JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 24. März 1993
1. Die Unfehlbarkeit des römischen Papstes ist ein Thema von außerordentlicher Bedeutung für das Leben der Kirche. Deshalb scheinen weitere Überlegungen zu den konziliaren Texten angebracht, um den Sinn und die Reichweite dieses Vorrechts besser klarzustellen.
Die Konzilien versichern vor allem, daß die dem römischen Papst zuerkannte Unfehlbarkeit ihm persönlich gilt in dem Sinn, daß sie mit der persönlichen Nachfolge von Petrus auf ihn in der römischen Kirche übergeht. Das heißt mit anderen Worten, daß der römische Papst nicht der einfache Träger einer tatsächlich dem römischen Stuhl zugehörigen Unfehlbarkeit ist. Er übt das Lehramt und im Allgemeinen das Hirtenamt als „vicarius Petri” aus, als „Statthalter Petri”, wie er im ersten christlichen Jahrtausend oft genannt wird. Das heißt, daß er gleichsam die Sendung und Vollmacht Petri verkörpert und sie im Namen dessen verwaltet, dem sie von Jesus selbst verliehen wurde.
Jedoch ist es klar, daß die Unfehlbarkeit dem römischen Papst nicht als Privatperson gegeben ist, sondern wenn er als Hirt und Lehrer aller Christen seines Amtes waltet. Er übt sie auch nicht aus, weil er die Vollmacht in und von sich selbst hat, sondern „in höchster apostolischer Amtsgewalt” und „aufgrund des göttlichen Beistandes, der ihm im heiligen Petrus verheißen ist”. Schließlich besitzt er sie nicht so, als könnte er unter allen Umständen über sie verfügen oder auf sie zählen, sondern nur, wenn er „in höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht” und nur in einem Bereich, der sich auf die Glaubens- und Sittenlehre und die damit eng verbundenen Wahrheiten beschränkt.
2. Nach den Texten der Konzilien wird das unfehlbare Lehramt in „der Glaubens- und Sittenlehre” ausgeübt. Es handelt sich um den Bereich der explizit oder implizit offenbarten Wahrheiten, die eine Glaubenszustimmung erfordern und deren Schatz – ihnen von Christus anvertraut und von den Aposteln überliefert – die Kirche hütet: Sie würde ihn nicht angemessen hüten, wenn sie nicht seine Reinheit und Vollständigkeit schützen würde. Es handelt sich um Wahrheiten, die Gott selbst und sein Schöpfungs- und Erlösungswerk, den Menschen und die Welt in ihrer kreatürlichen Beschaffenheit und in ihrer Bestimmung nach dem Plan der Vorsehung betreffen, sowie um die, die das ewige Leben und das Leben auf Erden in fundamentaler Weise bezüglich der Wahrheit und des Guten erfordern.
Es handelt sich also auch um „Lebenswahrheiten” und um ihre Anwendung im Verhalten des Menschen. Der göttliche Meister hat den Aposteln mit dem Evangelisierungsauftrag befohlen: „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern … lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe” (Mt 28,19-20). Diese Prinzipien der Vernunft, die zwar in den Glaubenswahrheiten nicht enthalten, aber mit ihnen eng verbunden sind, gehören in den Bereich der Wahrheiten, die das Lehramt endgültig vorlegen kann. In der konkreten Wirklichkeit von gestern und heute rettet das Lehramt der Kirche und besonders des römischen Papstes diese Prinzipien und befreit sie ständig von den Verschleierungen und Verzerrungen, denen sie unter dem Druck von Interessen und Fehlhaltungen, die in kulturellen Modellen und Strömungen begründet sind, anheimfallen.
In diesem Sinn sagte das I. Vatikanische Konzil, das unfehlbare Lehramt gelte für „eine Lehre über Glauben oder Sitten, die von der ganzen Kirche festzuhalten sei” (DS 3074). Und in der neuen, jüngst approbierten Formel des Glaubensbekenntnisses (vgl. AAS 81, 1989, S. 105; 1169) wird unterschieden zwischen von Gott offenbarten Wahrheiten, denen eine Glaubenszustimmung gebührt, und den Wahrheiten, die nicht als von Gott geoffenbart, aber endgültig definiert vorgelegt werden und deshalb eine endgültige Zustimmung erfordern, die aber keine Glaubenszustimmung ist.
3. Aus den Konzilstexten gehen auch die Bedingungen für die Ausübung des unfehlbaren Lehramtes durch den römischen Papst hervor. Man kann sie folgendermaßen zusammenfassen: Der Papst muß als „Hirt und Lehrer aller Christen” handeln und sich über Wahrheiten hinsichtlich „Glaube und Sitten” äußern mit Worten, die klar seine Absicht bekunden, eine bestimmte Wahrheit zu definieren und die endgültige Zustimmung zu ihr von allen Christen zu fordern. Dies geschah zum Beispiel bei der Definition der Unbefleckten Empfängnis Mariens, als Pius IX. bekräftigte: „Die Lehre … ist von Gott geoffenbart und deshalb von allen Gläubigen fest und standhaft zu glauben” (DS 2803). Oder bei der Definition der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, als Pius XII. sagte: „(Wir) verkünden, erklären und definieren … in Kraft der Vollmacht unseres Herrn Jesus Christus, der heiligen Apostel Petrus und Paulus und in Unserer eigenen Vollmacht: Es ist eine von Gott geoffenbarte Glaubenswahrheit…” (DS 3903).
Unter diesen Bedingungen kann man vom außerordentlichen päpstlichen Lehramt sprechen, dessen Definitionen „aus sich und nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche unanfechtbar” sind („ex sese, non autem ex consensu Ecclesiae”). Das heißt, daß diese Definitionen, um Gültigkeit zu besitzen, keine Zustimmung der Bischöfe brauchen, „da sie ja unter dem Beistand des Heiligen Geistes vorgebracht sind, der ihm (dem römischen Papst) im heiligen Petrus verheißen wurde. Sie bedürfen daher keiner Bestätigung durch andere und dulden keine Berufung an ein anderes Urteil” (Lumen gentium, Nr. 25).
4. Die Päpste können diese Form des Lehramts ausüben. Und das ist auch geschehen. Aber viele Päpste haben es nicht ausgeübt. Zu beachten ist, daß in den Konzilstexten, die wir auslegen, zwischen dem „ordentlichen” und dem „außerordentlichen” Lehramt unterschieden und die Bedeutung des ersteren betont wird, das einen ständigen und fortdauernden Charakter hat; das Lehramt hingegen, das in den Definitionen zum Ausdruck kommt, ist sozusagen außerordentlich.
Neben dieser Unfehlbarkeit der Erklärungen „ex cathedra” besteht das Charisma des Beistandes des Heiligen Geistes, der Petrus und seinen Nachfolgern gewährt wird, damit sie in Sachen des Glaubens und der Moral nicht irren, sondern dem christlichen Volk eine erleuchtete Weisung geben. Dieses Charisma beschränkt sich nicht auf die außerordentlichen Fälle, sondern umfaßt in verschiedener Weise die ganze Ausübung des Lehramtes.
5. Aus den Konzilstexten geht auch hervor, wie schwer die Verantwortung des römischen Papstes in der Ausübung seines sowohl ordentlichen als auch außerordentlichen Lehramtes ist. Er empfindet deshalb das Bedürfnis, ja, man kann sagen, die Pflicht, den „sensus Ecclesiae” zu erforschen, bevor er eine Glaubenswahrheit definiert, denn er weiß, daß seine Definition „die katholische Glaubenslehre auslegt und schützt” (vgl. Lumen gentium, Nr. 25).
„Dies geschah vor den Definitionen der Unbefleckten Empfängnis und der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, und zwar durch eine ausgedehnte und klare Umfrage in der ganzen Kirche. In der Bulle Munificentissimus Deus über die Aufnahme Mariens in den Himmel (1950) führt Pius XII. unter den Begründungen der Definition den Glaubensbeweis der christlichen Gemeinschaft an: „Die universale Zustimmung des ordentlichen Lehramtes der Kirche liefert einen sicheren und festen Beweisgrund, um zu bestätigen, daß die leibliche Aufnahme der seligsten Jungfrau Maria in den Himmel … eine von Gott geoffenbarte Wahrheit ist” (AAS 42, 1950, 757).
Im Übrigen sagt das II. Vatikanische Konzil, wenn es von der zu lehrenden Wahrheit spricht: „Um ihre rechte Erhellung und angemessene Darstellung mühen sich eifrig mit geeigneten Mitteln der Bischof von Rom und die Bischöfe, entsprechend ihrer Pflicht und dem Gewicht der Sache” (Lumen gentium, Nr. 25). Das ist ein kluger Hinweis, der Bestätigung findet im Vorgehen und in der Verfahrensweise der Päpste und der Ämter des Heiligen Stuhls, wenn sie die Aufgaben des Lehramtes und der Leitung als Nachfolger Petri erfüllen.
6. Wir schließen mit der Feststellung, daß die Ausübung des Lehramtes den Beitrag des römischen Papstes zur Entwicklung der Lehre der Kirche konkretisiert und deutlich macht. Der Papst spielt nicht nur eine Rolle als Haupt des Kollegiums der Bischöfe in den von ihnen verkündeten Definitionen des Glaubens und der Moral oder als Sprachrohr ihres Denkens, sondern auch eine persönlichere Rolle sowohl im ordentlichen Lehramt als auch in den Definitionen.
Der Papst erfüllt seine Aufgabe, indem er sich persönlich eifrig bemüht und auch die Bischöfe, Theologen, Sachkundige der Lehre in verschiedenen Bereichen und die Experten der Seelsorge, der Spiritualität und des sozialen Lebens zum Studium anregt.
Auf diese Weise bewirkt er eine kulturelle und moralische Bereicherung auf allen Ebenen der Kirche. Auch im Organisieren der Beratungstätigkeit, des Forschens und Studierens erscheint er als der Nachfolger des „Felsens”, auf den Christus seine Kirche gebaut hat.
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Liebe Schwestern und Brüder!
In der heutigen Katechese wollen wir im Zusammenhang mit dem verheißenen göttlichen Beistand weiter über Sinn und Umfang der dem Nachfolger Petri eigenen Unfehlbarkeit nachdenken. Dies gilt zwar ihm persönlich, jedoch nicht als Privatperson, sondern, wie dies aus den Texten des Konzils hervorgeht, sofern er als „Hirte und Lehrer aller Christen” Wahrheiten definiert, die die „Glaubens- und Sittenlehre” der Kirche betreffen.
So können wir von einem außerordentlichen päpstlichen Lehramt sprechen, dessen Definitionen mit Recht aus sich heraus und nicht erst aufgrund der Zustimmung der Kirche unanfechtbar sind, da sie, wie das jüngste Konzil lehrt, „unter dem Beistand des Heiligen Geistes vorgebracht sind”, der den Päpsten im heiligen Petrus verheißen wurde (Lumen gentium, Nr. 25).
Angesichts dieser verantwortungsschweren Aufgabe hat der Papst nicht nur das Bedürfnis, sondern die Pflicht, den „sensus Ecclesiae” zu erfragen, wohlwissend, daß er durch die Ausübung seines Lehramtes „die Lehre des katholischen Glaubens auslegt und schützt” (Lumen gentium, Nr. 25).
Nach dieser kurzen Betrachtung und mit dem innigen Wunsch an Euch, liebe deutschsprachige Pilger und Besucher, durch einen hochherzigen Glauben und in froher Hingabe dem nahen Osterfest entgegenzugehen, grübe ich Euch recht herzlich. Mein besonderer Willkommens grub gilt den Teilnehmern am Romseminar der Arbeitsgemeinschaft Katholische Presse, der Gruppe des Kreuzbund–Diözesanverbandes Mainz sowie der Pilgergruppe VDK aus Jena. Ebenso herzlich begrübe ich die Pilger aus Neunkirchen mit dem Chor Pro–Musica aus Breitenau und die Studentinnen und Studenten aus China und Korea, die in Deutschland am Arbeitskreis China–Europa teilnehmen.
Euch allen, Euren lieben Angehörigen und Freunden daheim sowie allen, die uns auf dem Weg durch die österliche Bubzeit verbunden sind, erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.
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Herzlich begrüße ich euch, liebe Pilger aus Vukovar, Vinkovci und anderen kroatischen Ortschaften, die der Verwüstung durch den Krieg ausgesetzt sind. Ich teile mit euch eure Leiden und eure Hoffnungen. Bei dieser Gelegenheit erneuere ich die schon wiederholt ergangenen Aufrufe an die Kriegsparteien: Sie sollen das unveräußerliche Recht der Menschen achten, sichere Nachricht über ihre gefangengehaltenen Angehörigen zu bekommen und deren Freilassung zu verlangen; desgleichen sollen sie das Recht von Flüchtlingen und Vertriebenen auf Rückkehr in ihre Häuser respektieren. Es ist eine moralische Pflicht aller Menschen guten Willens und der internationalen Gemeinschaft, Wege und Mittel zu finden, um diese vorwiegend humanitäre Aufgabe zu verwirklichen.
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