HIRTENBRIEF
DES HEILIGEN VATERS
BENEDIKT XVI.
AN DIE KATHOLIKEN IN IRLAND
1. Liebe Brüder und Schwestern der Kirche in Irland, mit großer Sorge schreibe ich Euch als Hirt der universalen Kirche. Ebenso wie Euch hat auch mich die ans Licht gekommene Information über den Mißbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen durch Vertreter der Kirche Irlands, besonders durch Priester und Ordensleute, sehr getroffen. Ich kann nur die Bestürzung und das Gefühl des Vertrauensbruchs teilen, die so viele von Euch verspürten, als sie von diesen sündhaften und kriminellen Taten erfahren haben und davon, wie die kirchlichen Autoritäten in Irland damit umgegangen sind.
Wie Ihr wißt, habe ich kürzlich die irischen Bischöfe zu einem Treffen hier nach Rom eingeladen. Sie sollten über ihren Umgang mit diesen Fällen in der Vergangenheit berichten und die Schritte aufzeigen, die sie unternommen haben, um auf diese ernste Situation zu reagieren. Zusammen mit hochrangigen Vertretern der Römischen Kurie habe ich dem Gehör geschenkt, was sie sowohl einzeln als auch als Gruppe zu sagen hatten, als sie eine Analyse der begangenen Fehler und der sich daraus ergebenen Konsequenzen sowie eine Beschreibung der Programme und jetzt geltenden Richtlinien darboten. Unsere Beratungen waren offen und konstruktiv. Ich bin zuversichtlich, daß die Bischöfe auf der Grundlage dieser Gespräche nun besser in der Lage sind, sich der Aufgabe zu widmen, das in der Vergangenheit begangene Unrecht wieder gutzumachen und die mit dem Mißbrauch an Minderjährigen zusammenhängenden umfangreicheren Themen in einer Weise anzugehen, die den Anforderungen der Gerechtigkeit und der Lehre des Evangeliums entspricht.
2. Meinerseits habe ich angesichts der Schwere der Vergehen und der oftmals unangemessenen Reaktionen der kirchlichen Autoritäten in Eurem Land entschieden, diesen Hirtenbrief zu schreiben, um meine Nähe zu Euch zum Ausdruck zu bringen und einen Weg der Heilung, der Erneuerung und der Wiedergutmachung vorzuschlagen.
Wie viele in Eurem Land betont haben, ist es wahr, daß das Problem des Mißbrauchs von Kindern weder ein rein irisches noch ein rein kirchliches ist. Dennoch ist es nun Eure Aufgabe, das Problem des Mißbrauchs aufzuarbeiten, der in der katholischen Gemeinschaft von Irland geschehen ist, und dies mit Mut und Entschlossenheit zu tun. Niemand erwartet, daß sich diese schmerzhafte Situation schnell lösen läßt. Es sind positive Schritte getan worden, aber es bleibt noch viel zu tun. Durchhaltevermögen und Gebet sind nötig, mit großem Vertrauen in die heilende Kraft der Gnade Gottes.
Zugleich muß ich aber auch meine Überzeugung zum Ausdruck bringen, daß die Kirche in Irland, um von dieser tiefen Wunde zu genesen, die schwere Sünde gegen schutzlose Kinder vor Gott und vor anderen offen zugeben muß. Ein solches Eingeständnis, das von aufrichtiger Reue über die Verletzung dieser Opfer und ihrer Familien begleitet ist, muß zu einer gemeinsamen Anstrengung führen, um in Zukunft den Schutz von Kindern vor ähnlichen Verbrechen zu gewährleisten.
Da Ihr nun die Herausforderungen dieses Augenblicks auf Euch nehmt, bitte ich Euch: »Blickt auf den Felsen, aus dem ihr gehauen seid« (Jes 51,1). Bedenkt den großherzigen und oft heroischen Beitrag, den vergangene Generationen irischer Männer und Frauen für die Kirche und die ganze Menschheit geleistet haben. Laßt Euch das Ansporn sein für eine ehrliche Gewissenserforschung und ein engagiertes Programm kirchlicher und persönlicher Erneuerung. Ich bete dafür, daß die Kirche in Irland, durch den Beistand ihrer vielen Heiligen und gereinigt durch Buße, die derzeitige Krise überwindet und erneut zum mitreißenden Zeugen für die Wahrheit und die Güte des allmächtigen Gottes wird, die sich in seinem Sohn Jesus Christus offenbart.
3. In Laufe der Geschichte haben die Katholiken Irlands in ihrer Heimat und auch in anderen Ländern immer eine starke Kraft für das Gute unter Beweis gestellt. Keltische Mönche wie der hl. Kolumban haben das Evangelium in Westeuropa verbreitet und das Fundament für die mittelalterliche Klosterkultur gelegt. Die Ideale der Heiligkeit, der Nächstenliebe und der auf das Jenseits ausgerichteten Weisheit, die aus dem christlichen Glauben hervorgegangen sind, fanden ihren Ausdruck im Bau von Kirchen und Klöstern und in der Errichtung von Schulen, Bibliotheken und Krankenhäusern, die alle dazu beitrugen, die geistige Identität Europas zu festigen. Diese irischen Missionare haben ihre Stärke aus dem festen Glauben, der starken Führung und dem aufrechten sittlichen Verhalten der Kirche in ihrem Mutterland gezogen.
Ab dem 16. Jahrhundert haben die Katholiken in Irland eine lange Zeit der Verfolgung erlitten, in der sie sich bemühten, die Flamme des Glaubens unter gefährlichen und schwierigen Umständen lebendig zu halten. Der hl. Oliver Plunkett, der Märtyrerbischof von Armagh, ist das berühmteste Beispiel einer ganzen Schar von mutigen Söhnen und Töchtern Irlands, die bereit waren, ihr Leben aus Treue zum Evangelium hinzugeben. Nach der katholischen Emanzipation war die Kirche frei, neu zu wachsen. Familien und zahllose Einzelpersonen, die den Glauben in Zeiten der Prüfung bewahrt hatten, wurden zum Auslöser für das große Wiederaufleben des irischen Katholizismus im 19. Jahrhundert. Die Kirche sorgte für die Bildung, besonders für die Armen, und leistete dadurch einen großen Beitrag für die irische Gesellschaft. Eine der Früchte, die die neuen katholischen Schulen hervorbrachten, war eine Zunahme von Berufungen: Generationen von Missionspriestern, -schwestern und -brüdern, haben ihre Heimat verlassen, um auf allen Kontinenten zu wirken, besonders in der englischsprachigen Welt. Bemerkenswert waren nicht nur ihre große Zahl, sondern auch die Stärke ihres Glaubens und die Standhaftigkeit ihres pastoralen Einsatzes. Viele Bistümer, besonders in Afrika, Amerika und Australien, haben von der Präsenz irischer Geistlicher und Ordensleute profitiert, die das Evangelium verkündeten und Pfarreien, Schulen, Universitäten, Kliniken und Krankenstationen gründeten, die sowohl den Katholiken als auch der gesamten Gesellschaft dienten, mit besonderem Augenmerk auf die Bedürfnisse der Armen.
In fast jeder Familie in Irland gab es jemanden – einen Sohn oder eine Tochter, einen Onkel oder eine Tante –, der sein Leben in den Dienst der Kirche gestellt hat. Irische Familien würdigen und schätzen zu Recht ihre Angehörigen, die ihr Leben Christus geweiht haben, die das Geschenk des Glaubens mit anderen teilen und aus diesem Glauben Taten folgen lassen, in liebendem Dienst an Gott und dem Nächsten.
4. In den vergangenen Jahrzehnten hatte die Kirche in Eurem Land jedoch aufgrund der raschen Umgestaltung und Säkularisierung der irischen Gesellschaft neue und ernste Herausforderungen für den Glauben zu meistern. Der schnelle soziale Wandel hat oft das traditionelle Festhalten der Menschen an der katholischen Lehre und ihren Werten beeinträchtigt. Viel zu häufig wurden das sakramentale Leben und die Frömmigkeitsübungen vernachlässigt, die den Glauben erhalten und sein Wachstum ermöglichen, wie etwa die regelmäßige Beichte, das tägliche Gebet und jährliche Exerzitien. Bezeichnend war während dieser Zeit auch die Tendenz vieler Priester und Ordensleute, Denk- und Urteilsweisen weltlicher Realitäten ohne ausreichenden Bezug zum Evangelium zu übernehmen. Das Programm der Erneuerung, das das Zweite Vatikanische Konzil vorgeschlagen hat, wurde zuweilen falsch gelesen; in der Tat war es angesichts des tiefen sich vollziehenden sozialen Wandels wirklich nicht einfach zu wissen, wie es umzusetzen war. Es gab insbesondere die wohlmeinende aber fehlgeleitete Tendenz, Strafverfahren für kanonisch irreguläre Umstände zu vermeiden. In diesem Gesamtkontext müssen wir das erschütternde Problem des sexuellen Mißbrauchs von Kindern zu verstehen versuchen, das nicht wenig zur Schwächung des Glaubens und dem Verlust des Respekts vor der Kirche und ihren Lehren beigetragen hat.
Nur durch sorgfältige Prüfung der vielen Faktoren, die zum Entstehen der augenblicklichen Krise geführt haben, kann eine klare Diagnose ihrer Gründe unternommen und können wirkungsvolle Gegenmaßnahmen gefunden werden. Zu den beitragenden Faktoren sind sicherlich zu zählen: unangemessene Verfahren zur Feststellung der Eignung von Kandidaten für das Priesteramt und das Ordensleben; nicht ausreichende menschliche, moralische, intellektuelle und geistliche Ausbildung in Seminaren und Noviziaten; eine gesellschaftliche Tendenz, den Klerus und andere Autoritäten zu begünstigen; sowie eine unangebrachte Sorge um den Ruf der Kirche und die Vermeidung von Skandalen, die zum Versagen in der Anwendung bestehender kanonischer Strafen und im Schutz der Würde jeder Person geführt hat. Es muß dringend gehandelt werden, um diese Faktoren anzugehen, die zu so tragischen Konsequenzen im Leben der Opfer und ihrer Familien geführt und das Licht des Evangeliums dermaßen verdunkelt haben, wie es nicht einmal in Jahrhunderten der Verfolgung geschehen ist.
5. Bereits mehrfach seit meiner Wahl auf den Stuhl Petri habe ich Opfer sexuellen Mißbrauchs getroffen, und ich bin bereit, das auch in Zukunft zu tun. Ich habe mit ihnen gesprochen, habe ihre Geschichte gehört, ihr Leiden wahrgenommen, und ich habe mit ihnen und für sie gebetet. Schon früher in meinem Pontifikat habe ich in meiner Sorge, diese Frage anzusprechen, die Bischöfe Irlands aufgefordert, »die Wahrheit über das ans Licht zu bringen, was in der Vergangenheit geschehen ist, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, damit sich derartiges nicht mehr wiederholt, zu gewährleisten, daß die Prinzipien der Gerechtigkeit vollkommen geachtet werden und, vor allem, den Opfern und all jenen Heilung zu bringen, die von diesen ungeheuerlichen Verbrechen betroffen sind« (Ansprache an die Bischöfe von Irland beim »Ad-limina«-Besuch, 28. Oktober 2006; O.R. dt., Nr. 45, 10.11.2006, S. 10).
Mit diesem Brief möchte ich Euch alle, das Volk Gottes in Irland, ermahnen, die Wunden am Leib Christi zu betrachten. Denkt aber auch an die manchmal schmerzhaften Heilmittel, die erforderlich sind, um diese Wunden zu versorgen und zu heilen, und ebenfalls an die notwendige Einheit, Liebe und gegenseitige Unterstützung in einem langwierigen Prozeß der Wiederherstellung und kirchlichen Erneuerung. Ich wende mich nun an Euch mit Worten, die von meinem Herzen kommen, und ich möchte zu jedem von Euch einzeln und zu Euch allen gemeinsam als Brüder und Schwestern im Herrn sprechen.
6. An die Opfer des Mißbrauchs und ihre Familien
Ihr habt schrecklich gelitten, und das tut mir aufrichtig leid. Ich weiß, daß nichts das von Euch Erlittene ungeschehen machen kann. Euer Vertrauen wurde mißbraucht und Eure Würde wurde verletzt. Viele von Euch mußten erfahren, daß Euch niemand zugehört hat, als Ihr den Mut gefunden habt, über das zu sprechen, was Euch zugestoßen ist. Diejenigen von Euch, die in Heimen und Internaten mißbraucht wurden, müssen gefühlt haben, daß es kein Entkommen aus Eurem Leid gab. Es ist verständlich, daß es schwer für Euch ist zu vergeben oder sich mit der Kirche zu versöhnen. Im Namen der Kirche drücke ich offen die Scham und die Reue aus, die wir alle empfinden. Zugleich bitte ich Euch, die Hoffnung nicht aufzugeben. In der Gemeinschaft der Kirche begegnen wir der Person Jesu Christi, der selbst ein Opfer von Ungerechtigkeit und Sünde war. Wie Ihr trägt er immer noch die Wunden seines eigenen ungerechten Leidens an sich. Er versteht die Tiefe Eures Leides und die fortdauernden Auswirkungen auf Euer Leben und Eure eigenen Beziehungen, einschließlich Eurer Beziehung zur Kirche. Ich weiß, daß es einigen von Euch schwer fällt, eine Kirche zu betreten, nach all dem, was geschehen ist. Aber Christi eigene Wunden, verwandelt durch sein erlösendes Leiden, sind der Weg, durch den die Macht des Bösen gebrochen wird und wir zu Leben und Hoffnung wiedergeboren werden. Ich glaube zutiefst, daß diese heilende Kraft der aufopfernden Liebe Befreiung und die Verheißung eines Neuanfangs bringt – sogar in den dunkelsten und hoffnungslosesten Situationen.
Ich spreche zu Euch als Hirte, der sich um das Wohl aller Kinder Gottes sorgt, und bitte Euch demütig zu bedenken, was ich gesagt habe. Ich bete, daß Ihr durch die Nähe zu Christus und durch die Teilnahme am Leben seiner Kirche – einer durch Buße geläuterten und in der Nächstenliebe erneuerten Kirche – die unermeßliche Liebe Christi für jeden von Euch wiederentdecken könnt. Ich bin zuversichtlich, daß Ihr auf diese Weise Versöhnung, tiefe innere Heilung und Frieden finden könnt.
7. An die Priester und Ordensleute, die Kinder mißbraucht haben.
Ihr habt das Vertrauen, das von unschuldigen jungen Menschen und ihren Familien in Euch gesetzt wurde, mißbraucht, und Ihr müßt Euch vor dem allmächtigen Gott und vor den zuständigen Gerichten dafür verantworten. Ihr habt die Achtung der Menschen Irlands verspielt und Schande und Unehre auf Eure Mitbrüder gebracht. Die Priester unter Euch haben die Heiligkeit des Weihesakraments verletzt, in dem Christus sich selbst in uns und unseren Handlungen vergegenwärtigt. Mit dem immensen Leid, das Ihr den Opfern angetan habt, wurde auch der Kirche und der öffentlichen Wahrnehmung des Priestertums und des Ordenslebens großer Schaden zugefügt.
Ich mahne Euch, Euer Gewissen zu erforschen, Verantwortung für die begangenen Sünden zu übernehmen und demütig Euer Bedauern auszudrücken. Ehrliche Reue öffnet die Tür zu Gottes Vergebung und die Gnade wahrhafter Besserung. Durch Gebet und Buße für die, denen Ihr Unrecht getan habt, sollt Ihr persönlich für Euer Handeln Sühne leisten. Christi erlösendes Opfer hat die Kraft, sogar die größte Sünde zu vergeben und sogar aus dem schlimmsten Übel Gutes erwachsen zu lassen. Zugleich ruft uns Gottes Gerechtigkeit dazu auf, Rechenschaft über unsere Taten abzulegen und nichts zu verheimlichen. Gebt offen zu, daß Ihr schuldig seid. Stellt Euch den Forderungen der Rechtsprechung, aber zweifelt nicht an der Barmherzigkeit Gottes.
8. An die Eltern
Ihr seid zutiefst entsetzt über die furchtbaren Dinge, die in einem Umfeld stattgefunden haben, das eigentlich das sicherste und sorgenfreieste von allem hätte sein sollen. In der heutigen Welt ist es nicht einfach, ein Zuhause zu schaffen und Kinder zu erziehen. Sie verdienen es, in Sicherheit aufzuwachsen sowie geliebt und geschätzt zu werden, indem man ihrer Eigenart und ihrer Bedeutung Rechnung trägt. Sie haben ein Recht darauf, in authentischen moralischen Werten erzogen zu werden, die zutiefst in der Würde der menschlichen Person gründen, wie auch darauf, in der Wahrheit unseres katholischen Glaubens inspiriert zu werden und Verhaltens- und Handelnsweisen zu erlernen, die zu einem gesunden Selbstwert und zu dauerhaftem Glück führen. Diese edle aber auch anspruchsvolle Aufgabe ist zuallererst Euch Eltern anvertraut. Ich bitte Euch dringend, Eure Verantwortung bei der Gewährleistung der bestmöglichen Fürsorge für die Kinder sowohl zu Hause als auch in der Gesellschaft im ganzen zu übernehmen, während die Kirche ihrerseits weiter die Maßnahmen umsetzt, die sie in den letzten Jahren ergriffen hat, um junge Menschen in Pfarreien und Schulen zu schützen. Während Ihr Eure grundlegende Verantwortung wahrnehmt, möchte ich Euch versichern, daß ich Euch nahe bin und Euch meine Unterstützung im Gebet anbiete.
9. An die Kinder und Jugendlichen Irlands
Euch möchte ich ein besonderes Wort der Ermutigung sagen. Eure Erfahrung von der Kirche unterscheidet sich von der Eurer Eltern und Großeltern. Die Welt hat sich seit der Zeit, als sie in Eurem Alter waren, sehr verändert. Dennoch sind alle Menschen jeder Generation dazu berufen, denselben Weg durchs Leben zu gehen, unter welchen Umständen auch immer. Wir sind alle erschüttert von den Sünden und dem Versagen von einigen Gliedern der Kirche, besonders jener, die eigens dazu ausgewählt wurden, junge Menschen anzuleiten und zu betreuen. Aber gerade in der Kirche findet Ihr Christus, der derselbe ist, gestern, heute und in Ewigkeit (vgl. Hebr 13,8). Er liebt Euch, und er hat sich am Kreuz für Euch hingegeben. Sucht eine persönliche Beziehung zu ihm in der Gemeinschaft der Kirche, denn er wird nie Euer Vertrauen mißbrauchen! Er allein kann Eure tiefsten Sehnsüchte erfüllen und Eurem Leben dadurch den vollen Sinn geben, daß er es zum Dienst am Nächsten lenkt. Haltet Eure Augen auf Jesus und seine Güte gerichtet und bewahrt die Flamme des Glaubens in Euren Herzen. Gemeinsam mit den übrigen Gläubigen in Irland baue ich darauf, daß Ihr treue Jünger unseres Herrn seid und den nötigen Enthusiasmus und Idealismus zum Neuaufbau und zur Erneuerung unserer geliebten Kirche einbringt.
10. An die Priester und Ordensleute in Irland
Wir alle leiden infolge der Sünden unserer Mitbrüder, die ein heiliges Vertrauen mißbraucht oder die versagt haben, gerecht und verantwortungsvoll mit den Mißbrauchsvorwürfen umzugehen. Hinsichtlich der Wut und Empörung, die all das nicht nur unter den gläubigen Laien, sondern auch unter Euch und in Euren Ordensgemeinschaften hervorgerufen hat, fühlen sich viele von Euch persönlich mutlos, sogar verlassen. Mir ist ebenfalls bewußt, daß Ihr in den Augen mancher durch die Nähe zu den Tätern einen Makel tragt und als irgendwie verantwortlich für die Verbrechen anderer angesehen werdet. In dieser schmerzlichen Zeit möchte ich Eure Hingabe an das Priestertum und das Apostolat würdigen und Euch einladen, Euren Glauben in Christus, Eure Liebe zu seiner Kirche und Euer Vertrauen in die Verheißung des Evangeliums auf Erlösung, Vergebung und innere Erneuerung zu festigen. Auf diese Weise werdet ihr aufzeigen, daß da, wo die Sünde zunahm, die Gnade übergroß geworden ist (vgl. Röm 5,20).
Ich weiß, daß viele von Euch enttäuscht, verwirrt und darüber verärgert sind, wie diese Dinge von einigen Eurer Oberen gehandhabt wurden. Dennoch ist es wesentlich, daß Ihr eng mit den Leitungsverantwortlichen zusammenarbeitet und mit zu gewährleisten sucht, daß die Maßnahmen zur Bewältigung der Krise wirklich dem Evangelium gemäß, gerecht und effektiv sind. Vor allem aber bitte ich Euch, immer mehr zu Männern und Frauen des Gebets zu werden, die mutig den Weg der Bekehrung, Reinigung und Versöhnung gehen. Auf diese Weise wird die Kirche in Irland aus Eurem Zeugnis für Gottes erlösende Kraft, die in Eurem Leben sichtbar wird, neues Leben und neue Dynamik schöpfen.
11. An meine Mitbrüder im Bischofsamt
Es kann nicht geleugnet werden, daß einige von Euch und von Euren Vorgängern bei der Anwendung der seit langem bestehenden Vorschriften des Kirchenrechts zu sexuellem Mißbrauch von Kindern bisweilen furchtbar versagt haben. Schwere Fehler sind bei der Aufarbeitung von Vorwürfen gemacht worden. Ich erkenne an, wie schwierig es war, die Komplexität und das Ausmaß des Problems zu erfassen, gesicherte Informationen zu erlangen und die richtigen Entscheidungen bei widersprüchlichen Expertenmeinungen zu treffen. Dennoch muß zugegeben werden, daß schwerwiegende Fehlurteile getroffen wurden und daß Versagen in der Leitung vorkamen. Dies alles hat Eure Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit untergraben. Ich erkenne Eure Bemühungen an, vergangene Fehler wieder gutzumachen und zu garantieren, daß sie sich nicht wiederholen. Ich rufe Euch auf, neben der vollständigen Umsetzung der Normen des Kirchenrechts im Umgang mit Fällen von Kindesmißbrauch weiter mit den staatlichen Behörden in ihrem Zuständigkeitsbereich zusammenzuarbeiten. Die Ordensoberen sollen natürlich ebenso handeln. Sie haben auch an den jüngsten Beratungen hier in Rom teilgenommen, die darauf abzielten, diese Angelegenheit klar und konsequent anzugehen. Es ist zwingend erforderlich, daß die Normen der Kirche in Irland zum Schutz von Kindern ständig überprüft und aktualisiert werden und daß sie vollständig und unparteiisch in Übereinstimmung mit dem Kirchenrecht angewandt werden.
Nur entschiedenes Vorgehen, das in vollkommener Ehrlichkeit und Transparenz erfolgt, werden den Respekt und das Wohlwollen des irischen Volks gegenüber der Kirche, der wir unser Leben geweiht haben, wiederherstellen. Das muß zuallererst aus Eurer eigenen Gewissenserforschung, aus innerer Reinigung und geistlicher Erneuerung kommen. Die Menschen Irlands erwarten zu Recht, daß Ihr Männer Gottes seid, daß Ihr gottgefällig und einfach lebt und täglich nach persönlicher Umkehr strebt. Für sie seid Ihr – mit den Worten des heiligen Augustinus – Bischof; aber gemeinsam mit ihnen seid Ihr berufen, Christus nachzufolgen (vgl. Sermon 340,1). Ich ermahne Euch deswegen, Euer Verständnis von der Rechenschaftspflicht vor Gott zu erneuern, in der Solidarität mit Eurem Volk zu wachsen und die pastorale Sorge für alle Mitglieder Eurer Herde zu vertiefen. Besonders fordere ich Euch auf, achtsam zu sein auf die geistlichen und moralischen Bedürfnisse jedes einzelnen Eurer Priester. Gebt ihnen durch Euer eigenes Leben ein Beispiel, seit ihnen nahe, hört auf ihre Anliegen, bietet ihnen Ermutigung in dieser schwierigen Zeit und nährt die Flamme ihrer Liebe zu Christus und ihr Engagement für den Dienst an ihren Brüdern und Schwestern.
Auch die gläubigen Laien sollen ermutigt werden, ihren eigenen Beitrag zum Leben der Kirche zu leisten. Sorgt dafür, daß sie so ausgebildet sind, daß sie inmitten der modernen Gesellschaft deutlich und überzeugend Rechenschaft für das Evangelium geben können (vgl. 1 Petr 3,15) und noch besser am Leben und an der Sendung der Kirche mitarbeiten. Dies wird Euch wiederum helfen, glaubwürdige Leiter und Zeugen der erlösenden Wahrheit Christi zu werden.
12. An alle Gläubigen Irlands
Die Erfahrung eines jungen Menschen mit der Kirche sollte immer zu einer persönlichen und belebenden Begegnung mit Jesus Christus innerhalb einer liebenden und nährenden Gemeinschaft führen. In diesem Umfeld sollten junge Menschen ermutigt werden, zu ihrer vollen menschlichen und geistigen Reife heranzuwachsen, die hohen Ideale der Heiligkeit, der Nächstenliebe und der Wahrheit anzustreben und sich vom reichen Erbe der großen religiösen und kulturellen Tradition inspirieren zu lassen. In unserer zunehmend säkularisierten Gesellschaft, in der selbst wir Christen uns oft schwer tun, über die transzendente Dimension unserer Existenz zu sprechen, müssen wir neue Wege finden, jungen Menschen die Schönheit und den Reichtum der Freundschaft mit Christus in der Gemeinschaft der Kirche nahezubringen. Für die Bewältigung der gegenwärtigen Krise sind die Maßnahmen, um angemessen gegen Verbrechen von einzelnen vorzugehen, unerläßlich, aber sie allein reichen nicht aus: Wir brauchen eine neue Vision, um die gegenwärtige und die zukünftigen Generationen zu ermutigen, das Geschenk unseres gemeinsamen Glaubens wie einen Schatz zu bewahren. Wenn Ihr den Weg des Evangeliums geht, die Gebote befolgt und euer Leben immer enger nach dem Beispiel Jesu Christi gestaltet, werdet Ihr sicher die tiefe Erneuerung erfahren, die wir in dieser Zeit so dringend brauchen. Ich lade Euch ein, auf diesem Weg beharrlich voranzuschreiten.
13. Liebe Brüder und Schwestern in Christus, aus aufrichtiger Fürsorge für Euch alle wollte ich Euch in dieser schmerzvollen Zeit, in der die Zerbrechlichkeit des menschlichen Wesens so deutlich sichtbar geworden ist, diese Worte der Ermutigung und Unterstützung schreiben. Ich hoffe, daß Ihr darin ein Zeichen meiner geistlichen Nähe und meines Vertrauens auf Eure Fähigkeit erkennt, den Herausforderungen dieser Zeit dadurch zu begegnen, daß Ihr neue Inspiration und Kraft aus der den hochgeschätzten Traditionen Irlands schöpft: der Treue zum Evangelium, dem Ausharren im Glauben und der Beständigkeit im Streben nach Heiligkeit. In Solidarität mit Euch allen bete ich aufrichtig darum, daß mit Gottes Gnade die Wunden, unter denen so viele einzelne und Familien zu leiden haben, heilen und daß die Kirche in Irland eine Zeit des Neubeginns und der geistlichen Erneuerung erfahre.
14. Ich möchte Euch nun auch einige konkrete Initiativen zum Umgang mit dieser Situation vorschlagen.
Am Ende meiner Begegnung mit den irischen Bischöfen habe ich darum gebeten, daß diese Fastenzeit für das Gebet um die Ausgießung der Barmherzigkeit Gottes und der Geistesgaben der Heiligkeit und Stärke über die Kirche in Eurem Land genutzt wird. Ich lade Euch alle ein, daß dies für die Dauer eines Jahres, von jetzt bis Ostern 2011, die Intention eurer Freitagsopfer sei. Ich bitte Euch, Euer Fasten, Euer Gebet, Eure Schriftlesung und Eure Werke der Barmherzigkeit dafür aufzuopfern, daß Ihr die Gnade der Heilung und der Erneuerung für die Kirche in Irland erlangt. Ich ermutige Euch, das Sakrament der Versöhnung für Euch neu zu entdecken und häufiger die verwandelnde Kraft seiner Gnade zu nutzen.
Besonderes Augenmerk sollte auch auf die eucharistische Anbetung gelegt werden, und in jeder Diözese sollte es Kirchen oder Kapellen geben, die dafür zur Verfügung stehen. Ich bitte die Pfarreien, Seminare, Ordenshäuser und Klöster, Zeiten eucharistischer Anbetung zu organisieren, so daß alle daran teilnehmen können. Durch intensives Gebet vor dem wahrhaft gegenwärtigen Herrn könnt Ihr Wiedergutmachung leisten für die Sünden des Mißbrauchs, die so viel Schaden angerichtet haben. Gleichzeitig könnt Ihr so die Gnade neuer Stärke und ein tieferes Sendungsbewußtsein aller Bischöfe, Priester, Ordensleute und Gläubigen erflehen.
Ich bin zuversichtlich, daß diese Initiativen zu einer Neugeburt der Kirche in Irland in der Fülle von Gottes Wahrheit führen werden, denn es ist die Wahrheit, die uns frei macht (vgl. Joh 8,32).
Nach entsprechenden Beratungen und Gebet beabsichtige ich außerdem, eine Apostolische Visitation einiger Diözesen Irlands sowie von Seminaren und Ordensgemeinschaften durchzuführen. Die Vorbereitungen für die Visitation, die der Ortskirche auf ihrem Weg der Erneuerung helfen soll, werden in Zusammenarbeit mit den zuständigen Ämtern der Römischen Kurie und der irischen Bischofskonferenz getroffen. Die Einzelheiten werden zu gegebener Zeit mitgeteilt werden.
Ich schlage auch eine landesweite Mission für alle Bischöfe, Priester und Ordensleute vor. Es ist meine Hoffnung, daß Ihr durch die Erfahrung erprobter Prediger und Exerzitienbegleiter aus Irland und von außerhalb sowie durch das erneute Studium der Dokumente des Konzils, der liturgischen Riten von Weihe und Profeß und der neueren päpstlichen Lehrverkündigung zu einem tieferen Verständnis für Eure jeweilige Berufung kommt, um so die Wurzeln Eures Glaubens in Jesus Christus neu zu entdecken und aus dem Quell des lebendigen Wassers zu trinken, den er Euch durch seine Kirche anbietet.
In diesem Jahr der Priester vertraue ich Euch ganz besonders dem hl. Johannes Maria Vianney an, der ein reiches Verständnis des Mysteriums des Priestertums hatte. Er schrieb: »Der Priester hält den Schlüssel zu den Schätzen des Himmels in Händen: er ist es, der die Tür öffnet, er ist der Statthalter des guten Herrn, der Verwalter seiner Güter.« Der Pfarrer von Ars verstand sehr gut, wie überaus gesegnet eine Gemeinschaft ist, wenn ein guter und heiliger Priester für sie sorgt: »Ein guter Hirte, ein Hüter nach Gottes Herzen, ist der größte Schatz, den Gott einer Gemeinde schenken kann und eines der wertvollsten Geschenke göttlicher Gnade.« Auf die Fürsprache des hl. Johannes Maria Vianney möge das Priestertum in Irland neu lebendig werden und möge die ganze Kirche in Irland in der Wertschätzung für das große Geschenk des priesterlichen Dienstes wachsen.
An dieser Stelle möchte ich im voraus all jenen danken, die an der Aufgabe der Organisation der Apostolischen Visitation und der Mission beteiligt sein werden, sowie den vielen Männern und Frauen in ganz Irland, die schon heute für den Schutz von Kindern im kirchlichen Umfeld arbeiten. Seit der Zeit, als die Schwere und das Ausmaß des Problems des sexuellen Mißbrauchs an Kindern in katholischen Einrichtungen erstmals erfaßt wurde, hat die Kirche in vielen Teilen der Welt eine ungemein große Arbeit geleistet, um sich dem zu stellen und Abhilfe zu schaffen. Auch wenn keine Mühe gescheut werden sollte, die Verfahren weiter zu verbessern und auf den neuesten Stand zu bringen, bin ich doch ermutigt durch die Tatsache, daß die derzeitigen Sicherheitsvorkehrungen, die die Ortskirchen eingeführt haben, in einigen Teilen der Welt als nachahmenswertes Modell für andere Institutionen angesehen werden.
Ich möchte diesen Brief mit einem besonderen Gebet für die Kirche in Irland beenden, das ich Euch mit der Fürsorge eines Vaters für seine Kinder und der Zuneigung eines Mitchristen sende, der erschüttert und verletzt ist durch das, was in unserer geliebten Kirche geschehen ist. Wenn Ihr dieses Gebet in Euren Familien, Pfarreien und Gemeinschaften betet, möge die selige Jungfrau Maria jeden von Euch schützen und zu einer engeren Verbindung mit ihrem gekreuzigten und auferstandenen Sohn führen. Mit großer Zuneigung und unerschütterlichem Vertrauen auf Gottes Verheißung erteile ich Euch als Unterpfand der Stärke und des Friedens im Herrn von Herzen meinen Apostolischen Segen.
Aus dem Vatikan, 19. März 2010, am Hochfest des hl. Josef
BENEDICTUS PP. XVI
Gebet für die Kirche in Irland
Gott unserer Väter,
erneuere uns im Glauben, der unser Leben und unsere Rettung ist,
in der Hoffnung, die uns Vergebung und innere Erneuerung verheißt,
in der Liebe, die uns reinigt und unsere Herzen öffnet,
damit wir dich lieben und in dir jeden unserer Brüder und Schwestern.
Herr Jesus Christus,
hilf der Kirche in Irland, ihren seit jeher bestehenden Einsatz zu erneuern,
unsere jungen Menschen auf dem Weg der Wahrheit und der Güte,
der Heiligkeit und dem großzügigen Dienst an der Gesellschaft zu erziehen.
Heiliger Geist, Tröster, Beistand und Lenker,
erwecke einen neuen Frühling der Heiligkeit und des apostolischen Eifers
für die Kirche in Irland
Mögen unser Leid und unsere Tränen,
unser ernstes Bemühen, vergangene Untaten wieder gutzumachen,
und unsere fester Vorsatz der Besserung
in der Gnade reiche Frucht bringen
für die Vertiefung des Glaubens
in unseren Familien, Pfarrgemeinden, Schulen und Gemeinschaften,
für den geistlichen Fortschritt der irischen Gesellschaft
und das Wachsen in Liebe, Gerechtigkeit, Freude und Frieden
in der gesamten Menschheitsfamilie.
Dreieiniger Gott,
unter dem liebenden Schutz Mariens,
der Königin Irlands und unserer Mutter,
sowie des heiligen Patrick, der heiligen Brigitta und aller Heiligen,
vertrauen wir dir uns selbst, unsere Kinder,
und die Nöte der Kirche in Irland an.
Amen.
© Copyright 2010 - Libreria Editrice Vaticana
Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana