JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 9. November 1988
1. Die von Christus vollbrachte Erlösung um den Preis des Leidens und Sterbens am Kreuz ist ein entscheidendes und ausschlaggebendes Geschehen in der Menschheitsgeschichte, nicht nur, weil sie den erhabenen göttlichen Plan der Gerechtigkeit und des Erbarmens vollendet, sondern weil sie auch dem Bewusstsein des Menschen eine neue Bedeutung des Leidens enthüllt. Wir wissen, dass kein Problem schwerer auf dem Menschen lastet als dieses, auch und vor allem in seinem Verhältnis zu Gott. Wir wissen, dass von der Lösung des Problems des Leidens der Lebenswert des Menschen auf der Erde abhängt. Wir wissen, dass es in einem gewissen Maß mit dem Problem des Übels und des Bösen zusammenfällt, dessen Gegenwart in der Welt so schwer anzunehmen ist. Das Kreuz Christi – sein Leiden und Sterben – wirft auf dieses Problem ein ganz neues Licht, indem es dem menschlichen Leiden ganz allgemein einen anderen Sinn gibt.
2. Im Alten Testament wird das Leiden, alles in allem, als eine Strafe betrachtet, die der Mensch von Seiten des gerechten Gottes für seine Sünden erdulden muss. Auch wenn er im Bereich eines solchen Horizonts des Denkens bleibt, der auf einer anfänglichen göttlichen Offenbarung gründet, ist es für den Menschen trotzdem schwierig, den Grund des Leidens desjenigen zu erklären, der keine Schuld hat, sagen wir doch, des Unschuldigen. Ein furchterregendes Problem, das seinen „klassischen“ Ausdruck im Buch Hiob gefunden hat. Jedoch ist hinzuzufügen, dass das Problem im Buch Jesaja schon in einem neuen Licht betrachtet wird, wo die Gestalt des Gottesknechtes eine sehr bezeichnende und wirksame Vorbereitung in Bezug auf das Ostergeheimnis zu sein scheint, in dessen Mittelpunkt der leidende Mensch aller Zeiten und aller Völker neben Christus, dem „Mann der Schmerzen“, seinen Platz findet.
Christus, der leidet, ist, wie ein moderner Dichter sagte, „der Heilige, der leidet“, der Unschuldige, der leidet; und gerade deshalb ist sein Leiden von einer viel größeren Tiefe im Verhältnis zu dem aller anderen Menschen, auch aller Hiobs, das heißt all derer, die in der Welt ohne eigenes Verschulden leiden. Denn Christus ist der einzige, der wirklich ohne Sünde ist, ja der nicht einmal sündigen kann. Deshalb ist er derjenige – der einzige –, der in keiner Weise das Leiden verdient. Und doch ist er auch derjenige, der es in vollster und entschlossenster Weise freiwillig und mit Liebe angenommen hat. Dies erklärt seinen Wunsch und beinahe seine innere Erwartung, den Kelch des Leidens ganz zu trinken (vgl. Joh 18,11), und zwar „für unsere Sünden, aber nicht nur für unsere Sünden, sondern auch für die der ganzen Welt“, wie der Apostel Johannes erläutert (1 Joh 2,2). In diesem Wunsch, der auch mit einer Seele ohne Schuld verbunden ist, findet sich der Grund für die Erlösung der Welt durch das Kreuz. Die erlösende Kraft des Leidens liegt in der Liebe.
3. Und so wird durch Christus der Sinn des Leidens völlig umgewandelt. Es genügt nicht mehr, im Leiden eine Strafe für die Sünden zu sehen. Es ist notwendig, die erlösende, heilwirkende Kraft der Liebe zu entdecken. Das Übel des Leidens wird im Geheimnis der Erlösung durch Christus überwunden und in jedem Fall umgewandelt: Es wird zur Kraft für die Befreiung vom Bösen, zum Sieg des Guten. Jedes menschliche Leiden, das mit dem Leiden Christi verbunden ist, ergänzt „in der Person, die leidet, das, was an den Leiden Christi für seinen Leib noch fehlt“ (vgl. Kol 1,24). Und der Leib ist die Kirche als universale Heilsgemeinschaft.
4. In seinen sogenannten vorösterlichen Reden ließ Jesus mehr als einmal wissen, dass der Begriff des Leidens, ausschließlich als Strafe für die Sünden verstanden, unzureichend und sogar unangemessen ist. So stellte Jesus, als man ihm von einigen Galiläern berichtete, „die Pilatus beim Opfern umbringen ließ, so dass sich ihr Blut mit dem ihrer Opfertiere vermischte“, die Frage: „Meint ihr, dass nur diese Galiläer Sünder waren, weil das mit ihnen geschehen ist, alle anderen Galiläer aber nicht? … Oder jene achtzehn Menschen, die beim Einsturz des Turms von Schiloach erschlagen wurden – meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten, alle anderen Einwohner von Jerusalem aber nicht?“ (Lk 13,1–2.4). Jesus stellt hier klar eine solche damals weitverbreitete und allgemein angenommene Denkweise in Frage und gibt zu verstehen, dass das „Unglück“, das Leiden bringt, nicht ausschließlich als eine Strafe für die persönlichen Sünden betrachtet werden kann. „Nein, im Gegenteil“, sagt Jesus und fügt hinzu: „Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt“ (Lk 13,3–4). Wenn man diese Worte mit den vorhergehenden vergleicht, ist in diesem Zusammenhang leicht festzustellen, dass Jesus die Notwendigkeit, die Sünde zu meiden, unterstreichen will, weil sie das wahre Übel, das Böse an sich und aufgrund der Solidarität, die die Menschen untereinander verbindet, die tiefste Wurzel jeden Leidens ist. Es genügt nicht, die Sünde nur aus Furcht vor der Strafe zu meiden, die für den Sünder daraus folgen kann. Es ist notwendig, sich wirklich zum Guten „zu bekehren“, sodass das Gesetz der Solidarität seine Wirksamkeit umkehren und dank der Verbindung mit dem Leiden Christi einen positiven Einfluss auf die anderen Glieder der Menschheitsfamilie ausüben kann.
5. In diesem Sinn klingen die von Jesus gesprochenen Worte, während er einen Blindgeborenen heilte. Als die Jünger ihn fragten: „Rabbi, wer hat gesündigt, sodass er blind geboren wurde?“, antwortete Jesus: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden“ (vgl. Joh 9,2–3). Indem er dem Blinden das Augenlicht schenkte, machte Jesus „das Wirken Gottes“ bekannt, das sich an diesem behinderten Menschen offenbaren sollte, zu seinen Gunsten und zugunsten derer, die von diesem Geschehnis erfahren sollten. Die wunderbare Heilung des Blinden war ein „Zeichen“, das den Geheilten veranlasste, an Christus zu glauben, und das im Herzen der anderen einen heilbringenden Samen der Unruhe einpflanzte (vgl. Joh 9,16). Im Glaubensbekenntnis des Geheilten manifestierte sich das wesentliche „Wirken Gottes“, das heilbringende Geschenk, das er zusammen mit dem Geschenk des Augenlichtes erhalten hatte: „Glaubst du an den Menschensohn? … Wer ist das, Herr? Sag es mir, damit ich an ihn glaube … Du siehst ihn vor dir; er, der mit dir redet, ist es … Ich glaube, Herr!“ (Joh 9,35–38).
6. Auf dem Hintergrund dieses Geschehens sehen wir einige Aspekte über die Wahrheit des Leidens im Licht des Kreuzes. Ein Urteil, das das Leiden ausschließlich als Strafe für die Sünde sieht, richtet sich in Wirklichkeit gegen die Liebe Gottes zum Menschen. Das zeigt sich schon im Fall der Freunde Hiobs, die ihn beschuldigen aufgrund von Argumenten, die einem Begriff von Gerechtigkeit entspringen, der bar jeder Öffnung zur Liebe ist (vgl. Hiob 4–5). Man sieht es noch besser im Fall des Blindgeborenen: „Wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, sodass er blind geboren wurde?“ (Joh 9,2). Es ist, wie mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Es ist ein Urteil, das von dem als körperlichen Schmerz gesehenen Leiden zu dem als Strafe für die Sünde verstandenen Leiden führt: Irgendjemand muss in diesem Fall gesündigt haben, der Betroffene oder seine Eltern. Es ist eine moralische Anprangerung: Er leidet, deshalb muss er sich schuldig gemacht haben!
Um dieser engherzigen und ungerechten Denkweise ein Ende zu setzen, war es notwendig, dass das Geheimnis des Leidens des Unschuldigen, des Heiligen, des „Mannes der Schmerzen“, in seiner Radikalität offenbar wurde. Seit Christus das Kreuz gewählt hat und auf Golgatha gestorben ist, können alle, die leiden, insbesondere die unverschuldet leiden, einander mit dem Antlitz des „Heiligen, der leidet“, begegnen und in seiner Passion die volle Wahrheit über das Leiden – dessen vollen Sinn, dessen Wert – finden.
7. Im Licht dieser Wahrheit können alle, die leiden, sich berufen fühlen, an dem durch das Kreuz vollbrachten Werk der Erlösung teilzuhaben. Am Kreuz Christi teilhaben heißt, an die erlösende Kraft des Opfers zu glauben, das jeder Glaubende zusammen mit dem Erlöser darbringen kann. Dann wird das Leiden vom Schatten der Sinnlosigkeit befreit, der es zu umhüllen scheint, und es erhält eine tiefe Dimension, es offenbart seine Bedeutung und seinen schöpferischen Wert. Dann, könnte man sagen, wandelt sich die Bühne des Lebens, von der sich die zerstörerische Macht des Übels und Bösen immer weiter entfernt, eben weil das Leiden reiche Frucht trägt. Jesus selbst offenbart es uns und verspricht es, als er sagt: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird. Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,23–24). Vom Kreuz in die Herrlichkeit!
8. Ein anderer Aspekt der Wahrheit des Leidens muss mit Hilfe des Evangeliums noch hervorgehoben werden. Matthäus sagt uns, dass „Jesus umherzog … das Evangelium vom Reich verkündete und alle Krankheiten und Leiden heilte“ (vgl. Mt 9,35). Lukas seinerseits erzählt, dass Jesus, als sie ihn nach der rechten Bedeutung des Gebotes der Liebe fragten, mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortete (vgl. Lk 10,30–37). Aus diesen Texten geht hervor, dass nach Jesus das Leiden in besonderer Weise zur Liebe zum Nächsten und zum Einsatz anspornen soll, ihm die nötigen Dienste zu leisten. Eine solche Liebe und solche Dienste, die in jeder nur möglichen Form ausgeübt werden, sind ein grundlegender moralischer Wert, der das Leiden „begleitet“. Und Jesus hat sogar, als er vom Endgericht sprach, ganz besonders den Begriff hervorgehoben, dass jedes aus Liebe zum leidenden Menschen vollbrachte Werk dem Erlöser selbst gilt: „Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt 25,35–36). Auf diesen Worten gründet die ganze christliche Ethik der Dienste, auch der sozialen, und die endgültige Aufwertung des im Licht des Kreuzes angenommenen Leidens.
Könnte man nicht von hier aus die Antwort finden, die die Menschheit auch heute erwartet? Man kann sie nur vom gekreuzigten Christus, „dem Heiligen, der leidet“, erhalten, der ins tiefste Innere der quälendsten menschlichen Probleme eindringen kann, weil er schon neben allen steht, die leiden, und die ihn darum bitten, ihnen neue Hoffnung zu schenken.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Christus hat uns durch seinen Kreuzestod erlöst. Das ist die zentrale Wahrheit unseres Glaubens. Zugleich wirft sein Leiden und Sterben ein neues Licht auf das menschliche Leid im Allgemeinen. Es hilft uns, dieses tiefer zu verstehen und offenbart uns seinen inneren Sinn und Wert.
Im Alten Bund erblickte man im Leid, das einem Menschen zustieß, vor allem eine Strafe für seine Sünden. Ich erinnere nur an die leidvollen Prüfungen des geduldigen Hiob. In Jesus Christus aber leidet einer, der völlig unschuldig ist, der zu einer Sünde nicht einmal fähig ist und darum Leid und Tod nicht verdienen konnte. Die Heilige Schrift erklärt uns, dass er das Leiden freiwillig und aus Liebe auf sich genommen hat, und zwar als Sühne „für unsere Sünden, aber nicht nur für unsere Sünden, sondern auch für die der ganzen Welt“ (1 Joh 2,2). Die erlösende Kraft des Leidens liegt in der Liebe. Durch seine liebende Selbsthingabe verwandelt Christus völlig den Sinn des Leidens. Es ist nicht mehr nur Strafe für die Sünden, sondern wird zum Kraftquell für die Befreiung vom Bösen. „Wenn das Weizenkorn … stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24), deutet Jesus selbst sein Sterben. Ebenso kann menschliches Leid fortan, wenn es sich mit dem Leiden Christi verbindet, „ergänzen, was an den Leiden Christi noch fehlt“ (vgl. Kol 1,24). Jesus bekräftigt dieses neue, tiefere Verständnis des Leidens in der Heiligen Schrift an mehreren Stellen. So sagt er zum Beispiel zum Geschick des Blindgeborenen: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden“ (Joh 9,3). Alle, die leiden, sind berufen, in einer besonderen Weise am Erlösungswerk Christi teilzunehmen. Gleichzeitig ist das menschliche Leid auch ein Aufruf an alle zur liebenden Teilnahme und zum solidarischen Dienst am Nächsten. Christus selbst versichert uns: Alles, was wir einem Leidenden an Liebe und Hilfe erweisen, ist letztlich ihm selbst erwiesen. Ihm gilt die Verheißung ewigen göttlichen Lohnes.
MIT DIESER KURZEN Betrachtung grüße ich euch, liebe Brüder und Schwestern: jeden einzelnen sowie alle genannten und ungenannten Gruppen. Möge euch diese Begegnung mit so vielen Gläubigen aus aller Welt in eurer Liebe zu Christus und zu seiner Kirche stärken und ermutigen. Das erbitte ich euch und allen, die euch verbunden sind, mit meinem besonderen Apostolischen Segen.
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