JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 29. November 1989
1. Das Kommen des Heiligen Geistes am Pfingsttag ist ein einmaliges Ereignis, das sich jedoch nicht in sich selbst erschöpft. Es ist hingegen der Beginn eines fortlaufenden Prozesses, von dem nur die ersten Phasen in der Apostelgeschichte aufgezeichnet sind. Sie betreffen vor allem das Leben der Kirche in Jerusalem, wo die Apostel, nachdem sie für Christus und den Geist Zeugnis abgelegt und die ersten Bekehrungen erreicht hatten, vor dem Hohen Rat das Daseinsrecht der ersten Gemeinschaft der Apostel und Jünger Christi verteidigen mussten. Die Apostelgeschichte sagt uns, dass die Apostel auch vor den Ältesten von derselben am Pfingsttag erhaltenen Kraft unterstützt wurden: Sie waren „erfüllt vom Heiligen Geist“ (vgl. z. B. Apg 4,8).
Diese Kraft des Geistes erweist sich als wirksam in einigen Augenblicken und Aspekten des Lebens der Jerusalemer Gemeinschaft, die die Apostelgeschichte besonders hervorhebt.
2. Wir fassen sie kurz zusammen und beginnen beim einmütigen Gebet, zu dem die Gemeinschaft sich versammelt, als die Apostel nach ihrer Rückkehr vom Hohen Rat den „Ihren“ berichten, was sie den Hohenpriestern und den Ältesten gesagt hatten. „Sie erhoben einmütig ihre Stimme zu Gott…“ (Apg 4,24). In dem schönen, von Lukas zitierten Gebet erkennen die Betenden in der Verfolgung den göttlichen Plan; sie erinnern sich daran, wie Gott „durch den Heiligen Geist“ gesprochen hat (4,25), und sie wiederholen die Worte des Psalms 2 (V. 1–2) über die Feindseligkeiten, die von den Königen und Völkern der Erde „gegen den Herrn und seinen Gesalbten“ entfesselt worden waren, und wenden sie auf den Tod Jesu an: „Wahrhaftig, verbündet haben sich in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, um alles auszuführen, was deine Hand und dein Wille im Voraus bestimmt haben. Doch jetzt, Herr, sieh auf ihre Drohungen und gib deinen Knechten die Kraft, mit allem Freimut dein Wort zu verkünden“ (Apg 4,27-29). Es ist ein Gebet voll des Glaubens und Vertrauens auf Gott, an dessen Ende der Heilige Geist sich wieder manifestiert, beinahe in einem neuen Pfingstereignis.
3. „Als sie gebetet hatten, bebte der Ort, an dem sie versammelt waren“ (Apg 4,31). Es ereignet sich also eine neue, spürbare Offenbarung der Macht des Heiligen Geistes, wie es erstmals am Pfingsttag geschehen war. Auch der Hinweis auf den Ort, an dem die Gemeinschaft versammelt war, bekräftigt die Analogie zum Abendmahlssaal und bedeutet, dass der Heilige Geist die ganze Gemeinschaft in sein umwandelndes Wirken miteinbeziehen will. Damals wurden alle „erfüllt vom Heiligen Geist“, nicht nur die Apostel, die vor die Führer des Volkes gestellt worden waren, sondern auch die „Ihren“ (4,23), die mit denen versammelt sind, die den zentralen und repräsentativen Kern der Urgemeinde bilden. Mit frischer Begeisterung, hervorgerufen durch die neue „Fülle“ des Heiligen Geistes, so berichtet die Apostelgeschichte, „verkündeten sie freimütig das Wort Gottes“ (Apg 4,31). Es war die Erhörung der Bitte, die sie an den Herrn gerichtet hatten: „Gib deinen Knechten die Kraft, mit allem Freimut dein Wort zu verkünden“ (Apg 4,29).
Das „kleine“ Pfingsten setzt deshalb einen neuen Anfang für die Evangelisierungssendung nach der Verurteilung und Inhaftierung der Apostel durch den Hohen Rat. Die Kraft des Heiligen Geistes zeigt sich besonders in dem Freimut, den die Mitglieder des Hohen Rates bereits bei Petrus und Johannes nicht ohne Verwunderung bemerkt hatten, weil es „ungelehrte und einfache Leute waren“ und sie „sie als Jünger Jesu erkannten“ (vgl. Apg 4,13). Jetzt unterstreicht die Apostelgeschichte von neuem, dass sie, „mit dem Heiligen Geist erfüllt, freimütig das Wort Gottes verkündeten“ (vgl. Apg 4,13).
4. Auch das ganze Leben der Urgemeinde von Jerusalem ist vom Heiligen Geist gekennzeichnet, der ihr unsichtbarer Führer und ihre Treibkraft ist. Die Gesamtschau, die Lukas davon gibt, erlaubt uns, in dieser Gemeinde beinahe den Typus der christlichen Gemeinschaften zu sehen, die sich im Laufe der Jahrhunderte gebildet haben, angefangen von der Pfarrei bis zu den religiösen Orden, in denen die Frucht der „Fülle des Heiligen Geistes“ konkrete Gestalt annimmt in einigen grundlegenden Formen der Organisation, die teilweise im Kirchenrecht selbst verankert sind.
In der Hauptsache sind es folgende: die Gemeinschaft (koinonia) in Brüderlichkeit und Liebe (vgl. Apg 2,42), so dass man von jenen Christen sagen konnte, dass sie „ein Herz und eine Seele“ waren (Apg 4,32); der Gemeinschaftsgeist, als sie ihre Güter den Aposteln überließen zur Verteilung an jeden einzelnen entsprechend seinen Bedürfnissen (vgl. Apg 4,34-37), oder zu ihrem Gebrauch, wenn der Besitz erhalten blieb, so dass „keiner etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum nannte“ (Apg 4,32; vgl. 2,44-45; 4,34-37); die Gemeinschaft im Festhalten an der Lehre der Apostel (vgl. Apg 2,42) und ihr „Zeugnis von der Auferstehung Jesu, des Herrn“ (Apg 4,33); die Gemeinschaft im „Brechen des Brotes“ (Apg 2,42), das heißt im gemeinsamen Mahl nach jüdischem Brauch, in den sich aber für die Christen der Ritus der Eucharistie einfügte (vgl. 1 Kor 10,16; 11,24; Lk 22,19; 24,35); die Gemeinschaft im Gebet (vgl. Apg 2,42.46-47). Das Wort Gottes, die Eucharistie, das Gebet, die brüderliche Liebe waren also der viereckige Rahmen, in dem die Gemeinde lebte, wuchs und erstarkte.
5. Die Apostel ihrerseits „legten mit großer Kraft Zeugnis ab von der Auferstehung Jesu, des Herrn“ (4,33) und vollbrachten „viele Zeichen und Wunder“ (ebd. 5,12), worum sie im Abendmahlssaal gebetet hatten: „Streck deine Hand aus, damit Heilungen und Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus“ (Apg 4,30). Es waren Zeichen der Gegenwart und des Wirkens des Heiligen Geistes, auf den sich das ganze Leben der Gemeinschaft bezog. Auch die Schuld von Hananias und Saphira, die vorgaben, den Aposteln und der Gemeinde den gesamten Erlös eines verkauften Grundstückes zu bringen, während sie aber einen Teil zurückbehalten hatten, wird von Petrus als ein Vergehen gegenüber dem Heiligen Geist betrachtet: „Du belügst den Heiligen Geist“ (5,3); „Warum seid ihr übereingekommen, den Geist des Herrn auf die Probe zu stellen?“ (Apg 5,9). Es handelte sich nicht um eine „Sünde wider den Heiligen Geist“ in dem Sinn, in dem das Evangelium (vgl. Lk 12,10) davon spricht und der auch in die Texte der Morallehre und Katechese der Kirche eingegangen wäre. Es handelte sich vielmehr um ein nachlassendes Bemühen, „die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält“, wie der heilige Paulus schreibt (Eph 4,3): Es ist also eine Vortäuschung des Bekenntnisses jener christlichen Gemeinschaft in der Liebe, deren Seele der Heilige Geist ist!
6. Das Bewusstsein von der Gegenwart und Wirksamkeit des Heiligen Geistes ist auch bei der Wahl der sieben Diakone zu finden, der Männer „voll Geist und Weisheit“ (Apg 6,3) und besonders des Stephanus, eines Mannes, „erfüllt vom Glauben und vom Heiligen Geist“ (Apg 6,5), der frühzeitig Jesus Christus mit Leidenschaft, Begeisterung und Kraft verkündete und „Wunder und große Zeichen unter dem Volk“ vollbrachte (Apg 6,8). Er weckte den Zorn und die Eifersucht unter einem Teil der Juden, die sich gegen ihn erhoben; Stephanus hörte nicht auf zu predigen und zögerte nicht, jene Gegner anzuklagen, sie seien die Erben ihrer Väter, weil sie sich „dem Heiligen Geist widersetzten“ (Apg 7,51); er ging gelassen dem Märtyrertod entgegen, wie die Apostelgeschichte berichtet: Stephanus, „erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen“ (Apg 7,55), und in dieser Haltung wurde er gesteinigt.
So machte die Urkirche unter dem Wirken des Heiligen Geistes neben der Erfahrung der Gemeinschaft auch die des Martyriums.
7. Die Gemeinde von Jerusalem bestand aus Männern und Frauen, die aus dem Judentum stammten, wie die Apostel und Maria selbst. Wir können diese Tatsache nicht außer Acht lassen, auch wenn diese Judenchristen, die um Jakobus versammelt waren, als Petrus nach Rom ging, sich zerstreuten und nach und nach verschwanden. Trotzdem: Das, was wir aus der Apostelgeschichte erfahren, muss uns Achtung und auch Dankbarkeit einflößen gegenüber diesen unseren fernen „älteren Brüdern“, weil sie zu dem Jerusalemer Volk gehörten, bei dem die Apostel „beliebt“ waren (vgl. Apg 2,47), die „Zeugnis ablegten von der Auferstehung Jesu, des Herrn“ (Apg 4,33). Wir können auch nicht vergessen, dass die Kirche, die sich aus jener ersten Gemeinde entwickelt hatte, nach der Steinigung des Stephanus und der Bekehrung des Paulus „in ganz Judäa, Galiläa und Samarien nun Frieden hatte; sie wurde gefestigt und lebte in der Furcht vor dem Herrn. Und sie wuchs durch die Hilfe des Heiligen Geistes“ (Apg 9,31).
So bezeugen uns die ersten Kapitel der Apostelgeschichte, dass die Verheißung, die Jesus den Aposteln im Abendmahlssaal vor seinem Leiden machte, sich erfüllt hatte: „Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit“ (Joh 14,16-17). Wie wir seinerzeit gesehen haben, bedeutet „Beistand“ – auf Griechisch „Paráklätos“ – auch Beschützer oder „Verteidiger“. Sei es als Beschützer oder Verteidiger, sei es als Beistand, der Heilige Geist ist in der Kirche gegenwärtig und wirksam seit den Anfängen ihres Entstehens aus dem Judentum. Wir werden sehen, dass derselbe Geist die Apostel und ihre Mitarbeiter bald dazu führt, Pfingsten auf alle Völker auszudehnen.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Das Kommen des Heiligen Geistes beschränkt sich nicht nur auf das Pfingstfest in Jerusalem. Sein Kommen ist fortan in der Kirche ein sich ständig wiederholendes Ereignis. In der Kraft des Heiligen Geistes verkünden die Apostel und die Glaubensboten aller Zeiten die Frohe Botschaft Christi, aus ihr lebt und wirkt die Kirche bis zum Ende.
Diese Kraft des göttlichen Geistes zeigt sich schon in der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem. „Als sie gebetet hatten“, so berichtet uns die Apostelgeschichte von den ersten Christen, „bebte der Ort, an dem sie versammelt waren, und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt, und sie verkündeten freimütig das Wort Gottes“ (Apg 4,31). Es ereignet sich in ihrer Mitte gleichsam ein neues Pfingsten, bei dem nun alle den Heiligen Geist empfingen. Das ganze Leben der Urgemeinde ist geprägt von seiner Gegenwart und seinem Wirken. Alle Christen bilden eine brüderliche Gemeinschaft, sie sind „ein Herz und eine Seele“ (Apg 4,32), sie halten fest an der Lehre der Apostel, am Brechen des Brotes und an den Gebeten (vgl. Apg 2,42). Die Apostel selbst legen mit großer Kraft Zeugnis ab von der Auferstehung Jesu und wirken viele Zeichen und Wunder im Volk. Darum heißt es dann in der Apostelgeschichte von der Kirche ausdrücklich: „Sie wuchs durch die Hilfe des Heiligen Geistes“ (Apg 9,31). Somit erfüllt sich schon in der Urgemeinde die Verheißung Jesu an die Apostel: „Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll“ (Joh 14,16). Darin ist die erste christliche Gemeinde von Jerusalem gleichsam der Typus und das Vorbild für alle christlichen Gemeinden und Gemeinschaften, in denen sich durch die Jahrhunderte hindurch die Gaben der „Fülle des Heiligen Geistes“ konkretisieren und entfalten.
Von Herzen erteile ich euch und allen, die euch verbunden sind, meinen besonderen Apostolischen Segen.
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