Indem er das Gebet weiterführt, gibt der Sohn dem Vater beinahe Rechenschaft über seine Sendung auf Erden: „Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie gehörten dir, und du hast sie mir gegeben, und sie haben an deinem Wort festgehalten. Sie haben jetzt erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist“ (Joh 17,6–7). … Dann fügt er hinzu: „Für sie bitte ich; nicht für die Welt bitte ich, sondern für alle, die du mir gegeben hast; denn sie gehören dir …“ (Joh 17,9). Es sind jene, die das Wort Christi „aufgenommen haben“, jene, die „geglaubt haben“, dass ihn der Vater gesandt hat. Jesus bittet vor allem für sie, denn „sie sind in der Welt, und ich gehe zu dir“ (Joh 17,11). Er bittet, dass „sie eins seien“, dass „niemand verloren gehe“ (und hier erinnert der Meister an den „Sohn des Verderbens“), damit sie „meine Freude in Fülle in sich haben“ (vgl. Joh 17,13). Während die Jünger im Hinblick auf seinen Abschied in der Welt bleiben müssen und gehasst werden, weil sie wie ihr Meister „nicht von der Welt sind“, bittet Jesus: „Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst“ (Joh 17,15).
8. Und weiter bittet Jesus im Abendmahlsgebet für die Jünger: „Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. Und ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind“ (Joh 17,17–19). Dann schließt Jesus in dasselbe Gebet die kommenden Generationen seiner Jünger ein. Er betet vor allem um die Einheit, „damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und die Meinen ebenso geliebt hast wie mich“ (Joh 17,23). Gegen Ende seines Gebetes kommt Jesus auf die zuvor ausgesprochenen Hauptgedanken zurück und betont noch stärker ihre Bedeutung. In diesem Zusammenhang bittet er für alle, die ihm der Vater „gegeben“ hat, damit sie „dort bei mir sind, wo ich bin. Sie sollen meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast, weil du mich schon geliebt hast vor der Erschaffung der Welt“ (Joh 17,24).
9. Das Hohepriesterliche Gebet Jesu ist wirklich die Synthese jener Selbstoffenbarung Gottes im Sohn, die im Mittelpunkt der Evangelien steht. Der Sohn spricht zum Vater im Namen jener Einheit, die er mit ihm bildet („Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir“: Joh 17,21). Zugleich betet er darum, dass sich die Früchte der Heilssendung, um derentwillen er in die Welt gekommen ist, unter den Menschen verbreiten. So offenbart er das Geheimnis der Kirche (mysterium Ecclesiae), das seiner Heilssendung entspringt, und er betet darum, dass es sich zukünftig inmitten der „Welt“ entwickle. Er öffnet den Ausblick auf die Herrlichkeit, zu der all jene zusammen mit ihm berufen sind, die sein Wort „aufnehmen“.
10. Wenn man im Gebet des Letzten Abendmahls Jesus zum Vater als seinen „wesensgleichen“ Sohn sprechen hört, so tritt kurz danach im Gebet von Getsemani vor allem seine Wahrheit als Menschensohn in Erscheinung. „Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht“ (Mk 14,34), sagt er zu den Seinen, als er den Ölberg betritt. Allein gelassen, wirft er sich zu Boden, und Worte seines Gebetes zeigen die Tiefe seines Leidens. So sagt er: „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst“ (Mk 14,36).
11. Auf dieses Gebet in Getsemani scheinen sich besonders die Worte des Hebräerbriefes zu beziehen: „Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte.“ Und der Autor des Briefes fügt hinzu: „Er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden“ (Hebr 5,7). Ja, auch das Gebet in Getsemani wurde erhört, denn auch darin ist – bei aller echt menschlichen Haltung dem Leiden gegenüber – vor allem die Einheit Jesu mit dem Vater zu spüren, in dem Willen, der am Ursprung seiner Heilssendung steht: die Welt zu erlösen.
12. Gewiss betete Jesus unter den verschiedenen Umständen, die der Tradition und dem religiösen Gesetz Israels entsprachen – als er als Zwölfjähriger mit den Verwandten zum Tempel von Jerusalem zog (vgl. Lk 2,41 ff.); oder als er, wie die Evangelisten berichten, „wie gewohnt am Sabbat in die Synagoge“ ging (vgl. Lk 4,16). Besondere Aufmerksamkeit verdient jedoch das, was die Evangelien über das persönliche Gebet Christi sagen. Die Kirche hat dies nie vergessen und findet im persönlichen Dialog Christi mit Gott Quelle, Anregung und Kraft für ihr eigenes Gebet. Wenn Jesus betet, dann zeigt sich in persönlichster Weise das Geheimnis des Sohnes, der ganz „durch den Vater lebt“, in inniger Einheit mit ihm.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Als Sohn Gottes steht Christus in einem sehr innigen Verhältnis zu seinem himmlischen Vater. Das zeigt sich in besonderer Weise in seinen Gebeten. Sein ganzes Leben und Wirken ist begleitet und geprägt vom Gebet. Immer wieder berichten die Evangelien, dass Jesus sich an einen einsamen Ort zurückzog, um zu beten. So zum Beispiel Matthäus: „Nachdem er sie (die Jünger) weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten“ (Mt 14,23). Ebenso begleitet Jesus auch alle wichtigen Ereignisse und Entscheidungen mit seinem Gebet: seine Taufe im Jordan, seine Verklärung auf dem Berg Tabor und die Wahl der Apostel. Von letzterer sagt Lukas: „In diesen Tagen ging Jesus auf einen Berg, um zu beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott. Als es Tag wurde, rief er seine Jünger zu sich und wählte aus ihnen zwölf aus“ (Lk 6,12–13). Das wichtigste und ausführlichste Gebet Jesu finden wir beim Letzten Abendmahl: das Hohepriesterliche Gebet. Christus betet darin für die zwei wesentlichen Anliegen seiner Sendung: für die Verherrlichung Gottes und das Heil der Menschen. Er bittet: „Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit dein Sohn dich verherrlicht“ (Joh 17,1). Bei seinem Gebet für die Jünger bittet er vor allem um ihre Einheit, „damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,23). Während das Hohepriesterliche Gebet uns Christus in seiner innigen Gemeinschaft und Vertrautheit mit seinem Vater offenbart, begegnen wir bei seinem Gebet im Garten von Getsemani Jesus vor allem in seiner Menschlichkeit, in seiner Verlassenheit und in seinem Leiden: „Abba, Vater, … Nimm diesen Kelch von mir. Aber nicht, was ich will, sondern was du willst, soll geschehen“ (Mk 14,36).
Liebe Brüder und Schwestern, mit einem herzlichen Willkommensgruß zu dieser Audienz empfehle ich heute den betenden Jesus eurer persönlichen Betrachtung und Nachahmung. Christus ermahnt auch uns ausdrücklich im Evangelium, ”daß wir allezeit beten und darin nicht nachlassen sollen“. Diese Einladung Jesu richte ich heute besonders an die Gruppe der Schwestern des göttlichen Erlösers, die in Rom zu ihrem Generalkapitel versammelt sind. Gerade bei Ordensleuten muß das ständige Gebet die Seele ihres täglichen Lebens und Wirkens sein. Von Herzen erteile ich euch und allen Pilgern deutscher Sprache meinen besonderen Apostolischen Segen.
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