JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 4. Januar 1995
1. Immer wurde der Betrachtung als höchstem Ausdruck des geistlichen Lebens und Höhepunkt der Gebetsentwicklung in der christlichen Tradition ein herausragender Platz zuerkannt. Betrachtendes Gebet gibt dem Ordensleben, wie immer es sei, seine Sinnfülle als Folge der besonderen, durch das Gelübde der evangelischen Räte begründeten Weihe. Kraft dieser Weihe ist das Ordensleben ein Leben des Gebets und folglich der Betrachtung – und kann nichts anderes sein -, auch wenn dem Gebet in der Vorgabe der Spiritualität und in der Praxis weder ausschließlich noch überwiegend Zeit eingeräumt wird.
Hierzu bekräftigt das Konzil: „Darum müssen die Mitglieder aller Institute, da sie zuerst und einzig Gott suchen, die Kontemplation, durch die sie ihm im Geist und im Herzen anhangen, mit apostolischer Liebe verbinden“ (Perfectae caritatis, Nr. 5). So betont das Konzil, dass die Betrachtung nicht nur in den Instituten des rein kontemplativen Lebens, sondern in allen Instituten, auch in denen, die sich sehr anspruchsvollen apostolischen Werken widmen, notwendig ist. Der Gebetseifer ist für jedes gottgeweihte Leben wesentlich.
2. Das entnehmen wir dem Evangelium, auf das sich das Konzil selbst bezieht. Eine Begebenheit des Evangeliums wird besonders herausgestellt (vgl. Perfectae caritatis, Nr. 5): Es ist die von Maria von Betanien, die „sich dem Herrn zu Füßen setzte und seinen Worten zuhörte“. Auf die Worte von Marta, die wollte, dass ihre Schwester ihr beim Dienst helfe und deshalb Jesus bat, sie zur Arbeit zu drängen, antwortete der Meister: „Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden“ (Lk 10,38–42). Der Sinn dieser Antwort ist einleuchtend: Der „bessere Teil“ besteht darin, dass man Christus zuhört und bei ihm bleibt, um sich ihm im Geist und im Herzen anzuschließen. Deshalb hat die Betrachtung nach der vom Evangelium inspirierten christlichen Tradition unbestreitbaren Vorrang im gottgeweihten Leben. Der Meister gibt Marta in seiner Antwort außerdem zu verstehen, dass die Verbindung mit seiner Person, seinem Wort und der Wahrheit, die er von Seiten Gottes offenbart und schenkt, das „einzige wirklich Notwendige“ ist. Das heißt, dass Gott – und selbst sein menschgewordener Sohn – vor dem Arbeitsaufwand die Zuwendung des Herzens wünscht und dass der Sinn der von Jesus in die Welt gebrachten Religion ist, den Vater „im Geist und in der Wahrheit“ anzubeten (Joh 4,24), wie er nach der Weisung, die der Samariterin gegeben wurde, angebetet werden will.
3. In diesem Vorrang der Zuwendung des Herzens ist nach der Lehre des Konzils auch die gebotene Antwort auf die Liebe Gottes zu sehen, der uns zuvor geliebt hat (vgl. Perfectae caritatis, Nr. 6). Die vom Vater vorzugsweise gesuchten Gottgeweihten sind ihrerseits berufen, „Gott zu suchen“, ihr Sehnen auf den Vater zu richten, mit ihm in Gebetskontakt zu stehen und ihm ihr Herz in brennender Liebe zu schenken.
Diese Vertrautheit mit Gott wird von ihnen im Leben mit Christus und in Christus verwirklicht. Das Konzil sagt: Sie müssen „sich in allen Lebensumständen bemühen, ein mit Christus verborgenes Leben (vgl. Kol 3,3) zu führen“ (Perfectae caritatis, Nr. 6). Es ist das verborgene Leben, dessen Grundgesetz der hl. Paulus darlegt: Den Sinn „auf das Himmlische und nicht auf das Irdische“ richten (Kol 3,2). Dieser verborgene Aspekt der innigen Vereinigung mit Christus wird sich in seiner ganzen tiefen Wahrheit und Schönheit offenbaren, wenn wir im Jenseits sein werden.
4. Auf der Basis dieser wesentlichen Grundlage des gottgeweihten Lebens empfiehlt das Konzil: „Darum müssen die Mitglieder der Institute den Geist des Gebetes und das Gebet selbst... mit beharrlichem Eifer pflegen“ (Perfectae caritatis, Nr. 6).
Hier genügt es uns zu sagen, dass der „Geist des Gebetes“ identisch ist mit der Haltung der Seele, die nach der göttlichen Vertrautheit dürstet und sich bemüht, in dieser Vertrautheit mit voller Selbsthingabe zu leben. Diese Haltung kommt im konkreten Gebet zum Ausdruck, dem man alle Tage seines Lebens eine gewisse Zeit widmet. Auch darin ahmt man Jesus nach, der sogar in der intensivsten Periode seines Dienstes dem ausschließlichen Dialog mit dem Vater im einsamen Gebet genügend Zeit widmete (vgl. Mk 1,35; Lk 5,16; 6,17).
5. Bekanntlich unterscheidet man in der christlichen Tradition gewöhnlich mehrere Gebetsformen, insbesondere das „Gemeinschaftsgebet“ und das „Einzelgebet“. Beide Formen sind nützlich und allgemein vorgeschrieben. Man sollte vielmehr immer vermeiden, dass das Gemeinschaftsgebet vom Einzelgebet abhält oder dass dieses so sehr überwiegt, dass das gemeinsame Gebet ausgegrenzt oder abgewertet wird. Ein echter, nach dem Evangelium geformter Gebetsgeist regelt beide Formen in einem für die Seele wohltuenden Maß, das die Gründer und Gesetzgeber der Ordensinstitute in Übereinstimmung mit der kirchlichen Obrigkeit festlegen. Dasselbe kann man über den Unterschied zwischen dem gesprochenen Gebet und dem stillen Gebet oder der „Oration“ sagen. In Wirklichkeit muss jedes Gebet ein Gebet des Herzens sein.
Jesus empfiehlt das einfache und aufrichtige Gebet: „Bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist“ (Mt 6,6), und er weist darauf hin, dass nicht die Vielzahl der Worte für die Erhörung garantiert (Mt 6,7). Aber es ist ebenso wahr, dass das innere Gebet aufgrund der Natur des Menschen selbst danach strebt, sich in Worten, in Gesten und insgesamt in Akten des sogenannten äußeren Kultes auszudrücken und auszubreiten, dessen Seele immer das Gebet des Herzens ist.
6. Das Konzil weist außerdem auf die „echten Quellen der christlichen Frömmigkeit“ und des Gebets hin (Perfectae caritatis, Nr. 6): Diese sind die Heilige Schrift, deren Lesung und Betrachtung das Konzil empfiehlt, damit die Gottgeweihten tiefer in das Geheimnis Christi eindringen können, sowie die Liturgie, vor allem die Eucharistiefeier mit dem Reichtum ihrer Lesungen, der sakramentalen Teilhabe am Erlösungsopfer des Kreuzes und dem lebendigen Kontakt mit Christus, Speise und Trank in der Kommunion. Einige Institute regen auch die eucharistische Anbetung an, die geeignet ist, die Betrachtung und die Verbundenheit mit der Person Christi zu fördern und die Anziehungskraft zu bezeugen, die seine Gegenwart auf die Menschheit ausübt (vgl. Joh 12,32). Sie sind unbedingt gutzuheißen und zur Nachahmung zu empfehlen.
7. Man weiß, dass es heute wie auch in der Vergangenheit „gänzlich auf die Kontemplation hingeordnete Institute“ gibt (Perfectae caritatis, Nr. 7). Sie haben ihren Platz im Leben der Kirche – mag die heute in der Welt spürbare „Notwendigkeit zum tätigen Apostolat“ noch so sehr drängen. Es ist die konkrete Anerkennung des Wortes Christi vom „einzig Notwendigen“.
Die Kirche braucht dieses Gebet der Kontemplativen, um in ihrer Vereinigung mit Christus zu wachsen und die notwendigen Gnaden für ihre Entwicklung in der Welt zu erlangen. Die Kontemplativen, die Mönche und Nonnen, die Klausurklöster sind also auch Zeugen der Priorität, die die Kirche dem Gebet einräumt, und der Treue, die der Antwort gegenüber bewahrt wird, die Jesus Marta über den von Maria gewählten „besseren Teil“ gegeben hat.
8. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass die Antwort auf die kontemplative Berufung große Opfer mit sich bringt, insbesondere das des Verzichtes auf eine unmittelbare apostolische Tätigkeit, die vor allem heute der Mehrheit der christlichen Männer und Frauen wesenseigen zu sein scheint.
Die Kontemplativen widmen sich dem Dienst des Ewigen und „bringen Gott ein erhabenes Lobopfer dar“ (Perfectae caritatis, Nr. 7) in einem so hohen Stand persönlicher Hingabe, dass er eine besondere Berufung erfordert, die vor der Zulassung oder der Ablegung der ewigen Gelübde geprüft werden muss.
Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass auch die kontemplativen Institute in der Kirche eine apostolische Funktion haben. Denn das Gebet ist ein Dienst an der Kirche und an den Seelen. Es bringt „reiche Früchte der Heiligkeit“ hervor und erzeugt im Volk Gottes „eine geheimnisvolle apostolische Fruchtbarkeit“ (Perfectae caritatis, Nr. 7). Tatsächlich weiß man, dass die Kontemplativen für die Kirche beten und leben und zu ihrer Unterstützung und ihrem Fortschritt himmlische Gnaden und Hilfen erlangen, die weit höher sind als die, die durch Aktionen verwirklicht werden. In dieser Beziehung ist es gut, die heutige Katechese mit dem Hinweis auf die hl. Theresia vom Kinde Jesu zu beenden, die durch ihr Gebet und ihr Opfer der Evangelisierung ebenso, ja noch mehr diente, als wenn sie sich ganz der Missionstätigkeit gewidmet hätte. Deshalb wurde sie auch zur Patronin der Missionen erklärt. Damit wird die wesentliche Bedeutung der Institute des kontemplativen Lebens deutlich und die Notwendigkeit hervorgehoben, dass alle Institute des gottgeweihten Lebens, auch die, die sich dem intensivsten und vielfältigsten Apostolat widmen, daran denken, dass auch die heiligste und wohltuendste Tätigkeit zugunsten des Nächsten nie vom Gebet als der Hingabe des Herzens, des Geistes und des ganzen Lebens an Gott entbindet.
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Liebe Schwestern und Brüder!
In der christlichen Tradition wurde der Betrachtung als tiefstem Ausdruck des geistlichen Lebens und als Höhepunkt des Gebets immer ein besonderer Platz eingeräumt. Der Akt der Betrachtung verleiht dem Ordensleben die Fülle seiner Bedeutung als Folge der besonderen Weihe, die sich aus den evangelischen Räten ergibt. Kraft dieser Weihe muss das Ordensleben ein Leben des Gebetes und folglich der Betrachtung sein. Das Gebetsleben ist wesentlich für jedes gottgeweihte Leben. Dabei unterscheidet die Tradition verschiedene Gebetsformen, besonders das Gebet in Gemeinschaft und das stille, persönliche Gebet. Immer ist darauf zu achten, dass beide Gebetsformen in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen.
Das Konzil fügt weiter die „echten Quellen der christlichen Frömmigkeit“ und des Gebetes hinzu (Perfectae caritatis, Nr. 6), nämlich die Heilige Schrift und die heilige Liturgie, zumal die Eucharistiefeier. Manche Institute fördern auch die Praxis der eucharistischen Anbetung.
Wie in der Vergangenheit gibt es ebenso heute „gänzlich auf die Kontemplation hingeordnete Institute“ (Perfectae caritatis, Nr. 7). Auch sie haben in der Kirche eine apostolische Funktion.
Beschließen möchte ich die heutige Katechese, indem ich an die hl. Theresia vom Kinde Jesu erinnere, die mit ihrem Gebet und ihrem Opfer der Evangelisierung gedient hat. Sie wurde sogar zur Patronin der Mission ernannt.
Mit diesen Überlegungen grüe ich Euch, die deutschsprachigen Pilger und Besucher, sehr herzlich und wünsche Euch allen noch ein gesegnetes und friedvolles Neues Jahr. Euch, Euren lieben Angehörigen zu Hause sowie den mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbundenen Gläubigen erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.
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