JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 26. Oktober 1994
1. In den vorhergehenden Katechesen habe ich mehrmals über die evangelischen Räte gesprochen, die im gottgeweihten Leben in die Gelübde – oder zumindest die Verpflichtung – der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams umgesetzt werden. Sie erhalten ihre volle Bedeutung in Verbindung mit einem Leben, das in Gemeinschaft mit Christus ganz (total) Gott geweiht ist. Das Adverb „total” (totaliter), von Thomas von Aquin verwendet, um den wesentlichen Wert des Ordenslebens zu bezeichnen, ist äußerst ausdrucksvoll! „Die Religion aber ist eine Tugend, durch welche wir Gott zu Dienst und Ehren etwas darbringen. Deshalb werden in betonter Weise ‚Religiosen‘ genannt” (Summa Theol., II-II, q.186, a.1; Deutsche Thomasausgabe, Bd. 24, München/Wien 1952). Es ist ein Begriff, der aus der Tradition der Väter, hauptsächlich vom hl. Hieronymus (vgl. Epist. 125, ad Rusticum) und vom hl. Gregor dem Großen (vgl. Super Ezech., hom. 20), entnommen wurde. Das II. Vatikanische Konzil, das den hl. Thomas von Aquin zitiert, macht sich die Lehre zu eigen und spricht von der innigeren und vollkommeneren „Weihe an Gott”, die als Entwicklung der Taufgnade im Ordensstand durch das Band der evangelischen Räte geschieht (vgl. Lumen Gentium, Nr. 44).
2. Man beachte, dass nicht menschliches Bemühen bei dieser Weihe den Vorrang hat. Die Initiative geht von Christus aus, der einen Bund freier Zustimmung in seiner Nachfolge verlangt. Er ist es, der von der menschlichen Person Besitz ergreift, sie „weiht”.
Nach dem Alten Testament weihte Gott selbst Menschen und Dinge, indem er ihnen in irgendeiner Weise die eigene Heiligkeit mitteilte. Das ist nicht so zu verstehen, dass Gott die Menschen und noch weniger die Dinge innerlich weihte, sondern in dem Sinn, dass er sie in Besitz nahm und sie in seinen unmittelbaren Dienst stellte. Die „heiligen” Dinge waren für den Gottesdienst bestimmt und konnten deshalb nur im Bereich des Tempels und des Kultes, aber nicht für das dienen, was „profan” war. Das war die Heiligkeit, die den Dingen zuerkannt wurde, die nicht von „profaner” Hand berührt werden durften (zum Beispiel die Bundeslade oder die Gefäße des Tempels, die – wie man in 1 Makk 1,22 liest – von Antiochus entweiht wurden). Das Volk Israel seinerseits war „heilig” als „Eigentum des Herrn” (segullāh = der persönliche Schatz des Herrschers) und hatte deshalb ein heiliges Merkmal (vgl. Ex 19,5; Dtn 7,6; Ps 135,4 usw.). Um mit diesem „segullāh” in Verbindung zu stehen, wählte sich Gott „Sprecher” aus, „Männer Gottes”, „Propheten”, die in seinem Namen reden sollten. Er heiligte sie (moralisch) durch das besondere Vertrauens- und Freundschaftsverhältnis, das er mit ihnen unterhielt, so dass einige dieser Persönlichkeiten „Freunde Gottes” (vgl. Weish 7,27; Jes 41,8; Jak 2,23) genannt wurden.
Aber es gab weder Menschen, Mittel noch Instrumente von irgendeiner Institution, die auch den bereitwilligsten Menschen durch innere Kraft die Heiligkeit Gottes mitteilen konnten. Das sollte die große Neuheit der christlichen Taufe sein, durch die die Glaubenden „das Herz … gereinigt” hatten (Hebr 10,22) und „reingewaschen, geheiligt, gerecht geworden sind im Namen Jesu Christi, des Herrn, und im Geist unseres Gottes” (vgl. 1 Kor 6,11).
3. Wesentliches Element des Gesetzes des Evangeliums ist die Gnade, die eine gerecht- und heiligmachende Lebenskraft ist, wie der hl. Thomas (vgl. I-II, q.106, a.2) im Anschluss an Augustinus (vgl. De Spiritu et Littera, c.17) erklärt. Christus nimmt schon im Innersten durch die Taufe, in der er sein heiligmachendes Wirken beginnt, von der Person Besitz, indem er sie „weiht” und in ihr den Anspruch auf eine Antwort weckt, die er selbst durch seine Gnade nach dem Maß der physisch-psychischen, geistlichen und moralischen Fähigkeit des Menschen ermöglicht. Die Oberherrschaft, die durch die Gnade Christi in der Weihe ausgeübt wird, verringert in keiner Weise die Freiheit der Antwort auf den Ruf noch den Wert und die Bedeutung des menschlichen Einsatzes.
Das wird besonders augenscheinlich in der Berufung zur Praxis der evangelischen Räte. Der Ruf Christi wird begleitet von einer Gnade, die die menschliche Person erhebt und ihr höher geordnete Fähigkeiten verleiht, um diese Räte zu befolgen. Das heißt, dass es im gottgeweihten Leben eine Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit selbst gibt, die nicht frustriert, sondern durch das göttliche Geschenk erhoben und aufgewertet wird.
4. Der Mensch, der den Ruf annimmt und die evangelischen Räte befolgt, vollbringt einen grundlegenden Akt der Liebe zu Gott, wie in der Konstitution Lumen Gentium (Nr. 44) des II. Vatikanischen Konzils zu lesen ist. Die Ordensgelübde haben den Zweck, einen Höhepunkt der Liebe zu verwirklichen: eine vollkommene, Christus unter dem Antrieb des Heiligen Geistes geweihte Liebe, die durch Christus dem Vater dargebracht wird. Daher kommt der Wert der Hingabe und Weihe der Ordensprofeß, die in der christlichen Tradition des Ostens und des Westens als ein „baptismus flaminis” betrachtet wird, sofern nämlich das Herz eines Menschen „durch den Heiligen Geist zum Glauben und zur Liebe Gottes und zur Reue über die Sünden angetrieben wird” (Summa Theol., III, q.66, a.11; Deutsche Thomasausgabe Bd. 29, Salzburg/Leipzig 1935).
Diesen Gedanken einer fast neuen Taufe habe ich in dem Schreiben Redemptionis donum dargelegt: „Die Ordensprofeß ist – auf der sakramentalen Grundlage der Taufe, in der sie wurzelt – ein neues ‚Begrabenwerden im Tod Christi‘: neu, weil bewusst und frei gewählt; neu, weil aus Liebe und Berufung; neu, weil gelebt in ständiger Bereitschaft zur ‚Umkehr‘. Ein solches ‚Begrabenwerden‘ bedeutet, dass der Mensch, der ‚zusammen mit Christus begraben‘ ist, ‚mit Christus als neuer Mensch leben‘ soll. In Christus, dem Gekreuzigten, finden sowohl die Taufweihe als auch die Profeß der evangelischen Räte, die nach den Worten des II. Vatikanischen Konzils ‚eine besondere Weihe‘ darstellt, ihr letztes Fundament. Diese Weihe ist zugleich Tod und Befreiung. Der hl. Paulus schreibt: ‚Begreift euch als Menschen, die für die Sünde tot sind‘; zugleich aber nennt er diesen Tod eine ‚Befreiung von der Sklaverei der Sünde‘. Vor allem jedoch stellt die Ordensweihe auf der sakramentalen Grundlage der heiligen Taufe ein neues Leben ‚für Gott in Christus Jesus dar‘” (Redemptionis donum, Nr. 7).
5. Dieses Leben ist um so vollkommener und trägt um so reichere Früchte der Taufgnade (vgl. Lumen Gentium, Nr. 44), je mehr sich die in der Taufe empfangene innige Gemeinschaft mit Christus zu einer vollkommeneren Vereinigung entwickelt. Denn das den Getauften auferlegte Gebot, Gott aus ganzem Herzen zu lieben, wird mit der Liebe voll befolgt, die Gott mit Hilfe der evangelischen Räte gelobt wurde. Es ist eine „besondere Weihe” (Perfectae caritatis, Nr. 5); eine innigere Hinordnung auf Gottes Dienst „durch einen neuen und besonderen Titel” (Lumen Gentium, Nr. 44); eine neue Weihe, die nicht als Implikation oder logische Folge der Taufe betrachtet werden darf.
Die Taufe führt nicht notwendigerweise zu einer Ausrichtung auf den Zölibat und zum Verzicht auf den Besitz von Gütern in Form der evangelischen Räte. Bei der Ordensweihe hingegen handelt es sich um die Berufung zu einem Leben, das die Gabe eines eigenen Charismas mit sich bringt, das nicht allen verliehen wird, wie Jesus bestätigt, als er über den freiwilligen Zölibat spricht (vgl. Mt 19,10–12). Es ist also ein souveräner Akt Gottes, der frei erwählt, beruft und einen Weg öffnet, der zweifellos mit der Taufweihe verbunden, aber von ihr verschieden ist.
6. In gleicher Weise kann man sagen, dass das Gelübde der evangelischen Räte die im Firmsakrament vollzogene Weihe weiterentwickelt. Es ist ein neues Geschenk des Heiligen Geistes, für ein aktives christliches Leben im Einsatz, in engerer Zusammenarbeit und im Dienst für die Kirche verliehen, um über die Anforderungen der Firmweihe hinaus durch die evangelischen Räte neue Früchte der Heiligkeit und des Apostolats hervorzubringen. Auch das Sakrament der Firmung – und der Wesenszug der christlichen Aktivität und des Apostolats, den sie mit sich bringt – liegt dem gottgeweihten Leben zugrunde.
In diesem Sinn ist es recht, die Auswirkungen der Taufe und der Firmung in der Weihe zu sehen, die mit der Annahme der evangelischen Räte verbunden ist, und das Ordensleben, das vom Wesen her charismatisch ist, in die Ökonomie der Sakramente einzuordnen. Auf dieser Linie kann man feststellen, dass auch das Weihesakrament für die Ordenspriester durch die Praxis der evangelischen Räte fruchtbar ist, indem es eine engere Zugehörigkeit zum Herrn erfordert. Die Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams wollen diese Zugehörigkeit konkret verwirklichen.
7. Die Verbindung der evangelischen Räte mit den Sakramenten der Taufe, der Firmung und der Weihe dient dazu, die wesentliche Bedeutung herauszustellen, die das gottgeweihte Leben für die Entwicklung der Heiligkeit der Kirche hat. Und deshalb möchte ich schließen mit der Einladung zum Gebet – zum innigen Gebet, um zu erlangen, dass der Herr seiner Kirche, die er selbst als „heilige” gewollt und gestiftet hat, das Geschenk des gottgeweihten Lebens immer mehr gewähre.
__________________________
Liebe Schwestern und Brüder!
Mit dieser kurzen Betrachtung grübe ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher sehr herzlich. Mein besonderer Gruß gilt den Teilnehmern der Diözesanwallfahrt des Bistums Fulda unter Leitung meines lieben Mitbruders im Bischofsamt Johannes Dyba. Mit der Pilgerfahrt vom Grab des hl. Bonifatius zu den Apostelgräbern verdeutlicht Ihr Eure enge Verbundenheit mit dem Nachfolger Petri.
Ferner grübe ich die Pilger aus allen anderen deutschsprachigen Ländern, besonders die Gruppe der Aussiedler aus Nordrhein-Westfalen.
Euch allen, Euren lieben Angehörigen zu Hause sowie den mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbundenen Gläubigen erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.
___________________________
Ein weiteres Mal kommt aus Algerien eine sehr traurige Nachricht: die Ermordung zweier spanischer Ordensfrauen. Es handelt sich um Sr. Ester Paniagua und um Sr. Maria Caridad Álvarez von den Augustinermissionarinnen, zwei hochherzige Frauen, die lange Jahre ihren Mitmenschen gedient haben. Leider wurden sie – nach zwanzigjährigem solidarischem Dienst an den Kranken und Schwachen – unschuldige Opfer der schweren Spannungen, die gerade jene islamische Welt kennzeichnen, in der sie lebten und hochherzig und treu ihre humanitäre Tätigkeit ausübten. Angesichts dieser neuen Tragödie möchte ich meine aufrichtige Hochschätzung für die Arbeit zum Ausdruck bringen, die von den Bischöfen, Priestern und Ordensleuten geleistet wird, die, wissend um die Gefahren der gegenwärtigen Situation, beschlossen haben, in Algerien zu bleiben, um weiterhin ihr Zeugnis des Glaubens und der Liebe zu geben. Dieses konkrete und mutige Verhalten kommt der gesamten Kirche zugute. Noch einmal: „Sanguis martyrum, semen christianorum.”
Das durch dieses traurige Ereignis hervorgerufene Leid wird noch verstärkt durch den Gedanken, dass diese grausame Tat in absurder Weise vorgibt, sich auch an religiösen Prinzipien zu inspirieren. Man kann sich nicht als an den allmächtigen und barmherzigen Gott Glaubenden betrachten und im Namen Gottes wagen, den Bruder zu töten.
Indem ich mit besonderer Aufmerksamkeit die heikle und komplexe Lage verfolge, in der sich Algerien befindet, fühle ich mich verpflichtet, alle Menschen guten Willens darauf hinzuweisen, dass man nur dann zu einer wahren Lösung gelangen kann, wenn man Abstand nimmt von dem Abgrund der Gewalt und hingegen den Weg des Dialogs, der weisen, konsequenten und mutigen Entscheidungen und der aufrichtigen Suche nach dem Gemeinwohl einschlägt.
Während unser Gebet zu Gott emporsteigt, um für Sr. Ester und Sr. Maria Caridad die ewige Ruhe zu erbitten, nehme ich geistig Anteil am Schmerz ihrer Angehörigen und ihrer Kongregation, denen ich zum Unterpfand des Trostes, der Hoffnung und Kraft den besonderen Apostolischen Segen erteile.
Copyright © Dikasterium für Kommunikation