JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 10. August 1988
1. Es wird gut sein, noch einmal hervorzuheben, was wir in den letzten Katechesen gesagt haben, als wir uns Gedanken machten über die Heilssendung Christi als Befreiung und Jesus als Befreier. Es handelt sich um die Befreiung von der Sünde als dem Grundübel, das den Menschen von innen her zum Gefangenen macht und ihn an den versklavt, der von Christus der „Vater der Lüge“ genannt wird (Joh 8,44). Es handelt sich zugleich um die Befreiung hin zur Wahrheit, die uns die Teilhabe an der „Freiheit der Kinder Gottes“ schenkt (vgl. Rom 8,21). Jesus sagt: „Wenn euch also der Sohn befreit, dann seid ihr wirklich frei“ (Joh 8,36). Die „Freiheit der Kinder Gottes“ hat ihren Ursprung in dem Geschenk Christi, das dem Menschen Teilhabe an der göttlichen Sohnschaft, das heißt Teilhabe am Leben Gottes, gibt.
Der durch Christus befreite Mensch empfängt also nicht nur die Vergebung der Sünden, sondern wird zu einem neuen Leben erhoben. Christus ist Urheber der Befreiung des Menschen, der Schöpfer der neuen Menschheit. In ihm werden wir „eine neue Schöpfung“ (vgl. 2 Kor 5,17).
2. In der heutigen Katechese wollen wir uns über diesen Aspekt, die durch Christus gewirkte heilbringende Befreiung, noch weiter klarwerden. Sie gehört wesentlich zu seiner messianischen Sendung.
Jesus selbst hat davon gesprochen, z. B. im Gleichnis vom Guten Hirten, als er sagte: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Es handelt sich um jene Fülle neuen Lebens, die in der Teilhabe am Leben Gottes selbst besteht. Auch auf diese Weise verwirklicht sich im Menschen die „Neuheit“ der Menschheit Christi: eine „neue Schöpfung“ sein.
3. Es ist das, was Jesus in bildlicher und sehr eindrucksvoller Redeweise in seinem Gespräch mit der Samariterin am Brunnen von Sychar sagte: „Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ Sie sagte zu ihm: „Herr, du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist tief; woher hast du also das lebendige Wasser? …“ Jesus antwortete ihr: „Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt“ (Joh 4,10-14).
4. Auch der Volksmenge gegenüber wiederholte Jesus diese Wahrheit mit ganz ähnlichen Worten, als er während des Laubhüttenfestes lehrte: „Wer Durst hat, komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt. Wie die Schrift sagt: Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen“ (Joh 7,37-38). Die „Ströme von lebendigem Wasser“ sind das Bild für das neue Leben, an dem die Menschen kraft des Kreuzestodes Christi Anteil haben. In dieser Sicht lesen die patristische Tradition und die Liturgie auch den Text des Johannes, nach welchem aus der Seite (dem Herzen) Christi nach seinem Tod am Kreuz „Blut und Wasser“ flossen, als ein römischer Soldat ihn „mit der Lanze in seine Seite stieß“ (Joh 19,34).
5. Nach einer von einem großen Teil der Väter der Ostkirche geschätzten Auslegung aber, der auch verschiedene Exegeten folgen, fließen Ströme lebendigen Wassers auch aus dem „Innern“ des Menschen, der das Wasser der Wahrheit und der Gnade Christi trinkt. Aus dem „Innern“ bedeutet: aus dem Herzen. Es wird ja im Menschen „ein neues Herz“ erschaffen, wie es die Propheten, besonders Jeremia und Ezechiel, sehr klar vorausgesagt haben.
Im Buch Jeremia lesen wir: „Das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein“ (Jer 31,33). Noch deutlicher im Buch Ezechiel: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ich lege meinen Geist in euch und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Gebote achtet und sie erfüllt“ (Ez 36,26-27).
Es geht also um eine tiefe geistliche Umwandlung, die Gott selbst im Menschen durch „den Hauch seines Geistes“ (vgl. Ez 36,26) bewirkt. Die „Ströme lebendigen Wassers“, von denen Jesus spricht, bedeuten die Quelle eines neuen Lebens, des Lebens „im Geist und in der Wahrheit“, eines Lebens, das der „wahren Anbeter des Vaters“ würdig ist (vgl. Joh 4,23-24).
6. Die Schrift der Apostel, besonders die Briefe des hl. Paulus, bieten einen Überfluss an Texten zu diesem Thema: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden“ (2 Kor 5,17). Die Frucht der von Christus vollbrachten Erlösung ist gerade diese „Neuheit des Lebens“: „Denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen“ (Kol 3,9-10). „Der alte Mensch“ ist „der Mensch der Sünde“. „Der neue Mensch“ ist jener, der es Christus verdankt, dass er in sich das ursprüngliche „Bild und Abbild“ seines Schöpfers wiederfindet. Daher auch die energische Ermahnung des Apostels, alles das zu überwinden, was in jedem von uns Sünde und Erbe der Sünde ist: „Jetzt aber sollt ihr das alles ablegen: Zorn, Wut und Bosheit; auch Lästerungen und Zoten sollen nicht mehr über eure Lippen kommen. Belügt einander nicht …“ (Kol 3,8-9).
7. Eine ähnliche Aufforderung findet sich im Brief an die Epheser: „Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben, und erneuert euren Geist und Sinn! Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist, in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,22-24). „Seine Geschöpfe sind wir, in Christus Jesus dazu geschaffen, in unserem Leben die guten Werke zu tun, die Gott für uns im Voraus bereitet hat“ (Eph 2,10).
8. Die Erlösung ist also eine neue Schöpfung in Christus. Sie ist Geschenk Gottes – Gnade – und trägt gleichzeitig einen Aufruf Gottes an den Menschen in sich. Der Mensch muss beim Werk der geistlichen Befreiung, die Gott durch Christus in ihm vollbracht hat, mitwirken. Es ist wahr: „Aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt –, nicht aufgrund eurer Werke, damit keiner sich rühmen kann“ (Eph 2,8). Sicher kann der Mensch das Heil, die heilbringende Befreiung, die das Geschenk Gottes in Christus ist, nicht sich selbst zuschreiben. Aber gleichzeitig muss er in diesem Geschenk auch den Grund zu einer ständigen Aufforderung sehen, Werke zu vollbringen, die eines solchen Geschenkes würdig sind. Zur vollständigen Sicht der heilbringenden Befreiung des Menschen gehört es, dass man sich zutiefst des Geschenkes bewusst ist, das Gott uns im Kreuz Christi und in der erlösenden Auferstehung gemacht hat, und zugleich gehört dazu das Bewusstsein der eigenen Verantwortung gegenüber diesem Geschenk: das Wissen um die Verpflichtungen moralischer und geistlicher Natur, die dieses Geschenk und dieser Aufruf auferlegen. Hier rühren wir an den Wurzeln dessen, was wir das „Ethos der Erlösung“ nennen können.
9. Die Erlösung durch Christus, in der Macht seines Geistes der Wahrheit (Geist des Vaters und des Sohnes, Geist der Wahrheit), gewirkt, hat eine persönliche Dimension, die jeden Menschen angeht, und gleichzeitig eine zwischenmenschliche und soziale, gemeinschaftsbezogene und universale Dimension.
Es ist ein Thema, das wir im Brief an die Epheser entfaltet sehen, an der Stelle, an der die Versöhnung der beiden „Teile“ der Menschheit in Christus beschrieben wird, nämlich Israels, des auserwählten Volkes des Alten Bundes, und aller anderen Völker der Erde: „Denn er (Christus) ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder. Er hob das Gesetz samt seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in seiner Person zu dem einen neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet“ (Eph 2,14-16).
10. Das also ist die endgültige Dimension der „neuen Schöpfung“ und der „Neuheit des Lebens“ in Christus: die Befreiung von der Trennung, das „Niederreißen der Wand“, die Israel von den anderen trennt. In Christus sind alle das „auserwählte Volk“, denn in Christus ist der Mensch auserwählt. Jeder Mensch, ohne Ausnahme und Unterschied, wird mit Gott versöhnt und ist darum auch zum Anteil an der Verheißung ewigen Heils und Lebens berufen. Die ganze Menschheit wird wieder erschaffen als „der neue Mensch … nach dem Bild Gottes in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,24). Die Versöhnung aller mit Gott durch Christus muss zur gegenseitigen Versöhnung aller werden; eine gemeinschaftsbezogene und universale Dimension der Erlösung, das voll zum Ausdruck kommende „Ethos der Erlösung“.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Die „Freiheit der Kinder Gottes“ ist ein Geschenk Christi an uns Menschen. Ihm verdanken wir unsere Teilhabe an der göttlichen Kindschaft und damit am Leben Gottes selbst. Der von Jesus Christus befreite Mensch empfängt nicht nur die Vergebung der Sünden, sondern wird auch zu einem „neuen Leben“ geboren. Christus als Urheber der Befreiung des Menschen ist so auch der Schöpfer des „neuen Menschseins“. In ihm werden wir „neue Schöpfung“ (vgl. 2 Kor 5,17).
Dieser Aspekt der heilbringenden Befreiung gehört zum Wesen der messianischen Sendung Jesu. Deshalb sagt er in seiner Bildrede vom Guten Hirten: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10).
Jesus Christus ist für den Menschen „die Quelle“, deren Wasser uns „ewiges Leben schenkt“ (vgl. Joh 4,23-24). Von diesem Wasser der Gnade zu trinken bedeutet, umgeformt zu werden, „ein neues Herz, einen neuen Geist“ zu bekommen (vgl. Jer 31,33; Ez 36,26-27). Deshalb kann der Apostel Paulus sagen: „Wenn einer in Christus ist, ist er neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17). „Legt (also) den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben, und erneuert euren Geist und Sinn! Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist, in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,22-24).
Wir können uns nicht selber erlösen, denn Erlösung als „Neuschöpfung“ in Christus ist stets ein Geschenk Gottes. Doch es ergeht darin an uns ein Anruf. Wir sind darin aufgerufen, mitzuarbeiten an unserer Heiligung.
UNSERE ERLÖSUNG in Jesus Christus kennt auch nicht nur eine persönlich-individuelle Dimension, sondern sie ist endgültig zwischenmenschlich, sozial und universal angelegt. Es gibt keine Trennung mehr zwischen Völkern, Geschlechtern und Gruppen. ” Denn er (Christus) ist unser Friede “. Ja, mögen wir Christus wirklich immer mehr zu unserem Frieden werden lassen, in unserem Herzen, in unseren Familien, unter uns Christen und auf unserer weiten und schönen Welt.
Mit diesen Ausführungen über unseren Glauben grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Ich wünsche euch einen frohen und bereichernden Romaufenthalt und erteile euch und euren Lieben in der Heimt für Gottes steten Schutz und Beistand von Herzen meinen besonderen Apostolischen Segen.
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