JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 1. März 1995
1. „Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,20).
Heute, am Aschermittwoch, beginnt die Fastenzeit: eine Zeit des Gebets und der Buße, die uns vierzig Tage lang bis zur Feier des Ostertriduums begleiten wird. Liebe Brüder und Schwestern, wir treten in einen für diesen Bußtag bezeichnenden Zeitraum des Betens, des Besinnens und des Fastens ein, wie die heutige Liturgie uns einlädt, es zu tun.
„Lasst euch mit Gott versöhnen!“ Der dringendste Aufruf, der heute unterschiedslos an alle Gläubigen gerichtet wird, ist gerade die Einladung zur Umkehr und zur Versöhnung. Die beiden liturgischen Texte, die den Ritus der Aschenauflegung begleiten, bringen gerade diesen Inhalt, wenn auch in verschiedenen Worten, zum Ausdruck. Die erste liturgische Formel lautet: „Gedenke, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren musst!“ Dieser Satz bezieht sich auf den Bericht über die erste Sünde der Menschheit, die Ursünde (vgl. Gen 3,19). Der Mensch wird auf diese Weise eingeladen, die eigene Wirklichkeit als sterbliches Geschöpf und den eigenen Zustand als Sünder zu erkennen, um sich der Barmherzigkeit Gottes anzuvertrauen und durch die göttliche Vergebung den Stand der Gnade, das heißt die Gemeinschaft mit dem Leben Gottes selbst, wiederzuerlangen oder zu verstärken. Die zweite liturgische Formel des Aschermittwochsritus nimmt Bezug auf die Anfänge der Predigt Jesu: „Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (vgl. Mk 1,15). Es handelt sich um eine dringende Aufforderung zur Buße im Geist des Evangeliums, das heißt, die falschen Sicherheiten der Welt hinter sich zu lassen, auf egoistische Entscheidungen zu verzichten und sich von der Herrschaft des Bösen und einer unausgewogenen Selbstliebe zu befreien, um die Frohe Botschaft, das Heil, anzunehmen, das Gott jedem Menschen in Jesus Christus anbietet.
2. Die Haltung der Buße und Umkehr soll sich in konkreten Gesten der geistlichen Erneuerung und Liebe zu den Brüdern und Schwestern ausdrücken. Das unterstreicht ein bedeutendes Dokument des II. Vatikanischen Konzils: „Die Buße der vierzigtägigen Fastenzeit sei nicht bloß eine innere und individuelle Übung, sondern auch eine äußere und soziale. Die Bußpraxis soll je nach den Möglichkeiten unserer Zeit und der verschiedenen Gebiete wie auch nach den Verhältnissen der Gläubigen gepflegt und … empfohlen werden“ (Sacrosanctum Concilium, Nr. 110). Kennzeichen der Buße am Aschermittwoch ist die überlieferte Übung der Enthaltsamkeit und des Fastens. Sich der Speise zu enthalten oder jedenfalls sich eine verstärkte, einschränkende Disziplin aufzuerlegen, entspricht verschiedenen Bedürfnissen des menschlichen Lebens und erhält folglich eine Bedeutung, die sowohl das körperliche Leben als auch die geistliche Erfahrung des Menschen berührt. Zunächst dient es dem Schutz der körperlichen Gesundheit: Eine gesunde Ernährung sieht tatsächlich den periodischen Verzicht auf gewisse Nahrungsmittel und auch angemessene Unterbrechungen zwischen einer Mahlzeit und der anderen vor. Das hilft außerdem, die notwendige Selbstbeherrschung gegenüber dem Trieb zur Nahrungsaufnahme wiederherzustellen. Nicht zu unterschätzen ist dann die Gelegenheit, die eine solche Disziplin bietet, um Solidarität gegenüber den Notleidenden zu üben. Enthaltsamkeit und Fasten erinnern schließlich an die Grenzen jeder natürlichen Speise und weisen auf die Notwendigkeit der Suche nach einer geistlichen Nahrung hin, gemäß den Schriftworten: „Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“ (vgl. Mt 4,4).
3. Das äußere Fasten soll deshalb Hand in Hand gehen mit dem Hören des Wortes Gottes und dem Einsatz des Gebets. In der Liturgie von heute wird immer wieder die Einladung des Herrn wiederholt: „Kehrt um zu mir von ganzem Herzen“ (Joel 2,12; vgl. Erste Lesung). Diese Einladung erklingt während der ganzen Fastenzeit. Da werden die Gläubigen aufgefordert, zu meditieren und im Gebet zu verweilen, damit sie dem Wort Gottes Raum geben in ihrem Leben, das oftmals in so hektischer Weise geführt und mit begrenzten oder flüchtigen Wirklichkeiten erfüllt wird. Es ist notwendig, die Aufmerksamkeit immer mehr auf die Heilige Schrift zu lenken, auch bei den vielen Gelegenheiten, die die Fastenzeit durch die Teilnahme an der Sonntags- und Wochentagsliturgie sowie bei Gemeinschaftstreffen oder bei der persönlichen Meditation bietet.
Wenn das Gebet zu jeder Zeit des Jahres den Kern des christlichen Lebens und den natürlichen Ausdruck des Glaubenslebens bildet, dann gilt das umso mehr während der Fastenzeit. Das Gebet muss in dieser Zeit einen besonderen Bußakzent erhalten.
Das soll besonders zum Ausdruck kommen in der Bitte um die göttliche Vergebung für die persönlichen und gemeinschaftlichen Sünden, die weiterbestehenden Situationen der Ungerechtigkeit und Gewalt in der Welt und die Konflikte und Kriege, die heute noch ganze Völker bedrohen. Das Gebet in der Fastenzeit ist die stärkste Kraft, das Böse zu besiegen, das im Herzen der Menschen nistet; denn es gründet auf der Heilsmacht Gottes selbst, die den Menschen im Kreuz Christi offenbart und mitgeteilt wurde.
4. Kennzeichen des Aschermittwochs und der Fastenzeit ist schließlich das Üben von Werken der Nächstenliebe. In der Botschaft, die ich in diesem Jahr zur Fastenzeit übersandte, wies ich auf die Geißel des Analphabetismus als vordringliches Gebiet für die Übung der Werke der Nächstenliebe hin.
Es handelt sich um einen besonders dringlichen Aufgabenbereich in unserer Zeit: Denn dort zeigen sich weiterhin neben der materiellen Armut die kulturelle Armut, die den Menschen zur Unkenntnis seiner Rechte und seiner Pflichten verdammt (vgl. Nr. 1).
Die diesjährige Fastenzeit ist diesmal von ganz besonderer Natur und stellt den Gläubigen das Ziel, diese vierzig Tage besonders eindringlich zu leben.
Denn sie gehört zur ersten Phase der Vorbereitung auf das große Jubiläum 2000. Die Gebets- und Bußzeit, die uns zum nächsten Ostern führt, ist Teil des mehrjährigen Vorbereitungsweges zur einzigartigen Begegnung mit der barmherzigen Liebe Gottes, die uns zu Beginn des dritten christlichen Jahrtausends erwartet. Maria, die ihrem Sohn als treue Jüngerin bis unter das Kreuz folgte, begleite und stütze uns durch ihre mütterliche Fürsprache auf unserem Bußweg im Verein mit den Gläubigen der ganzen, über die gesamte Erde verstreuten, kirchlichen Gemeinschaft.
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Mit diesen Gedanken grüe ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher sehr herzlich. Mit meinem Gebet für Euch alle erteile ich Euch sowie Euren lieben Angehörigen zu Hause von Herzen meinen Apostolischen Segen.
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