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ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
AN DIE TEILNEHMER EINES SEMINARS DER
KONGREGATION FÜR DAS KATHOLISCHE BILDUNGSWESEN
(FÜR DIE SEMINARE UND STUDIENEINRICHTUNGEN)

Clementina-Saal
Samstag, 1. April 2006

 

Herr Kardinal,
verehrte Brüder im Bischofs- und Priesteramt,
sehr geehrte Damen und Herren!

Ich freue mich, Sie zu empfangen und begrüße Sie alle herzlich, die Sie am Seminar mit dem Thema »Das kulturelle Erbe und die Werte der europäischen Universitäten als Grundlage der Attraktivität des europäischen Hochschulraums« teilnehmen. Sie kommen aus rund 50 europäischen Ländern, die sich am sogenannten »Bologna-Prozeß« beteiligen, zu dem auch der Heilige Stuhl seinen Beitrag angeboten hat. Ich grüße Kardinal Zenon Grocholewski, Präfekt der Kongregation für das Katholische Bildungswesen, der in Ihrem Namen freundliche und ehrerbietige Worte an mich gerichtet und mir zugleich die Ziele Ihres Treffens erläutert hat, und ich danke ihm, daß er diese Begegnung im Vatikan in die Wege geleitet hat, in Zusammenarbeit mit der Rektorenkonferenz der Päpstlichen Universitäten, der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, der UNESCO–CEPES, dem Europarat und unter der Schirmherrschaft der Europäischen Kommission. Einen besonderen Gruß richte ich an die Herren Minister und an die Vertreter der verschiedenen internationalen Körperschaften, die heute zugegen sein wollten.

Im Mittelpunkt Ihrer Reflexion stand in diesen Tagen der Beitrag, den die europäischen Universitäten mit ihrer langen und reichen Tradition leisten können, um das Europa des dritten Jahrtausends aufzubauen, wobei Sie der Tatsache Rechnung tragen, daß jede kulturelle Wirklichkeit gleichzeitig Erinnerung an die Vergangenheit und Projekt für die Zukunft ist. Zu dieser Reflexion will die Kirche ihren Beitrag leisten, so wie sie es im Laufe der Jahrhunderte bereits getan hat. Sie hat nämlich beständig Sorge getragen für die Studienzentren und die Universitäten Europas, die mit dem »Dienst des Denkens« die Werte eines besonderen kulturellen Erbes an die jungen Generationen weitergegeben haben und weitergeben. Dieses Erbe wird bereichert durch zwei Jahrtausende humanistischer und christlicher Erfahrung (vgl. Ecclesia in Europa, 59). Anfangs besaß das Mönchtum beachtlichen Einfluß, und seine Verdienste weiteten sich über den geistlichen und religiösen Bereich hinaus auch auf den wirtschaftlichen und intellektuellen Bereich aus. Zur Zeit Karls des Großen wurden mit dem Beitrag der Kirche richtige Schulen gegründet, wobei es der Wunsch des Kaisers war, daß sie der größtmöglichen Anzahl von Menschen zugute kommen sollte.

Einige Jahrhunderte später entstand die Universität, die von der Kirche einen wesentlichen Impuls erhielt. Zahlreiche europäische Universitäten, von der Universität von Bologna bis hin zu den Universitäten von Paris, Krakau, Salamanca, Köln, Oxford und Prag, um nur einige zu nennen, entwickelten sich rasch und spielten eine wichtige Rolle bei der Konsolidierung der Identität Europas und bei der Herausbildung seines Kulturgutes. Die universitären Einrichtungen waren stets gekennzeichnet von ihrer Liebe zur Gelehrsamkeit und ihrer Suche nach der Wahrheit als dem wahren Zweck der Universität, wobei sie stets Bezug nahmen auf die christliche Sichtweise, die im Menschen das Meisterwerk der Schöpfung erkennt, da er als Abbild Gottes geschaffen ist (vgl. Gen 1, 26–27). Diese Sichtweise war stets von der Überzeugung geprägt, daß eine tiefe Einheit besteht zwischen dem Wahren und dem Guten, zwischen den Augen des Geistes und denen des Herzens: »Ubi amor, ibi oculos«, sagte Richard von Saint-Victor (vgl. Benjamin minor, Kap. 13): Die Liebe macht sehend. Die Universität ist aus der Liebe zum Wissen entstanden, aus der Neugier heraus, die Welt und den Menschen kennenzulernen, zu wissen, was die Welt ist und was der Mensch ist. Sie ist aber auch aus einem Wissen entstanden, das zum Handeln führt, das letztendlich zur Liebe führt.

Sehr verehrte Damen und Herren, mit einem raschen Blick auf den »alten« Kontinent läßt sich leicht feststellen, welchen kulturellen Herausforderungen Europa heute gegenübersteht in seinem Bemühen um die Wiederentdeckung seiner Identität, die nicht nur wirtschaftlicher und politischer Natur ist. Die grundlegende Frage gestern wie heute ist die anthropologische Frage. Was ist der Mensch? Woher kommt er? Wohin soll er gehen? Wie soll er gehen? Es heißt also zu klären, welche Auffassung vom Menschen den neuen Entwürfen zugrunde liegt. Und Sie fragen sich zu Recht, im Dienst welches Menschen, welches Menschenbildes die Universität stehen will: im Dienst eines Individuums, das sich verschanzt, um einzig und allein seine eigenen Interessen zu verteidigen, Interessen, die nur aus einem einzigen Blickwinkel heraus betrachtet werden, einem materialistischen Blickwinkel, oder im Dienst einer Person, die offen ist gegenüber der Solidarität mit den anderen, auf der Suche nach dem wahren Sinn des Daseins, der ein gemeinschaftlicher Sinn sein muß, der den einzelnen Menschen übersteigt. Darüber hinaus fragt man sich, welche Beziehung zwischen der menschlichen Person, der Wissenschaft und der Technik besteht. Wenn im 19. und 20. Jahrhundert die Technik ein erstaunliches Wachstum erfahren hat, so wurden zu Beginn des 21. Jahrhunderts weitere Schritte gemacht: Die technologische Entwicklung hat dank der Informatik auch einen Teil unserer Denkvorgänge übernommen, was Folgen hat, die unsere Denkweise einbeziehen und unsere Freiheit selbst in Abhängigkeit bringen können. Es muß mit Nachdruck gesagt werden, daß der Mensch niemals wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften geopfert werden kann und darf: Aus diesem Grund erscheint die sogenannte anthropologische Frage in ihrer ganzen Bedeutung. Wir, die Erben der humanistischen Tradition, die auf christliche Werte gegründet ist, müssen diese Frage im Lichte der Grundsätze angehen, die unserer Zivilisation zugrunde liegen und die in den europäischen Universitäten authentische Arbeitsstätten der Forschung und der Vertiefung gefunden haben.

»Aus der biblischen Auffassung vom Menschen hat Europa das Beste seiner humanistischen Kultur entnommen« – bemerkte Johannes Paul II. in seinem Nachsynodalen Schreiben Ecclesia in Europa – »und nicht zuletzt die Würde der Person als Quelle unveräußerlicher Rechte gefördert«. Und mein verehrter Vorgänger fügte hinzu: »Auf diese Weise hat die Kirche … zur Verbreitung und Konsolidierung jener Werte beigetragen, die die europäische Kultur zu einer Weltkultur gemacht haben« (Nr. 25). Aber der Mensch kann sich selbst nicht vollkommen verstehen, wenn er Gott nicht in Betracht zieht. Das ist der Grund, warum die religiöse Dimension der menschlichen Existenz in dem Moment, in dem man Hand anlegt, das Europa des dritten Jahrtausends aufzubauen, nicht vernachlässigt werden darf. Hier kommt die besondere Rolle der Universitäten als wissenschaftliches Universum und nicht nur als Miteinander unterschiedlicher Spezialgebiete zum Vorschein: In der gegenwärtigen Lage wird von ihnen verlangt, daß sie sich nicht damit zufriedengeben, nur auszubilden und technische und berufliche Kenntnisse zu vermitteln, die wichtig, aber nicht ausreichend sind. Sie müssen sich ebenso dafür einsetzen, eine gewissenhafte erzieherische Rolle im Dienst der jungen Generationen zu übernehmen, indem sie sich auf das Erbe an Idealen und Werten berufen, die die vergangenen Jahrtausende geprägt haben. Die Universität wird auf diese Weise Europa helfen können, seine »Seele« zu bewahren und wiederzufinden, indem es jene christlichen Wurzeln, die sie hervorgebracht haben, neu belebt.

Sehr verehrte Damen und Herren, Gott möge Ihre Arbeit und Ihren Einsatz zugunsten so vieler junger Menschen, in die Europa seine Hoffnung setzt, fruchtbar machen. Ich begleite diesen Wunsch mit der Versicherung eines besonderen Gebets für jeden von Ihnen und erbitte für alle den göttlichen Segen.

 

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