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ANSPRACHE VON BENEDICT XVI.
AN DIE VIERTE GRUPPE DER BISCHÖFE BRASILIENS
(REGION SUL 1)
ANLÄSSLICH IHRES «AD-LIMINA»-BESUCHES


Samstag, 14. November 2009

   

Herr Kardinal,
liebe Erzbischöfe und
Bischöfe Brasiliens!

Im Mittelpunkt eures Besuches »ad limina Apostolorum« seid ihr heute im Haus des Nachfolgers Petri zusammengekommen, der euch alle, liebe Bischöfe der Region Sul 1 im Staat São Paulo, mit offenen Armen empfängt.

Dort befindet sich jenes bedeutende Aufnahme- und Evangelisierungszentrum, das Heiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida, wo ich mich zu meiner Freude im Mai 2007 zur Eröffnung der V. Generalkonferenz des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik aufgehalten habe. Ich spreche den Wunsch aus, daß der damals gesäte Same wirksame Früchte für das geistliche und auch soziale Wohl der Bevölkerung dieses hoffnungsvollen Kontinents, der geliebten brasilianischen Nation und eures Bundesstaates bringen möge. Sie »haben das Recht auf ein erfülltes Leben unter menschlicheren Verhältnissen, wie es den Kindern Gottes zukommt: frei von den Bedrohungen durch Hunger und jeglicher Form von Gewalt« (Eröffnungsansprache, 13. Mai 2007, 4). Noch einmal möchte ich für all das danken, was mit so großer Freigebigkeit verwirklicht wurde, und meinen herzlichen Gruß an euch und an eure Diözesen erneuern, wobei ich in besonderer Weise an die Priester, die Ordensmänner, Ordensfrauen und die gläubigen Laien denke, die euch bei der Arbeit der Evangelisierung und christlichen Belebung der Gesellschaft helfen.

Euer Volk hegt in seinem Herzen ein starkes religiöses Gefühl und edle, im Christentum verwurzelte Traditionen, die in tiefempfundenen und unverkennbaren religiösen und zivilen Bekundungen Ausdruck finden. Es handelt sich um ein an Werten reiches Erbe, das ihr – wie eure Berichte beweisen und worauf Bischof Nelson Westrupp in seinem soeben in eurem Namen an mich gerichteten Grußwort hingewiesen hat – zu bewahren, zu verteidigen, zu verbreiten, zu vertiefen und zu beleben trachtet. Während ich mich über all das herzlich freue, fordere ich euch auf, mit dieser beständigen und methodischen Evangelisierungsarbeit in dem Bewußtsein fortzufahren, daß die echte christliche Gewissensbildung für ein tiefes Glaubensleben und auch für das soziale Reifen und das wahre und gerechte Wohlergehen der menschlichen Gemeinschaft entscheidend ist.

Tatsächlich muß eine menschliche Gruppe, um die Bezeichnung Gemeinschaft zu verdienen, in ihrer Organisation und in ihren Zielsetzungen den grundlegenden Bestrebungen des Menschen entsprechen. Es ist daher nicht übertrieben zu behaupten, daß ein glaubwürdiges soziales Leben im Gewissen jedes einzelnen beginnt. Da das gut gebildete Gewissen zur Verwirklichung des wahren Wohls des Menschen führt, erleuchtet die Kirche durch die Klarstellung, was dieses Wohl eigentlich ist, den Menschen und versucht durch das ganze christliche Leben sein Gewissen zu erziehen. Die Lehre der Kirche findet durch ihren Ursprung – Gott –, ihren Inhalt – die Wahrheit – und ihren Stützpunkt – das Gewissen – einen tiefen und überzeugenden Widerhall im Herzen jedes Menschen, des gläubigen und selbst des nicht glaubenden. Konkret, »das Evangelium vom Leben ist nicht ausschließlich für die Gläubigen da: es ist für alle da. Die Frage des Lebens und seiner Verteidigung und Förderung ist nicht alleiniges Vorrecht der Christen. Auch wenn es vom Glauben außerordentliches Licht und Kraft empfängt, gehört es jedem menschlichen Gewissen, das sich nach der Wahrheit sehnt und um das Schicksal der Menschheit bedacht und besorgt ist… Das ›Volk für das Leben‹ wird immer zahlreicher und die neue Kultur der Liebe und Solidarität kann zum wahren Wohl der Gesellschaft der Menschen wachsen« (Enzyklika Evangelium vitae, 25. März 1995, 101).

Verehrte Brüder, sprecht zum Herzen eures Volkes, weckt die Gewissen, vereint die Willensäußerungen in einer gemeinsamen Aktion gegen die zunehmende Welle der Gewalt und die Mißachtung des Menschen. Dieser ist von einem in der liebevollen Vertraulichkeit der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau empfangenen Geschenk Gottes zu etwas geworden, das als ein rein menschliches Produkt angesehen wird. »Der wichtigste und entscheidende Bereich der kulturellen Auseinandersetzung zwischen dem Absolutheitsanspruch der Technik und der moralischen Verantwortung des Menschen ist heute die Bioethik, wo auf radikale Weise die Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung selbst auf dem Spiel steht. Es handelt sich um einen äußerst heiklen und entscheidenden Bereich, in dem mit dramatischer Kraft die fundamentale Frage auftaucht, ob sich der Mensch selbst hervorgebracht hat, oder ob er von Gott abhängt. Die wissenschaftlichen Entdeckungen auf diesem Gebiet und die Möglichkeiten technischer Eingriffe scheinen so weit vorangekommen zu sein, daß sie uns vor die Wahl zwischen den zwei Arten der Rationalität stellen: die auf Transzendenz hin offene Vernunft oder die in der Immanenz eingeschlossene Vernunft« (Enzyklika Caritas in veritate, 29. Juni 2009, 74). In provokatorischer Weise fordert Ijob die unvernünftigen Wesen auf, ihr Zeugnis abzugeben: »Doch frag nur die Tiere, sie lehren es dich, die Vögel des Himmels, sie künden es dir. Rede zur Erde, sie wird dich lehren, die Fische des Meeres erzählen es dir. Wer wüßte nicht bei alledem, daß die Hand des Herrn dies gemacht hat? In seiner Hand ruht die Seele allen Lebens und jeden Menschenleibes Geist« (Ijob 12,7–10). Die Überzeugung der rechten Vernunft und die Gewißheit des Glaubens, für den das Leben des Menschen von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod Gott und nicht dem Menschen gehört, verleiht ihm jenen heiligmäßigen Charakter und jene persönliche Würde, die die einzige zulässige und moralisch korrekte Haltung hervorruft, nämlich die Haltung der tiefen Achtung. Denn der Herr des Lebens hat gesagt: »… für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder… Denn als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht« (Gen 9,–6).

Meine lieben und verehrten Brüder, wir dürfen uns bei unserem Appell an das Gewissen niemals entmutigen lassen. Wir wären keine getreuen Jünger unseres göttlichen Meisters, wenn wir es nicht fertigbrächten, in allen, auch in den schwierigsten Situationen, »an unserer Hoffnung gegen alle Hoffnung« festzuhalten (vgl. Röm 4,18). Arbeitet weiter für den Sieg der Sache Gottes, nicht mit dem traurigen Gemüt dessen, der nur Mängel und Gefahren sieht, sondern mit dem festen Vertrauen dessen, der weiß, daß er auf den Sieg Christi zählen kann. Mit dem Herrn auf unaussprechliche Weise verbunden ist Maria, die ihrem Sohn, dem Sieger über Sünde und Tod, ganz gleichgestaltet ist. Durch die Fürsprache Unserer Lieben Frau von Aparecida erflehe ich von Gott für euch und für eure unmittelbaren Mitarbeiter Licht, Trost, Kraft, Eindringlichkeit bei den Vorsätzen und ihren Umsetzungen und erteile euch gleichzeitig von Herzen einen besonderen Apostolischen Segen, den ich auf alle Gläubigen jeder Gemeinde der Diözese ausweite.

 

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