JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 8. Juni 1988
1. In der Konstitution Lumen gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils lesen wir in Bezug auf die irdische Sendung Jesu Christi: „Es kam also der Sohn, gesandt vom Vater, der uns in ihm vor Grundlegung der Welt erwählt und zur Sohnesannahme vorherbestimmt hat, weil es ihm gefallen hat, in Christus alles zu erneuern (vgl. Eph 1,4–5.10). Um den Willen des Vaters zu erfüllen, hat Christus das Reich der Himmel auf Erden begründet, uns sein Geheimnis offenbart und durch seinen Gehorsam die Erlösung erwirkt“ (Lumen gentium, Nr. 3).
Dieser Text erlaubt uns, all das, was wir in den letzten Katechesen besprochen haben, zusammenfassend zu betrachten. In ihnen haben wir die wesentlichen Aspekte der messianischen Sendung Christi hervorzuheben versucht. Nun legt uns der Konzilstext nochmals die Wahrheit der engen und tiefen Verbindung vor, die zwischen dieser Sendung und Christus, dem Gesandten selbst, besteht, der in ihrer Erfüllung seine Absichten und persönlichen Gaben offenbart. Dem ganzen Verhalten Jesu können in der Tat einige grundlegende Merkmale entnommen werden, die auch in seiner Verkündigung Ausdruck finden und dazu dienen, seine messianische Sendung voll glaubwürdig zu machen.
2. In seiner Verkündigung und in seinem Verhalten zeigt Jesus vor allem seine tiefe Einheit mit dem Vater im Denken und Reden. Was er seinen Zuhörern (und der ganzen Menschheit) vermitteln will, kommt vom Vater, der ihn „in die Welt gesandt hat“ (Joh 10,36). „Denn was ich gesagt habe, habe ich nicht aus mir selbst, sondern der Vater, der mich gesandt hat, hat mir aufgetragen, was ich sagen und reden soll. Und ich weiß, dass sein Auftrag ewiges Leben ist. Was ich also sage, sage ich so, wie es mir der Vater gesagt hat“ (Joh 12,49–50). „Ihr werdet erkennen, dass ich … nur das sage, was mich der Vater gelehrt hat“ (Joh 8,28). So lesen wir im Johannesevangelium. Aber auch in den Synoptikern ist ein ähnliches, von Jesus gesprochenes Wort wiedergegeben: „Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden“ (Mt 11,27); und mit dem Wort „alles“ bezieht sich Jesus ausdrücklich auf den Inhalt der Offenbarung, die er den Menschen gebracht hat (vgl. Mt 11,25–27; analog dazu Lk 10,21–22). In diesen Worten Jesu finden wir die Manifestation des Geistes, mit dem er seine Verkündigung vollbringt. Er ist und bleibt „der treue Zeuge“ (Offb 1,5). In diesem Zeugnis ist der besondere „Gehorsam“ des Sohnes zum Vater eingeschlossen und tritt hervor – wie sich im äußersten Augenblick zeigt – „Gehorsam bis zum Tod“ (vgl. Phil 2,8).
3. In der Verkündigung zeigt Jesus auch, dass seine absolute Treue zum Vater als Ursprung und Ziel von „allem“, was offenbart werden soll, die wesentliche Grundlage seiner Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit bildet. „Meine Lehre stammt nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat“, sagt Jesus und fügt hinzu: „Wer im eigenen Namen spricht, sucht seine eigene Ehre; wer aber die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist glaubwürdig, und in ihm ist keine Falschheit“ (Joh 7,16.18).
Solche Worte aus dem Mund des Sohnes Gottes können überraschen. Denn sie werden von dem gesprochen, der „eines Wesens mit dem Vater“ ist. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass er auch als Mensch spricht. Er legt Wert darauf, dass seine Zuhörer nicht den geringsten Zweifel an einem grundlegenden Punkt haben: dass die Wahrheit, die er vermittelt, göttlich ist und von Gott kommt. Er legt Wert darauf, dass die Menschen, indem sie ihm zuhören, in seinem Wort den Zugang zur selben göttlichen Quelle der offenbarten Wahrheit finden, dass sie bei dem, der lehrt, nicht stehen bleiben, dass sie sich nicht von der „Besonderheit“ und „Außergewöhnlichkeit“ dessen anziehen lassen, was in dieser Lehre vom Meister selbst kommt. Der Meister „sucht nicht den eigenen Ruhm“. Er sucht allein und ausschließlich „den Ruhm dessen, der ihn gesandt hat“. Er spricht nicht „im eigenen Namen“, sondern im Namen des Vaters.
Auch das ist ein Aspekt der „Entäußerung“ (Kenosis), die nach dem hl. Paulus (vgl. Phil 2,7) ihren Höhepunkt im Geheimnis des Kreuzes findet.
4. Christus ist „der treue Zeuge“. Diese Treue, die ausschließlich den Ruhm des Vaters und nicht den eigenen sucht, hat ihren Ursprung in der Liebe, die er beweisen will: „… die Welt soll erkennen, dass ich den Vater liebe“ (Joh 14,31). Aber seine Offenbarung der Liebe zum Vater schließt auch seine Liebe zu den Menschen ein. Er tat Gutes und heilte (vgl. Apg 10,38). Seine ganze Sendung auf Erden ist erfüllt von Taten der Liebe für die Menschen, insbesondere für die geringsten und bedürftigsten. „Kommt alle zu mir – sagt er –, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen“ (Mt 11,28). „Kommt!“ Das ist eine Aufforderung, die hinausgeht über den Kreis der Zeitgenossen, denen Jesus in den Tagen seines Lebens und Leidens auf Erden begegnen konnte; das ist ein Aufruf an die Armen aller Zeiten, der auch heute noch aktuell ist und immer wieder aus dem Mund und dem Herzen der Kirche kommt.
5. Parallel zu dieser Aufforderung gibt es eine andere: „Lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen“ (Mt 11,29). Die Güte und Herzensdemut Jesu werden ein Anziehungspunkt für denjenigen, der gerufen ist, in seine Schule zu gehen: „Lernt von mir.“ Jesus ist „der treue Zeuge“ der Liebe, die Gott für den Menschen hegt. In seinem Zeugnis werden die göttliche Wahrheit und die göttliche Liebe verbunden. Deshalb besteht zwischen Wort und Handeln, zwischen dem, was er tut, und dem, was er lehrt, eine tiefe Verbindung – man könnte beinahe sagen: Verschmelzung. Jesus lehrt nicht nur die Liebe als höchstes Gebot, sondern er selbst erfüllt sie in vollkommenster Weise. In der Bergpredigt verkündet er nicht nur die Seligpreisungen, sondern verkörpert sie in sich selbst während seines ganzen Lebens. Er stellt nicht nur die Forderung, die Feinde zu lieben, sondern erfüllt sie selbst vor allem in der Stunde der Kreuzigung: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34).
6. Aber diese „Güte und Herzensdemut“ bedeutet in keiner Weise Schwäche. Im Gegenteil, Jesus ist anspruchsvoll. Sein Evangelium ist anspruchsvoll. Mahnt nicht gerade er: „… wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig“? Und gleich darauf: „Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“ (Mt 10,38–39). Es besteht eine gewisse Radikalität nicht nur in der Ausdrucksweise des Evangeliums, sondern auch in den wirklichen Anforderungen der Nachfolge Christi, deren Tragweite er oft zu wiederholen nicht zögert: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10,34), sagt er einmal. Es ist eine ausdrucksstarke Weise zu sagen, dass das Evangelium Anforderungen stellt, und das will auch heißen, die Gewissen aufzurütteln, nicht zuzulassen, dass sie sich einem falschen „Frieden“ hingeben, in dem sie immer unempfänglicher und abgestumpfter werden, so dass in ihnen die geistliche Wirklichkeit ihres Wertes entleert wird, indem sie keinen Widerhall mehr findet. Jesus sagt vor Pilatus: „Ich bin … in die Welt gekommen, damit ich für die Wahrheit Zeugnis ablege“ (Joh 18,37). Diese Worte beziehen sich auch auf das Licht, mit dem er den ganzen Bereich des menschlichen Tuns erhellt, indem er die Finsternis der Gedanken und besonders der Gewissen vertreibt, um in jedem Menschen die Wahrheit siegen zu lassen. Es geht jedoch darum, sich auf die Seite der Wahrheit zu stellen. „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“, sagt Jesus (Joh 18,37). Deshalb ist Jesus anspruchsvoll – nicht hart oder unerbittlich streng, aber stark und unmissverständlich, wenn er jeden zum Leben in der Wahrheit ruft.
7. So dringen die Anforderungen des Evangeliums Christi in den Bereich des Gesetzes und der Moral ein. Er, der „der treue Zeuge“ (Offb 1,5) der göttlichen Wahrheit, der Wahrheit des Vaters, ist, sagt schon zu Beginn der Bergpredigt: „Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein“ (Mt 5,19). Und als er zur Umkehr aufruft, zögert er nicht, die Städte, in denen die Leute den Glauben verweigern, zu tadeln: „Weh dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida!“ (Lk 10,13), während er alle und jeden einzelnen mahnt: „Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt“ (Lk 13,3).
8. So geht das Evangelium der Güte und Demut Hand in Hand mit dem Evangelium der moralischen Anforderungen und sogar der strengen Drohungen gegenüber denen, die sich nicht bekehren wollen. Zwischen dem einen und dem anderen besteht kein Widerspruch. Jesus lebt aus der Wahrheit, die er verkündet, und aus der Liebe, die er offenbart – und es ist eine anspruchsvolle Liebe, wie die Wahrheit, aus der sie kommt. Im Übrigen hat die Liebe die größten Anforderungen an Jesus selbst gestellt – in der Stunde von Getsemani, in der Stunde von Golgota, in der Stunde des Kreuzes. Jesus hat diese Anforderungen bis auf den Grund angenommen und ihnen entsprochen, weil er, wie der Evangelist sagt, „seine Liebe bis zur Vollendung“ erwies (Joh 13,1). Es war eine treue Liebe, um derentwillen er am Tag vor seinem Tod zum Vater sagen konnte: „… die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben“ (Joh 17,8).
9. Als „treuer Zeuge“ hat Jesus die Sendung erfüllt, die er vom Vater in der Tiefe des trinitarischen Geheimnisses empfangen hatte. Es war eine Sendung von Ewigkeit her, im Denken des Vaters enthalten, der ihn zeugte und dazu vorherbestimmte, sie „in der Fülle der Zeit“ zum Heil des Menschen – jedes Menschen – und zur Vollendung der ganzen Schöpfung zu erfüllen. Jesus war sich dieser seiner Sendung im Mittelpunkt des Schöpfungs- und Erlösungsplans des Vaters bewusst; und deshalb konnte er mit dem ganzen Realismus der Wahrheit und der Liebe, die er der Welt gebracht hatte, sagen: „Wenn ich über die Erde erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen“ (Joh 12,32).
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Liebe Brüder und Schwestern!
In der Konstitution über die Kirche Lumen gentium sagt das Zweite Vatikanische Konzil über die Sendung Jesu Christi: „Es kam der Sohn, gesandt vom Vater, der uns in ihm vor Grundlegung der Welt erwählt und zur Sohnesannahme vorherbestimmt hat, weil es ihm gefallen hat, in Christus alles zu erneuern (vgl. Eph 1,4–5.10). Um den Willen des Vaters zu erfüllen, hat Christus das Reich der Himmel auf Erden begründet, uns sein Geheimnis offenbart und durch seinen Gehorsam die Erlösung bewirkt“ (Lumen gentium, Nr. 3). Das Konzil lehrt in diesem Text wesentliche Aspekte der messianischen Sendung Christi, nämlich die Wahrheit von der tiefen Verbindung Christi mit seiner Sendung.
Grundlage dieser Verbindung ist die tiefe Einheit Jesu mit dem Vater im Denken und Tun. So spricht Jesus nicht aus sich selbst. Er kündet das, was der Vater ihm aufgetragen hat (vgl. Joh 12,49–50; 8,28). Ja, in seiner Predigt weist Jesus darauf hin, dass seine absolute Treue zum Vater wesentliches Fundament seiner Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit ist: „Meine Lehre stammt nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat“ (Joh 7,16). Jesus sucht nicht die eigene Ehre, sondern ausschließlich „die Ehre dessen, der ihn gesandt hat“ (Joh 7,18).
Jesus offenbart sich als „der treue Zeuge“. Seine Treue entspringt der Liebe zum Vater, die gleichzeitig auch die Menschen umschließt. Jesus begegnet den Menschen voller Liebe, besonders den Schwachen und Bedürftigen. Die Einladung Jesu: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen“ (Mt 11,28), erging nicht nur an die Menschen damals, sondern gilt jedem Menschen aller Zeiten, auch dem heutigen.
Die „Treue“ Jesu zeigt sich in der Einheit von Wort und Tat. Er lehrt nicht nur die Liebe als größtes Gebot, er lebt sie auch in vollkommener Weise. Ja, am Kreuz bittet er den Vater sogar für seine Peiniger um Vergebung (vgl. Lk 23,34). Die Herzensgüte und Demut Jesu ist aber nicht Ausdruck für Schwäche – im Gegenteil, Jesu Botschaft ist fordernd: „Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig. Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“ (Mt 10,38–39). Das Evangelium ist also für den Menschen eine ernste Forderung, die alle seine Lebensbereiche umfasst.
Ja, Jesus ist wirklich „der treue Zeuge“. Folgen wir seiner Einladung. Gehen wir zu ihm mit unserem Leben, mit unserem Kreuz, mit unseren Fragen. Lernen wir von ihm. Lernen wir durch ihn, den Vater zu lieben und den Nächsten. Lernen wir in ihm unser eigenes, wahres Leben zu finden.
MIT DIESEN GEDANKEN grüße ich alle anwesenden deutschsprachigen Pilger und Besucher herzlich, unter ihnen besonders die Gruppe des katholischen Frauenbundes in Biberach, der katholischen Militärpfarrei St. Georg in Murnau sowie die Mitglieder der Männerarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen in Bielefeld.
Ich wünsche euch allen einen frohen und bereichernden Romaufenthalt und erbitte euch und euren Lieben in der Heimat mit dem Apostolischen Segen Gottes steten Schutz und Beistand.
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