JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 26. April 1995
1. Die universale Sendung der Kirche wird in der Zeit entfaltet und im Laufe der Menschheitsgeschichte vollendet. Mit dem Kommen Christi endete die Zeit der Vorbereitung (vgl. Gal 3,23; Hebr 1,1) und der Erwartung (vgl. Röm 3,26; Apg 17,30); „die Zeit war erfüllt“, als der Sohn Gottes zum Heil des Menschen Mensch wurde (vgl. Gal 4,4). Von jenem Augenblick an begann eine neue Zeit, die wir nicht bemessen können, weil sie bis zum Ende der Geschichte reicht.
Die Evangelisierung der Welt war deshalb auch dem Gesetz der Aufeinanderfolge der Jahrhunderte und menschlichen Generationen unterworfen. Sie betrifft jeden Menschen, jede Zeit und jede Kultur. Die Verkündigung des Evangeliums muss sich deshalb immer wieder erneuern: Sie muss sich ständig vervollkommnen und vertiefen, auch in den Ländern und Kulturen, die schon in der Antike evangelisiert wurden. Letzten Endes muss sie jeden Tag neu beginnen, bis zur Ankunft des „Letzten Tages“ (Joh 12,48).
2. Die Evangelisierung ist aus der Perspektive zu betrachten, die Christus ihr gegeben hat: Sie wird sich erst am Ende der Welt vollenden: „Dieses Evangelium vom Reich wird auf der ganzen Welt verkündet werden, damit alle Völker es hören; dann erst kommt das Ende“ (Mt 24,14).
Uns ist es nicht gegeben, „Zeiten und Fristen zu erfahren“ (Apg 1,7), die nach dem göttlichen Plan für die Vollendung des Evangelisierungswerkes, die Voraussetzung für die Ankunft des Reiches Gottes, festgesetzt sind. Wir können auch nicht wissen, welchen Grad der Vertiefung das missionarische Werk erreichen muss, damit „das Ende kommt“. Wir wissen nur, dass die Evangelisierung in der Geschichte fortschreitet, der sie nach ihrer Vollendung endgültigen Sinn verleihen wird. Bis zu diesem Augenblick gibt es ein Geheimnis der Evangelisierung, das das Geheimnis der Geschichte selbst durchdringt.
3. Man muss feststellen, dass wir von einer vollkommenen Evangelisierung „aller Völker“ (Mt 24,14; 28,19) noch weit entfernt sind und dass die große Mehrheit der Menschen weder dem Evangelium noch der Kirche angehört. Und deshalb, schrieb ich in der Enzyklika Redemptoris missio, „steht die Missionstätigkeit erst in den Anfängen“ (Nr. 30). Diese geschichtliche Folgerung steht nicht im Gegensatz zum universalen Heilswillen des himmlischen Vaters, der durch das Licht Christi jedem Menschenherzen das Geschenk der Erlösung durch die Kraft des Heiligen Geistes zukommen lassen will. Dieses Geheimnis der Gegenwart und Heilstat ist zweifellos grundlegend für den kirchlichen Evangelisierungseinsatz. In dieser Sichtweise ist der Auftrag zu verstehen, den Jesus den Aposteln und damit der Kirche gegeben hat: „hinauszugehen“, zu „taufen“, zu „lehren“ und „das Evangelium allen Geschöpfen zu verkünden“ (Mk 16,15), „allen Völkern“ (Mt 28,19; Lk 24,47), „bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).
Am Ende des Markusevangeliums lesen wir: Die Apostel „zogen aus und predigten überall. Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte die Verkündigung durch die Zeichen, die er geschehen ließ“ (Mk 16,20). Man könnte sagen, dass die ihnen von Christus anvertraute Sendung gleichsam einen Drang zur Erfüllung des Auftrags, alle Völker zu evangelisieren, hervorgerufen hat. Die ersten Christen waren von diesem Geist durchdrungen und empfanden sehr stark das Bedürfnis, die Frohbotschaft in allen Teilen der Erde zu verkünden.
Zweitausend Jahre danach gelten für die Kirche dieselbe Aufgabe und dieselbe Verpflichtung. In der Tat wird von den Christen auch heute noch verlangt, sich je nach Lebensstand dem wichtigen Werk der Evangelisierung zu widmen.
4. In einer früheren Katechese erinnerte ich an die Frage, die die Jünger an Christus im Augenblick der Himmelfahrt richteten: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?“ (Apg 1,6). Sie hatten noch nicht verstanden, welches Reich zu errichten Christus gekommen war. Das Reich Gottes, das sich auf die ganze Welt und auf alle Generationen erstreckt, ist die geistliche Umwandlung der Menschheit durch einen Prozess der Umkehr, dessen Zeitablauf nur der himmlische Vater kennt. Denn den Jüngern, die noch unfähig sind, das Werk Christi zu erfassen, antwortet der Auferstandene: „Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat“ (Apg 1,7).
Der Vater hat also eine Abfolge von Zeiten und Fristen zur Erfüllung seines Heilsplans vorgesehen. Ihm stehen diese „kairoi“, diese Gnadenmomente, zu, die die Abschnitte der Verwirklichung seines Reiches deutlich machen. Obwohl er der Allmächtige ist, hat er beschlossen, in der Geschichte geduldig im Rhythmus der persönlichen und kollektiven menschlichen Entwicklung zu handeln, unter Berücksichtigung der Möglichkeiten, der Widerstände, der Fähigkeit und Bereitschaft sowie der Freiheit des Menschen.
Diese göttliche Pädagogik muss das Vorbild sein, an dem sich jede Missionstätigkeit der Kirche inspiriert. Die Evangelisatoren müssen die manchmal lange, ja sogar unendlich lange Zeit geduldig annehmen in dem Bewusstsein, dass Gott, dem „die Zeiten und Fristen“ gehören, den Ablauf der Geschichte unermüdlich und mit höchster Weisheit lenkt.
5. Die Wartezeiten können, wie ich schon betonte, lang sein, bevor der günstige Augenblick kommt. Die Kirche, die unter Widerständen, Gefühllosigkeit und Trägheit leidet, die vom „Herrscher dieser Welt“ (Joh 12,31) listig angestiftet werden, weiß, dass sie mit Geduld vorgehen muss, und unter tiefer Achtung aller ethnischen, kulturellen, psychologischen und soziologischen Gegebenheiten. Sie darf jedoch nie den Mut verlieren, wenn ihre Bemühungen nicht immer sofort von Erfolg gekrönt sind; sie darf vor allem nie von der ihr aufgetragenen Grundaufgabe abweichen: allen Völkern die Frohbotschaft zu verkünden.
Um die von Gott festgesetzten „Zeiten und Fristen“ erwarten zu können, bedarf es einer Wachsamkeit, damit man im Wechsel der geschichtlichen Bedingungen die Chancen und Möglichkeiten der Verkündigung des Evangeliums erkennt. „Diese Bedingungen hängen entweder von der Kirche oder von den Völkern, den Gemeinschaften und den Menschen ab, an die sich die Sendung richtet“, sagt das Konzil und empfiehlt: „Obgleich nämlich die Kirche von sich aus die Gesamtheit oder die Fülle der Heilsmittel umgreift, wirkt sie doch nicht immer und nicht sogleich im vollen Umfang und kann dies auch nicht“ (Ad gentes, Nr. 6). „Vielmehr kennt sie Anfänge und Stufen in ihrer Tätigkeit, mit der sie den Plan Gottes zu verwirklichen sucht.
Ja, bisweilen ist sie genötigt, nach glücklich begonnenem Voranschreiten abermals einen Rückschritt zu beklagen, oder sie verbleibt doch wenigstens in einem gewissen Zustand der Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit“ (ebd.). Auch das gehört zum Geheimnis des Kreuzes, das die Geschichte durchzieht.
6. Es ist bekannt, dass im Laufe der Jahrhunderte ganze christliche Gemeinden aus unterschiedlichen Gründen untergegangen sind. Es ist dies die schmerzvolle Beredsamkeit der Geschichte, die vor den Möglichkeiten des Scheiterns menschlichen Handelns warnt. Davor bleibt auch die Tätigkeit der Verkündigung nicht bewahrt. Die Geschichte bestätigt andererseits aber auch, dass – Gott sei Dank – die Rückschritte, begrenzt auf einige Orte oder einige Zeiten, die allgemeine Entwicklung der Evangelisierung nicht behindern, die – nach den Worten Christi – sich nach und nach auf die gesamte Menschheit ausbreiten wird (vgl. Mt 24,14). Die Kirche führt in der Tat die Sendung der Evangelisierung auch bei Wechselfällen mit demselben Elan der ersten Jahrhunderte fort, und das Reich Gottes entwickelt sich und breitet sich weiter aus.
7. Auch heute ist sie sich der Schwierigkeiten bewusst, die auf ihrem langen Weg durch die Geschichte auftreten. Dennoch glaubt sie lebhaft an die Macht des Heiligen Geistes, der die Herzen dem Evangelium öffnet und der sie in ihrer Mission leitet. Denn er ist es, der jeden Menschen, jede Kultur und jedes Volk unter Achtung ihrer Freiheit und Lebensrhythmen zu Christus hinzieht und alle sanft zur Wahrheit führt. Trotzdem ist das, was menschlichen Augen als ein langsamer und holpriger Entwicklungsprozess vorkommen mag, in Wirklichkeit die Handlungsweise Gottes. Diese Gewissheit stützt und stärkt in den Jüngern Christi – angefangen von den Hirten und Missionaren – die Hoffnung, dass ihre Arbeit weder umsonst noch vergeblich ist. Diese Hoffnung gründet in der eschatologischen Sichtweise, die den Grund der Evangelisierungstätigkeit der Kirche, der Pilgerin auf Erden bis zum Ende der Zeiten, bildet.
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Mit dieser kurzen Betrachtung heie ich Euch, liebe Schwestern und Brüder aus den deutschsprachigen Ländern, sehr herzlich willkommen. Mein besonderer Gru gilt den zahlreichen Jugend und Schülergruppen, vor allem den Firmlingen der PfarreiSt. Michael in Wädenswil sowie den Schülerinnen der Liebfrauenschule der Dominikanerinnen in Dieen. Mit meinen besten Wünschen für Euch und Eure Lieben zu Hause erteile ich Euch allen von Herzen meinen Apostolischen Segen.
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In diesen Tagen der Osterfreude erreichen uns aus dem geliebten afrikanischen Kontinent immer häufiger besorgniserregende, dramatische Nachrichten. Ein neues, schreckliches Blutbad hat in Ruanda viele unschuldige Opfer unter der schon vom Völkermord und Krieg heimgesuchten Bevölkerung gefordert. Ich bitte die Verantwortlichen, einzuhalten vor dem Blut der Unschuldigen, das zu Gott schreit. Ebenso wenig darf ich eine schwere Verletzung der Religionsfreiheit verschweigen, die mit der jüngsten Ausweisung eines Missionars aus dem Sudan verbunden ist. Es kam die Nachricht, dass für drei weitere Missionare dieselbe Anordnung getroffen und dann aufgehoben worden war. Diese Maßnahmen schaffen ein Klima der Spannung, das das Zusammenleben stört und den interreligiösen Dialog nicht fördert. In so vielen afrikanischen Ländern setzt sich die Waffengewalt weiterhin durch und verlängert jahrelange Auseinandersetzungen, die furchtbare Fluchtbewegungen hervorrufen und Zerstörung und Tod säen. Deshalb lade ich euch ein, euch meiner Bitte an den auferstandenen Herrn anzuschließen, dass er die Sinne und Herzen aller Verantwortlichen erleuchte. Die Achtung der Grundrechte der Person und der gemeinsame Einsatz auf dem Weg der Versöhnung sind für diese Völker unerlässliche Voraussetzungen für eine Zukunft der Hoffnung und des Friedens.
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