JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 12. Januar 1994
„Jesus wird im Todeskampf liegen bis ans Ende der Welt…”
1. Wie ihr wisst, habe ich für Sonntag, den 23. Januar, einen besonderen Gebetstag angekündigt, dem ein Fasttag am Freitag, dem 21. Januar, vorausgehen soll. Anliegen ist der Friede auf dem Balkan. Es ist dringender denn je, dass sich aus der gesamten Gemeinschaft der Kirche und aus den Herzen aller Glaubenden ein inständiges, flehentliches Bitten für jene geliebten Bevölkerungsgruppen erhebt, auf deren Tragödie sich so offensichtlich die Worte Pascals anwenden lassen: „Jesus wird im Todeskampfe sein bis ans Ende der Welt” (Pensées, „Le mystère de Jésus”, 553). Diese Worte tauchten als ein vorherrschender Gedanke bei der kürzlich im Vatikan abgehaltenen Studientagung auf, die den Frieden auf dem Balkan zum Thema hatte. Die Tagung galt einer sorgfältigen Analyse der Lage der Volksgruppen auf dem Balkan, die eine tiefergehende Erkenntnis der Ursachen, der Wirklichkeit und der Folgen des blutigen Konflikts ermöglicht hat.
Es ist schwer, in dem Geschehen, das sich seit Jahren im ehemaligen Jugoslawien zuträgt, nicht „den Todeskampf Christi” zu sehen, der „bis ans Ende der Welt weitergeht”. Auch wenn der hl. Paulus betont, dass „Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn” (Röm 6,9), so hört der Tod doch nicht auf, im Dasein der Menschen präsent zu sein. Wir sind Zeugen eines Todesprozesses, gerade auf dem Balkan, und leider ohnmächtige Zeugen. Christus stirbt weiter bei den derzeitigen tragischen Ereignissen, die in jenem Teil der Welt vor sich gehen, und dies war Gegenstand unseres gemeinsamen Nachdenkens. Christus setzt seinen Todeskampf fort in vielen unserer Brüder und Schwestern: in den Männern und Frauen, in den Kindern, Jugendlichen und Alten; in so vielen Christen und Muslimen, in Gläubigen und Ungläubigen.
2. Im Krieg auf dem Balkan bilden unschuldige Menschen die große Mehrheit der Opfer. Und selbst unter den Soldaten sind nicht viele, die für die derzeitigen kriegerischen Operationen volle Verantwortung tragen. So war es auf Golgota, wo die am Tod Christi wahrhaft Schuldigen auch nur wenige waren. Diejenigen, die seine Hinrichtung ausführten, und selbst die, welche schrien: „Kreuzige ihn, kreuzige ihn” (Lk 23,21), wussten nicht, was sie taten und forderten. Daher sagte Jesus am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun” (Lk 23,34).
Aber kann man wirklich sagen, dass die Personen und die für die tragischen Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien verantwortlichen Kreise nicht wissen, was sie tun? Es ist doch in der Tat unmöglich, dass sie es nicht wissen. Vielleicht ist es wahr, dass sie nach Rechtfertigung für ihr Vorgehen suchen. Unser Jahrhundert hat uns leider nicht wenige Beispiele dieser Art geboten. Totalitäre Einstellungen sowohl nationalistischer als auch kollektivistischer Prägung haben in der jüngsten Vergangenheit beachtliche Verbreitung gefunden, und sie gründeten sich alle auf den Gehorsam gegenüber „Heilsideologien”, die für die einzelnen Menschen und die gesamte Gesellschaft das Paradies auf Erden versprachen. In diesem Zusammenhang könnte man sagen, dass das, was jetzt auf dem Balkan geschieht, vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte Europas nichts Neues ist. Wir haben leider den Anspruch auf „Lebensraum” wie auch den Gedanken, eine auserwählte Nation, eine privilegierte Rasse oder Klasse zu sein, bereits kennengelernt.
3. Als am Ende des Zweiten Weltkriegs die Gewissen neu erwachten, wurde sich die Menschheit bewusst, wie sehr das alles gegen das Wohl des Menschen und der Nationen gerichtet war. Die erste Antwort auf die Grausamkeiten jenes schrecklichen Konfliktes war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Nun aber scheint man auf dem Balkan gewissermaßen wieder zum Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein. Die Menschenrechte werden in fürchterlicher und tragischer Weise verletzt, die Verantwortlichen aber gehen so weit, dass sie ihr Vorgehen mit dem Prinzip des Gehorsams gegenüber Anordnungen und bestimmten Ideologien rechtfertigen. So klingen auch jetzt die Worte Christi an seinen Vater wider: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.”
Auch wenn tatsächlich ein gewisses Nichtbewusstsein vom Ernst des Augenblicks vorliegt, so entbindet uns das nicht davon, nach objektiven Kriterien gegenüber einer derart tragischen Lage Stellung zu beziehen. Die für die grausamen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs Verantwortlichen wurden verurteilt, und im Westen wurde dieser Prozess in relativ kurzer Zeit abgeschlossen. In Osteuropa dagegen musste man großenteils bis zum Jahre 1989 warten, und nicht alle an den vielfältigen und nachgewiesenen Verletzungen der Menschenrechte Schuldigen sind bis heute einer gerechten Verurteilung unterzogen worden.
4. Was auf dem Balkan geschieht, weckt spontan Gedanken dieser Art. Doch während wir anerkennen, dass die Schuldigen unbedingt verurteilt werden müssen, dürfen wir dennoch den Ruf Christi am Kreuz nicht vergessen: „Vergib ihnen!” Weder die Kirche noch der Apostolische Stuhl noch die ökumenischen Kreise, denen die Einheit der Christen ein Herzensanliegen ist, dürfen diesen Ruf vergessen. Und nicht vergessen dürfen ihn die Verteidiger der Menschenrechte, die im Namen der europäischen und weltweiten internationalen Organisationen sprechen. Dabei geht es gewiss nicht um eine oberflächliche Nachsicht gegenüber dem Bösen, sondern um ein aufrichtiges Bemühen um Unparteilichkeit und das notwendige Verständnis für diejenigen, welche, von einem irrigen Gewissen geleitet, gehandelt haben.
Von all dem war die Rede bei dem kürzlich im Vatikan abgehaltenen Treffen. Als allgemeine Schlussfolgerung ergab sich folgende: Derart schwerwiegende Probleme können ohne Bezugnahme auf Christus nicht gelöst werden.
Es wurde gesagt, dass die Christen auf dem Balkan ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, weil sie ideologischem Druck verschiedener Art nachgegeben haben. Jeder muss also seinen Teil an Verantwortung übernehmen. Doch die Schwäche der Christen stellt noch mehr die Macht Christi ins Licht. Ohne ihn lassen sich die Probleme nicht lösen, die für die Institutionen und die internationalen Organisationen wie auch für die verschiedenen in den Konflikt verwickelten Regierungen täglich noch komplizierter werden.
Wenn es unmöglich erscheint, zu einer dauerhaften friedlichen Lösung zu kommen, liegt das vielleicht bloß am Fehlen des guten Willens bei den sich bekämpfenden Gruppen? Lässt sich auch hier der Ruf Christi anwenden: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun”? Wir dürfen annehmen, dass alle Beteiligten vernünftigerweise das Schlimmste vermeiden wollen, nämlich die Ausdehnung der bewaffneten Konflikte bis hin zu der Gefahr, dass daraus ein europäischer oder gar weltweiter Krieg werden könnte.
Der Apostolische Stuhl hört seinerseits nicht auf, das Prinzip des humanitären Eingreifens in Erinnerung zu rufen. Es geht nicht in erster Linie um militärisches Eingreifen, sondern um jede Art von Aktionen, die eine „Entwaffnung” des Aggressors zum Ziel hat. Dieses Prinzip kommt bei den besorgniserregenden Ereignissen auf dem Balkan eindeutig zur Anwendung. In der Morallehre der Kirche wird jeder militärische Angriff als moralisches Übel beurteilt; die berechtigte Verteidigung dagegen gilt als zulässig und zuweilen als Pflicht. Die Geschichte unseres Jahrhunderts hat diese Lehre vielfach bestätigt.
5. Das mächtigste humanitäre Eingreifen bleibt aber immer das Gebet. Es stellt eine enorme geistige Kraft dar, vor allem, wenn es von Opfer und Leiden begleitet ist. Wie viele Opfer und Leiden müssen die Menschen und Nationen jener hart geprüften Region des Balkans auf sich nehmen! Auch wenn es einem oberflächlichen Blick nicht erscheint und viele es nicht anerkennen, bildet das mit dem Opfer verbundene Gebet die mächtigste Kraft in der Geschichte der Menschheit. Es gleicht, wie der hl. Paulus sagt, dem „Sammeln von glühenden Kohlen auf das Haupt derer, die Verbrechen und Unrecht begehen” (vgl. Röm 12,20); es gleicht dem „zweischneidigen Schwert, es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens” (Hebr 4,12).
Das Gebet ist ferner eine Waffe für die Schwachen und für alle, die Ungerechtigkeit erleiden. Es ist die Waffe jenes geistigen Kampfes, den die Kirche in der Welt führt: Sie verfügt über keine anderen Waffen. Der Weltfriedenstag ist ein kraftvoller jährlicher Aufruf zum Gebet. Im vergangenen Jahr ist er durch die besondere Begegnung in Assisi, an der auch Vertreter der Nationen des Balkans teilgenommen haben, gleichsam verlängert worden. In diesem Jahr dagegen ist für Sonntag, den 23. Januar, ein Gebetstag für den Frieden innerhalb der Gebetsoktav für die Einheit der Christen vorgesehen.
Die jüngste Studientagung, an der qualifizierte Fachleute teilgenommen haben, hatte den Zweck, einen Beitrag zur Vorbereitung des besonderen „Tages” am kommenden 23. Januar zu leisten, damit er noch zahlreichere und intensivere Teilnahme findet. Das Gebet muss uns wirklich alle vor Gott, dem gerechten und erbarmungsvollen Vater, vereinen.
6. Im vergangenen Jahr wurde Schwester Faustina Kowalska seliggesprochen, die Christus am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zu einem umfangreichen Apostolat der Barmherzigkeit berufen hatte. Sr. Faustina war sich der Wichtigkeit der ihr von Christus anvertrauten Botschaft bewusst, sie konnte aber noch nicht wissen, wie weit diese sich bereits wenige Jahre nach ihrem Tod in der Welt verbreiten sollte. Die ganze Menschheit braucht diese Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes. Die Welt von heute braucht sie, zumal die hart geprüfte Balkanregion. Die Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes ist zugleich ein nachdrücklicher Aufruf zu lebendigerem Vertrauen: „Jesus, ich vertraue auf dich!” Schwerlich wird man beredtere Worte finden können als die, die uns Sr. Faustina hinterlassen hat.
Jesus, ich vertraue auf dich! Das ist die Hoffnung, die uns in den vergangenen Tagen gemeinsamen Nachdenkens geleitet und das Bewusstsein lebendig gehalten hat, dass der Friede auf dem Balkan möglich ist. „Spes contra spem” – „Hoffnung gegen alle Hoffnung!” Bei Gott ist kein Ding unmöglich! Möglich ist vor allem die Bekehrung, die den Hass in Liebe und den Krieg in Frieden zu verwandeln vermag.
Daher wird unser Gebet umso eindringlicher und vertrauensvoller: Jesus, ich vertraue auf dich!
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Liebe Schwestern und Brüder!
So bitte ich euch, liebe Pilger und Besucher, Eure Angehörigen und Freunde sowie alle, die unseren Brüdern und Schwestern auf dem Balkan im Mittragen des Leides, der Entbehrungen und des erlittenen Unrechtes verbunden sind, besonders am 23. Januar Herz und Hände zum Gebet zu erheben. Von Herzen erteile ich Euch allen meinen Apostolischen Segen.
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