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VESPER ZUM 500. JAHRESTAG DER VOLLENDUNG DES DECKENFRESKOS
DER SIXTINISCHEN KAPELLE

ANSPRACHE VON PAPST BENEDIKT XVI.

Sixtinische Kapelle
Mittwoch, 31. Oktober 2012

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Verehrte Mitbrüder,
liebe Brüder und Schwestern!

Mit dieser Liturgiefeier der Ersten Vesper des Hochfestes Allerheiligen gedenken wir der feierlichen Handlung, mit der Papst Julius II. vor 500 Jahren das Deckenfresko dieser Sixtinischen Kapelle eingeweiht hat. Ich danke Kardinal Bertello für seine an mich gerichteten Worte und begrüße alle Anwesenden herzlich.

Warum sollte man eines derartigen historisch-künstlerischen Ereignisses in einer Liturgiefeier gedenken? Vor allem weil die Sixtina ein liturgischer Raum ist, sie ist die Cappella magna des Apostolischen Palastes im Vatikan. Und auch, weil die Kunstwerke, die sie schmücken, insbesondere die Freskenzyklen, in der Liturgie sozusagen ihr vitales Ambiente finden, den Kontext, in dem sie am besten ihre ganze Schönheit, ihren ganzen Reichtum und ihre Bedeutungsfülle zum Ausdruck bringen. Es ist, als würde im Rahmen der liturgischen Handlung die gesamte Symphonie der Gestalten zum Leben erweckt, sicherlich im spirituellen Sinn, aber untrennbar davon auch ästhetisch, denn die Wahrnehmung der künstlerischen Form ist ein typisch menschlicher Akt und umfaßt als solcher sowohl die Sinne als auch den Geist. Kurz gesagt: Die Sixtinische Kapelle, die im Gebet betrachtet wird, ist noch schöner, noch authentischer; sie offenbart sich in ihrem ganzen Reichtum.

Hier lebt, erklingt alles in der Berührung mit dem Wort Gottes. Wir haben den Abschnitt aus dem Hebräerbrief gehört: »Ihr seid […] zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, zu Tausenden von Engeln, zu einer festlichen Versammlung… « (12,22). Der Verfasser richtet sich an die Christen und erklärt, daß sich für sie die Verheißungen des Alten Testaments erfüllt haben: ein Fest der Gemeinschaft, deren Mittelpunkt Gott ist und Jesus, das geopferte und auferstandene Lamm (vgl. V. 23–24). Diese Dynamik der Verheißung und ihrer Erfüllung sehen wir hier auf den Fresken an den Längswänden dargestellt, Werke der großen umbrischen und toskanischen Maler der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Und wenn der biblische Text fortfährt mit den Worten, daß wir hinzugetreten sind »zur Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind; zu Gott, dem Richter aller, zu den Geistern der schon vollendeten Gerechten« (V. 23), dann erhebt sich unser Blick zu Michelangelos Jüngstem Gericht, wo der blaue Hintergrund des Himmels, dessen Farbe im Mantel der Muttergottes wiederaufgenommen wird, der insgesamt sehr dramatischen Vision Licht und Hoffnung verleiht: »Christe, redemptor omnium, / conserva tuos famulos, / beatae semper Virginis / placatus sanctis precibus« – lautet die erste Strophe des lateinischen Hymnus dieser Vesper. Und genau das ist es, was wir sehen: Christus, der Erlöser, im Zentrum, umgeben von Heiligen, und neben ihm Maria, in der Haltung flehender Fürbitte, gleichsam als wolle sie das furchtbare Urteil mildern. Aber heute abend richtet sich unsere Aufmerksamkeit vor allem auf das große Deckenfresko, das Michelangelo im Auftrag von Julius II. in ungefähr vier Jahren, von 1508 bis 1512, vollendet hat. Der große Künstler, bereits berühmt durch seine bildhauerischen Meisterwerke, nahm das Unternehmen in Angriff, mehr als 1.000 Quadratmeter verputzter Fläche zu bemalen, und wir können uns vorstellen, daß die Wirkung auf diejenigen, die das Werk zum ersten Mal vollendet sahen, wirklich beeindruckend gewesen sein muß.

Von diesem immensen Fresko aus ging auf die italienische und europäische Kunstgeschichte so etwas wie »ein mächtiger Bergstrom« nieder, »befruchtend und verwüstend zugleich«, wird Wölfflin 1899 unter Verwendung einer schönen und mittlerweile berühmt gewordenen Metapher sagen: nichts sollte so bleiben wie zuvor. Giorgio Vasari schreibt in einem berühmten Abschnitt aus seinem Künstlerleben sehr eindrücklich: »Dieses Werk war und ist wahrlich die Leuchte unserer Kunst, die der Kunst der Malerei so viel Nutzen und Licht geschenkt hat, daß es ausreichend war, um die Welt zu erleuchten.« Leuchte, Licht, erleuchten: drei Worte Vasaris, dem Herzen derer nahe, die an jenem 31. Oktober 1512 bei der Vesper zugegen waren. Aber es handelt sich hier nicht nur um Licht, das von der weisen kontrastreichen Verwendung der Farbe ausgeht oder von der Bewegung, die das Meisterwerk Michelangelos beseelt, sondern von der Idee, die die große Decke durchzieht: es ist das Licht Gottes, das die Fresken und die ganze päpstliche Kapelle erhellt. Jenes Licht, das mit seiner Macht das Chaos und die Dunkelheit besiegt, um Leben zu schenken: in der Schöpfung und in der Erlösung. Und die Sixtinische Kapelle erzählt diese Geschichte des Lichts, der Befreiung, des Heils, sie spricht von der Beziehung Gottes zur Menschheit. Mit der genialen Decke von Michelangelo wird der Blick angeregt, die Botschaften der Propheten durchzugehen, zu denen sich die heidnischen Sybillen in der Erwartung Christi gesellen, bis hin zum Anfang von allem: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (Gen 1,1). Mit einzigartiger Ausdruckskraft zeichnet der große Künstler Gottvater, sein Handeln, seine Macht, um klar zu sagen, daß die Welt nicht von der Dunkelheit, dem Zufall, dem Absurden hervorgebracht wird, sondern einer Vernunft entstammt, einer Freiheit, einem höchsten Akt der Liebe. In jener Begegnung zwischen dem Finger Gottes und dem des Menschen nehmen wir den Kontakt zwischen Himmel und Erde wahr; in Adam tritt Gott in eine neue Beziehung zu seinem Geschöpf, der Mensch steht in direkter Beziehung zu ihm, er ist von ihm gerufen, er ist nach dem Bild Gottes geschaffen, ihm ähnlich.

Zwanzig Jahre später wird Michelangelo im Jüngsten Gericht das große Gleichnis des Weges der Menschheit abschließen, indem er den Blick auf die Erfüllung dieser Wirklichkeit der Welt und des Menschen lenkt, auf die endgültige Begegnung mit Christus, dem Richter der Lebenden und der Toten. Heute abend hier in der Sixtinischen Kapelle zu beten, eingehüllt in die Geschichte Gottes mit dem Menschen, die in den Fresken über uns und um uns wunderbar dargestellt ist, ist eine Einladung zum Lobpreis, eine Einladung, mit allen Heiligen die Worte des Gesangs der Apokalypse zu Gott, dem Schöpfer, Erlöser und Richter der Lebenden und der Toten, zu erheben: »Amen, halleluja! […] Preist unseren Gott, all seine Knechte und alle, die ihn fürchten, Kleine und Große! […] Halleluja! […] Wir wollen uns freuen und jubeln und ihm die Ehre erweisen« (19,4.5.7a). Amen.

 



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