JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 27. April 1988
1. „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Jesus Christus wurde vom Vater gesandt, „um den Armen eine gute Nachricht zu bringen“ (vgl. Lk 4,18). Er war – und ist – der erste Gesandte des Vaters, der erste „Künder des Evangeliums“, wie wir in der vorhergehenden Katechese mit den Worten Pauls VI. aus Evangelii nuntiandi gesagt haben. Ja, Jesus ist nicht nur Künder des Evangeliums, der Frohbotschaft, sondern er selbst ist das Evangelium (vgl. Evangelii nuntiandi, Nr. 7).
In seiner ganzen Sendung, in all seinem Tun und Lehren und am Ende durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung macht er „dem Menschen den Menschen voll kund“ (vgl. Gaudium et spes, Nr. 22) und eröffnet ihm den Ausblick auf die Glückseligkeit, zu der Gott ihn von Anfang an berufen und bestimmt hat. Die Botschaft der Seligpreisungen fasst das Lebensprogramm zusammen, das dem angeboten wird, der dem göttlichen Ruf folgen will; sie ist die Synthese des ganzen Ethos des Evangeliums, das mit dem Geheimnis der Erlösung verbunden ist.
2. Die Mission Christi besteht vor allem in der Offenbarung der Frohbotschaft (des Evangeliums), die an den Menschen gerichtet ist. Sie zielt also auf den Menschen ab und ist in diesem Sinn sozusagen „anthropozentrisch“. Zugleich ist sie aber tief verwurzelt in der Wahrheit des Reiches Gottes, in der Ankündigung seines Kommens und seiner Nähe: „Das Reich Gottes ist nahe … glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15).
Es ist „das Evangelium vom Reich“, und seine in der ganzen Sendung Christi sichtbare Bezugnahme auf den Menschen wurzelt in einer „theozentrischen“ Dimension, die sich Reich Gottes nennt. Jesus verkündet das Evangelium dieses Reiches, und gleichzeitig verwirklicht er das Reich Gottes in der ganzen Entfaltung seiner Sendung; aus ihr heraus wird das Reich schon in der Zeit geboren und entwickelt sich als Samenkorn, das in die Geschichte des Menschen und der Welt eingepflanzt ist. Diese Verwirklichung des Reiches geschieht durch das Wort des Evangeliums und das gesamte Erdenleben des Menschensohnes, das seine Krönung im Ostergeheimnis durch den Kreuzestod und die Auferstehung findet. Durch seinen „Gehorsam bis zum Tod“ (vgl. Phil 2,8) hat Jesus den Anfang zu einem neuen Abschnitt der Heilsökonomie gesetzt, deren Entfaltung dann beendet sein wird, wenn Gott „über alles und in allem herrscht“ (vgl. 1 Kor 15,28). Das Reich Gottes ist wahrhaftig in der Geschichte des Menschen und der Welt angebrochen, auch wenn es im irdischen Ablauf des menschlichen Lebens ständig dem anderen Grundbegriff der geschichtlichen Dialektik begegnet und sich mit ihm auseinandersetzt: dem „Ungehorsam des ersten Adam“, der seinen Geist dem „Herrscher der Welt“ unterworfen hat (vgl. Röm 5,19; Joh 14,30).
3. Wir berühren hier das Hauptproblem und beinahe den kritischen Punkt der Verwirklichung der Mission Christi, des Sohnes Gottes, in der Geschichte: ein Problem, auf das wir in einer der folgenden Katechesen zurückkommen müssen. Wenn in Christus das Reich Gottes in der Geschichte des Menschen und der Welt endgültig „nahe“, ja gegenwärtig ist, so liegt seine Vollendung doch gleichzeitig in der Zukunft. Deshalb befiehlt Jesus uns, zu bitten: „Dein Reich komme“ (Mt 6,10).
4. Man muss sich dieses Problem vor Augen halten, während wir uns mit dem Evangelium Christi als Frohbotschaft vom Reich Gottes beschäftigen. Es war das Leitmotiv der Verkündigung Jesu, der vom Reich Gottes vor allem in seinen Gleichnissen spricht. Besonders aussagekräftig ist das Gleichnis, das uns das Reich Gottes als einem Samenkorn ähnlich darstellt, das der Sämann auf das von ihm bestellte Feld sät (vgl. Mt 13,3-9). Das Samenkorn ist dazu bestimmt, aus seiner inneren Kraft heraus Frucht zu bringen, zweifellos, aber die Frucht hängt auch vom Boden ab, auf den es gefallen ist (vgl. Mt 13,19-23).
5. Ein anderes Mal vergleicht Jesus das Reich Gottes (nach Matthäus „das Himmelreich“) mit einem Senfkorn, das „das kleinste von allen Samenkörnern ist“; sobald es aber hochgewachsen ist, wird es zu einem dicht belaubten Baum, „so dass die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten“ (vgl. Mt 13,31-32). Weiter vergleicht er das Wachsen des Reiches Gottes mit dem „Sauerteig“, der das Mehl durchsäuert, damit es zu Brot wird, das den Menschen als Nahrung dient (vgl. Mt 13,33). Dem Problem des Wachstums des Reiches Gottes auf dem Boden dieser Welt widmet Jesus noch ein anderes Gleichnis, das vom Weizen und dem Unkraut, das der „Feind“ auf den mit gutem Samen bestellten Acker sät (vgl. Mt 13,24-30). So wachsen auf dem Acker der Welt das Gute und das Böse, sinnbildlich dargestellt im Weizen und im Unkraut, zusammen „bis zur Ernte“, d. h. bis zum Tag des göttlichen Gerichtes: eine andere bedeutsame Anspielung auf den eschatologischen Ausblick der menschlichen Geschichte. In jedem Fall lässt Jesus uns wissen, dass das Wachstum des Samenkorns, das das „Wort Gottes“ ist, davon abhängt, wie es auf dem Boden der menschlichen Herzen aufgenommen wird. Daraus ergibt sich, ob es Frucht bringt, „hundertfach oder sechzigfach oder dreißigfach“ (Mt 13,23), entsprechend der Aufnahmebereitschaft und der Antwort derer, die es empfangen.
6. In seiner Verkündigung des Reiches Gottes lässt Jesus uns auch wissen, dass es nicht für eine Nation allein oder nur das „auserwählte Volk“ bestimmt ist, denn „viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen“ (Mt 8,11). Es ist kein Reich im zeitlichen und politischen Sinn. Es ist nicht „von dieser Welt“ (vgl. Joh 18,36), obwohl es in „diese Welt“ eingepflanzt worden ist und hier wachsen und sich entfalten muss. Darum entfernt Jesus sich von der Menschenmenge, die ihn zum König machen wollte: „Da erkannte Jesus, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein“ (Joh 6,15). Und am Vorabend seines Leidens im Abendmahlssaal bittet er den Vater, den Jüngern zu gewähren, entsprechend derselben Auffassung vom Reich Gottes zu leben: „Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin“ (Joh 17,15-16). Und weiter: Gemäß der Lehre und Bitte Jesu muss das Reich Gottes in den Herzen der Jünger „in dieser Welt“ wachsen, aber es wird in der zukünftigen Welt seine Vollendung finden: „Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt … Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden“ (Mt 25,31-32). Wieder ein eschatologischer Ausblick!
7. Wir können unsere Kenntnis vom Reich Gottes, das Jesus verkündet hat, vervollständigen, indem wir unterstreichen, dass es das Reich des Vaters ist; an ihn sollen wir uns wenden – so lehrt uns Jesus – mit der Bitte, dass es komme: „Dein Reich komme“ (Mt 6,10; Lk 11,2). Der himmlische Vater seinerseits bietet den Menschen (durch Christus und in Christus) die Vergebung ihrer Sünden und das Heil. Voll Liebe wartet er auf ihre Rückkehr, wie im Gleichnis der Vater auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes wartet (vgl. Lk 15,20-32), weil Gott wahrhaftig „voll Erbarmen“ ist (Eph 2,4).
In diesem Licht steht das ganze Evangelium der Bekehrung, das Jesus von Anfang an verkündet hat: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Die Umkehr zum Vater, zu Gott, der „die Liebe ist“ (vgl. Joh 14,16), ist mit der Annahme der Liebe als „neues“ Gebot verbunden: der Liebe zu Gott, „dem wichtigsten und ersten Gebot“ (vgl. Mt 22,38), und der Liebe zum Nächsten, die „ebenso wichtig ist“ (Mt 22,39). Jesus sagt: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,34). Hier sind wir beim Wesen des „Reiches Gottes“ im Menschen und in der Geschichte angelangt. So muss das Gesetz, d. h. das sittliche Erbe des Alten Bundes, sich erfüllen und seine göttlich-menschliche Vollendung finden. Jesus selbst erklärt in der Bergpredigt: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17).
Allenfalls befreit er den Menschen vom „Buchstaben des Gesetzes“, um ihn in seinen Geist einzuführen, denn – wie der hl. Paulus sagt – „der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2 Kor 3,6). Die Liebe zum Bruder als Wiederschein und Teilhabe an der Liebe Gottes ist also der Hauptantrieb des neuen Gebotes, das gleichsam die konstitutionelle Grundlage des Reiches Gottes bildet (vgl. Summa Th., I-II, q. 106, a. 1; q. 107, aa. 1-2).
8. Unter den Gleichnissen, in denen Jesus seine Predigt vom Reich Gottes mit Vergleichen und Sinnbildern ausstattet, ist auch das vom königlichen Hochzeitsmahl (Mt 22,2). Das Gleichnis erzählt, dass viele ursprünglich eingeladene Gäste nicht zum Mahl kamen und verschiedene Entschuldigungen und Vorwände erfanden, um sich ihm zu entziehen. Da ließ der König „von den Straßen“ andere Leute zur Teilnahme an seinem Mahl hereinrufen. Aber unter den Gästen zeigten sich nicht alle der Einladung würdig, weil ihnen das vorgeschriebene „Hochzeitsgewand“ fehlte.
Dieses Gleichnis vom Hochzeitsmahl, verglichen mit dem vom Sämann und dem Samenkorn, führt uns zur gleichen Schlussfolgerung: Wenn nicht alle Gäste am Mahl teilhaben und nicht alle Samenkörner Frucht bringen, hängt es von der Bereitschaft ab, mit der man auf die Einladung antwortet oder im Herzen den Samen des Wortes Gottes aufnimmt. Es hängt von der Weise ab, in der man Christus aufnimmt, der der Sämann, aber auch der Königssohn und der Bräutigam ist, als der er sich mehrmals vorstellt: „Können denn die Hochzeitsgäste fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist?“ (Mk 2,19) fragte er einmal, als man ihn auf die Strenge des Johannes des Täufers hinwies. Und er selbst gab die Antwort: „Solange der Bräutigam bei ihnen ist, können sie nicht fasten“ (Mk 2,19).
Das Reich Gottes ist also wie ein Hochzeitsmahl, zu dem der himmlische Vater die Menschen zur Gemeinschaft in Liebe und Freude mit seinem Sohn einlädt. Alle sind dazu gerufen und eingeladen, aber jeder ist verantwortlich für seine eigene Zustimmung oder Weigerung, sein eigenes Entsprechen oder Nicht-Entsprechen dem Gesetz gegenüber, von dem das Hochzeitsmahl bestimmt wird.
9. Es ist das Gesetz der Liebe: Sie hat ihren Ursprung in der göttlichen Gnade im Menschen, der sie aufnimmt und bewahrt, indem er in lebendiger Weise am Ostergeheimnis Christi teilhat. Diese Liebe verwirklicht sich in der Geschichte trotz aller Weigerung seitens der Eingeladenen, trotz ihrer Unwürde. Der Christ hat die Hoffnung, dass die Liebe sich auch in allen „geladenen Gästen“ verwirklicht. Gerade weil das österliche „Ausmaß“ dieser bräutlichen Liebe das Kreuz ist, ist sein eschatologischer Ausblick in der Geschichte durch die Auferstehung Christi eröffnet. Durch ihn hat uns der Vater der Macht der Finsternis entrissen und in das Reich seines geliebten Sohnes aufgenommen (vgl. Kol 1,13). Wenn wir dem Ruf und der Anziehungskraft des Vaters folgen, „haben wir die Erlösung“ und das ewige Leben.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Christus beginnt seine öffentliche Sendung mit dem Aufruf: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Er verkündet und ist selbst in seiner Person die Frohe Botschaft an die Menschen. Sein Evangelium richtet sich an den Menschen und ist doch zutiefst in der Wahrheit vom Reich Gottes verwurzelt. Im Kommen und Wirken Christi bricht das Reich Gottes unter uns an; in ihm beginnt es sich bereits in der Welt zu verwirklichen. Aber erst am Ende der Zeit, wenn Gott „herrschen wird über alles und in allem“ (1 Kor 15,28), wird das Reich Gottes seine vollkommene Verwirklichung und Vollendung erlangen.
Noch heißt uns Christus im Vaterunser beten: „Dein Reich komme!“ (Mt 6,10). Er spricht von ihm zu uns in vielfältigen Gleichnissen. So vergleicht Christus das Reich Gottes mit einem Samen, den ein Sämann auf den Acker sät, damit er viel Frucht bringt; ferner mit einem Senfkorn, das zu einem großen Baum heranwächst, in dem die Vögel des Himmels nisten; oder mit dem Sauerteig, der alles durchsäuert.
Christus unterstreicht in seiner Verkündigung besonders, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist und dass alle Menschen dazu eingeladen sind. Das Gleichnis vom guten Samen und dem Unkraut lehrt uns, dass das Reich Gottes noch mit den gottwidrigen Mächten im Kampf steht. Dieser Kampf trägt sich in unseren Herzen zu. Das Reich Gottes bricht in dem Maße in der Welt an, wie wir ihm in unseren Herzen Raum gewähren, in dem Maße, wie wir nicht unseren, sondern Gottes Willen tun. Darum verbindet Christus die Ankündigung des Reiches Gottes zugleich mit dem Aufruf zur Umkehr, zur Bekehrung unserer Herzen gemäß dem ersten und wichtigsten Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Das Reich Gottes ist das ewige Hochzeitsmahl, das der Vater für seinen Sohn bereitet und zu dem alle Menschen eingeladen sind, an dem wir aber nur mit einem „hochzeitlichen Gewand“ wirklich Anteil erhalten.
LAßT UNS, liebe Brüder und Schwestern, unserer Berufung durch Christus in seine Kirche wieder neu froh und dankbar bewußt werden. Das wünsche und erbitte ich euch als Gnade eurer Rompilgerfahrt. Von Herzen grüße ich euch alle und heiße euch willkommen bei der heutigen Audienz: die genannten Gruppen und auch alle einzelnen Pilger und Familien aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol. Ein besonders herzlicher Gruß gilt darunter den zahlreichen Jugendlichen. Gott segne und beschütze euch und schenke euch allen wieder eine glückliche Heimkehr!
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