JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 9. Dezember 1987
1. Als „Zeichen“ der göttlichen Allmacht und der Heilsmacht des Menschensohnes sind die von den Evangelien berichteten Wunder auch die Offenbarung der Liebe Gottes zum Menschen, insbesondere zum Menschen, der leidet, der in der Not ist, der um Heilung, Verzeihung und Erbarmen bittet. Sie sind deshalb „Zeichen“ der erbarmenden Liebe, die im Alten und Neuen Testament verkündet wird (vgl. Dives in misericordia). Vor allem beim Lesen des Evangeliums verstehen und „fühlen“ wir beinahe, dass die Wunder Jesu ihren Ursprung in dem liebenden und erbarmungsvollen Herzen Gottes haben, das in seinem eigenen Menschenherzen lebt und pulsiert. Jesus vollbringt sie, um jede Art des Übels, das auf der Welt besteht, zu überwinden: das leibliche Übel, das moralische Übel, d. h. die Sünde, und schließlich den, der „der Vater der Sünde“ in der Geschichte des Menschen ist: den Satan.
Die Wunder geschehen deshalb „zugunsten des Menschen“. Sie sind Werke Jesu, die im Einklang mit dem Heilsziel seiner Sendung das Gute dort wiederherstellen, wo sich das Böse eingenistet und Unordnung und Zerstörung hervorgerufen hat. Die Menschen, an denen die Wunder gewirkt werden oder die ihnen beiwohnen, sind sich dieser Tatsache bewusst, und zwar so sehr, dass sie nach Markus „außer sich vor Staunen“ sagten: „Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen“ (Mk 7,37).
2. Aus einer aufmerksamen Prüfung der Evangeliumstexte geht hervor, dass die „Wunder und Zeichen“ des Menschensohnes sich aus keinem anderen Beweggrund als der Liebe zum Menschen, der erbarmenden Liebe, erklären lassen. Im Alten Testament ließ Elija „Feuer vom Himmel“ fallen, um seine Macht als Prophet zu bekräftigen und den Unglauben zu bestrafen (vgl. 2 Kön 1,10). Als die Apostel Jakobus und Johannes Jesus veranlassen wollten, ein samaritisches Dorf, das ihnen die Gastfreundschaft verweigerte, durch „ein Feuer vom Himmel“ zu bestrafen, verbot er ihnen entschieden, ein solches Ansuchen zu stellen. Der Evangelist sagt, dass „Jesus sich umwandte und sie zurechtwies“ (vgl. Lk 9,55). Viele Kodizes und die Vulgata fügen hinzu: „Ihr wisst nicht, welchen Geistes ihr seid. Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, die Seelen der Menschen zu verlieren, sondern um sie zu retten.“ Jesus hat nie ein Wunder gewirkt, um jemanden zu bestrafen, auch nicht die, die sich schuldig gemacht hatten.
3. In diesem Zusammenhang ist die Einzelheit bedeutsam, die mit der Verhaftung Jesu im Garten von Getsemani verbunden ist. Petrus war bereit, den Meister mit dem Schwert zu verteidigen; er „zog es, schlug nach dem Diener des Hohenpriesters und hieb ihm das rechte Ohr ab; der Diener hieß Malchus“ (Joh 18,10). Aber Jesus verbot ihm den Gebrauch des Schwertes. Ja, „er berührte das Ohr und heilte den Mann“ (Lk 22,51); ein weiterer Beweis, dass Jesus die wunderwirkende Fähigkeit nicht zur eigenen Verteidigung gebraucht. Und er sagt zu seinen Jüngern, er wolle den Vater nicht darum bitten, ihm „mehr als zwölf Legionen Engel zu schicken“, damit er ihn vor den anstürmenden Feinden rette (vgl. Mt 26,53). Alles, was er tut, auch wenn er Wunder wirkt, tut er in enger Verbindung mit dem Vater. Er tut es für das Gottesreich und zum Heil des Menschen. Er tut es aus Liebe.
4. Deshalb weist er schon zu Beginn seiner messianischen Sendung alle vom Versucher gemachten „Vorschläge“ zu einem Wunder zurück, angefangen von dem, aus Steinen Brot werden zu lassen (vgl. Mt 4,3–4). Die Vollmacht des Messias wurde ihm nicht um der Auffälligkeit oder des eitlen Ruhmes willen gegeben. Er ist gekommen, um „für die Wahrheit Zeugnis abzulegen“ (vgl. Joh 18,37), ja, er ist sogar „die Wahrheit“ (vgl. Joh 14,6), und er wirkt immer in voller Übereinstimmung mit seiner Heilssendung. Alle seine „Wunder und Zeichen“ bringen diese Übereinstimmung im Rahmen des „messianischen Geheimnisses“ Gottes zum Ausdruck, der sich sozusagen in der Natur eines Menschensohnes verborgen hat, wie die Evangelien, besonders das des Markus, zeigen. Wenn in den Wundern fast immer die göttliche Vollmacht aufblitzt, die die Jünger und die Leute manchmal erfassen, so dass sie in Christus den „Sohn Gottes“ erkennen und lobpreisen, so entdeckt man andererseits auch die Güte, die Lauterkeit und die Schlichtheit, die die augenscheinlichsten Gaben des „Menschensohnes“ sind.
5. In der Weise, in der die Wunder vollbracht werden, merkt man die große Schlichtheit Jesu, man könnte sagen: seine Demut, Freundlichkeit und seine Rücksichtnahme. Wie viel geben uns in dieser Hinsicht die Worte zu denken, die Jesus bei der Auferweckung der Tochter des Jairus sprach: „Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur“ (Mk 5,39), als wolle er die Bedeutung dessen, was er im Begriff war zu tun, abschwächen. Dann schärfte er ihnen ein, „niemand dürfe etwas davon erfahren“ (Mk 5,43). Dasselbe tat er auch in anderen Fällen, z. B. nach der Heilung eines Taubstummen (vgl. Mk 7,36) und nach dem Messiasbekenntnis des Petrus (Mk 8,29–30).
Bedeutsam ist, dass Jesus, um den Taubstummen zu heilen, „ihn beiseite, von der Menge weg nahm“. „Danach blickte er zum Himmel auf, seufzte …“. Dieser „Seufzer“ scheint ein Zeichen des Mitleids und zugleich des Gebets zu sein. Das Wort „Effata!“ (Öffne dich!) bewirkt, dass „sich die Ohren des Taubstummen öffneten und seine Zunge von ihrer Fessel befreit wurde“ (vgl. Mk 7,33–35).
6. Wenn Jesus einige seiner Wunder am Tag des Sabbat vollbringt, tut er es nicht, um den sakralen Charakter des Gott geweihten Tages zu verletzen, sondern um zu zeigen, dass dieser geheiligte Tag in besonderer Weise vom Heilswirken Gottes gekennzeichnet ist. „Mein Vater ist noch immer am Werk, und auch ich bin am Werk“ (Joh 5,17). Und dieses Wirken geschieht zum Wohl des Menschen und steht deshalb nicht im Gegensatz zur Heiligkeit des Sabbat, sondern hebt sie hervor: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat. Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat“ (Mk 2,27–28).
7. Wenn man den Bericht des Evangeliums über die Wunder Jesu annimmt — und es besteht kein Grund, ihn nicht anzunehmen, ausgenommen das Vorurteil gegen das Übernatürliche —, kann man eine einzige Logik nicht in Zweifel ziehen, die alle diese „Zeichen“ verbindet und der Heilsökonomie Gottes entspringen lässt: Sie dienen der Offenbarung seiner Liebe zu uns, der erbarmenden Liebe, die das Böse durch das Gute überwindet, wie die Anwesenheit und das Handeln Jesu Christi in der Welt selbst zeigen. In diese Ökonomie eingegliedert, sind die „Wunder und Zeichen“ Gegenstand unseres Glaubens an den Heilsplan Gottes und das von Christus gewirkte Geheimnis der Erlösung.
Als Tatsachen gehören sie zum Bericht des Evangeliums, dessen Erzählungen ebenso zuverlässig sind wie die — und mehr als sie — die in anderen geschichtlichen Werken enthalten sind. Es ist klar, dass das eigentliche Hindernis, sie als geschichtliche und als Glaubensfakten anzunehmen, das Vorurteil gegen das Übernatürliche ist, auf das wir hingewiesen haben: dasjenige dessen, der die Macht Gottes begrenzen oder auf die natürliche Ordnung der Dinge einschränken will, fast auf eine Selbstverpflichtung Gottes, sich an seine Gesetze zu halten. Aber diese Auffassung stößt mit der elementarsten philosophischen und theologischen Idee von Gott zusammen, dem unendlichen Sein, subsistierend und allmächtig, das keine Grenzen hat außer im Nichtsein und damit im Absurden.
Zum Abschluss dieser Katechese kommt spontan die Feststellung, dass diese Unendlichkeit im Sein und in der Macht auch Unendlichkeit in der Liebe ist; wie die Wunder zeigen, die in den Plan der Menschwerdung und der Erlösung eingefügt sind als „Zeichen“ der erbarmenden Liebe, mit der Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat „für uns Menschen und um unseres Heiles willen“. Er hat sich für uns hingegeben bis zum Tod. „So sehr hat er geliebt“ (vgl. Joh 3,16). Auf eine so große Liebe müssen wir voll Dankbarkeit hochherzig Antwort geben durch das glaubwürdige Zeugnis unseres Tuns.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Bei den Generalaudienzen gelten unsere Überlegungen seit einiger Zeit den Wundern Jesu, die von seiner Gottheit Zeugnis geben. Sie sind in besonderer Weise Ausdruck und Offenbarung der Liebe Gottes zu den Menschen. Sie geschehen — wie alles Wirken Jesu — „für uns und um unseres Heiles willen“, um das Böse aller Art zu überwinden, das es in der Welt gibt.
Durch seine Wunder kommt Christus den Menschen in Liebe zu Hilfe: Er heilt, erweckt und verzeiht. Er benutzt sie niemals, um jemanden damit zu bestrafen. Im Gegenteil: Er heilt sogar dem Diener des Hohenpriesters, der ihn im Garten Getsemani gefangen nehmen will, das Ohr, welches Petrus ihm abgeschlagen hatte (vgl. Lk 22,51). Alles, was Jesus tut, wirkt er in inniger Gemeinschaft mit seinem Vater — und eben darum aus Liebe. Er benutzt seine göttliche Macht nur im Einklang mit seiner messianischen Sendung. Deshalb lehnt er auch die ihm vom Versucher in der Wüste vorgeschlagenen Wunder entschieden ab. Christus vermeidet jegliche äußere Zurschaustellung. Er vollbringt die Wunder mit großer Einfachheit und möglichst unauffällig. Den Leuten, die sie miterleben, schärft er mitunter sogar ein: „Niemand dürfe etwas davon erfahren“ (Mk 5,43).
Zusammenfassend können wir somit heute über die Wunder Jesu sagen, dass sie zur Heilsökonomie Gottes gehören. Sie dienen dazu, Gottes erlösende und heilende Liebe zu uns Menschen zu offenbaren. Als „Zeichen“ sind sie Gegenstand unseres Glaubens, als Tatsachen gehören sie zur geschichtlichen Wahrheit der Evangelien, die nur auf Grund rationalistischer Vorurteile geleugnet werden kann.
Mit dieser kurzen Betrachtung grüße ich herzlich alle deutschsprachigen Pilger bei der heutigen Audienz. Das Heilswirken Jesu bezeugt uns Gottes große Liebe zu uns Menschen. Nehmen wir seine Liebe gerade jetzt in der Advents- und Weihnachtszeit wieder mit offenem und dankbarem Herzen entgegen. Erwidern wir sie ihm durch aufrichtige Gegenliebe und durch tätige Nächstenliebe zu unseren Brüdern und Schwestern. Für reiche adventliche Gnaden erteile ich euch und allen, die euch verbunden sind, von Herzen meinen besonderen Apostolischen Segen.
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