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BOTSCHAFT VON PAPST FRANZISKUS
ZUM 107. WELTTAG DES MIGRANTEN UND FLÜCHTLINGS 2021

[26. September 2021]

 

„Auf dem Weg zu einem immer größeren Wir

 

Liebe Brüder und Schwestern!

In der Enzyklika Fratelli tutti hatte ich eine Sorge und einen Wunsch geäußert, die weiterhin einen wichtigen Platz in meinem Herzen einnehmen: »Ist die Gesundheitskrise einmal überstanden, wäre es die schlimmste Reaktion, noch mehr in einen fieberhaften Konsumismus und in neue Formen der egoistischen Selbsterhaltung zu verfallen. Gott gebe es, dass es am Ende nicht mehr „die Anderen“, sondern nur ein „Wir“ gibt« (Nr. 35).

So kam mir der Gedanke, die Botschaft zum 107. Welttag des Migranten und Flüchtlings unter das Motto „Auf dem Weg zu einem immer größeren Wir“ zu stellen, um auf diese Weise eine klare Perspektive für unseren gemeinsamen Weg in dieser Welt aufzuzeigen.

Die Geschichte des „Wir“

Diese Perspektive erscheint bereits im göttlichen Schöpfungsplan: »Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch« (Gen 1,27-28). Gott schuf uns als Mann und Frau, als unterschiedliche und komplementäre Wesen, auf dass wir gemeinsam zu einem Wir werden, das mit jeder neuen Generation weiter wächst. Gott hat uns nach seinem Bild geschaffen, nach dem Bild seines einen und dreifaltigen Seins, Gemeinschaft in Vielfalt.

Als sich der Mensch aufgrund seines Ungehorsams von Gott entfernt hatte, eröffnete Gott in seiner Barmherzigkeit einen Weg der Versöhnung. Dieses Angebot erging nicht an einzelne Individuen, sondern an ein Volk, an ein Wir, das die ganze Menschheitsfamilie, alle Völker umfassen soll: »Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein« (Offb 21,3).

Sowohl am Anfang als auch am Ende der Heilsgeschichte steht also ein Wir, und im Zentrum steht das Geheimnis Christi, der gestorben und auferstanden ist, damit »alle eins seien« (vgl. Joh 17,21). Heute sehen wir jedoch, dass jenes gottgewollte Wir zerbrochen und zersplittert, verwundet und entstellt ist. Und in den Zeiten größerer Krisen, wie jetzt während der Pandemie, wird dies besonders deutlich. Ein verbohrter und aggressiver Nationalismus (vgl. Fratelli tutti, 11) und ein radikaler Individualismus (vgl. ebd., 105) zerbröckeln oder spalten das Wir, sowohl in der Welt als auch innerhalb der Kirche. Und den höchsten Preis zahlen diejenigen, die besonders schnell als Andere gelten: die Ausländer, die Migranten, die Ausgegrenzten, all jene, die an den existentiellen Rändern leben.

In der Tat sitzen wir alle im selben Boot, und wir sind aufgerufen, uns dafür einzusetzen, dass es keine Mauern mehr gibt, die uns trennen, dass es nicht mehr die Anderen gibt, sondern nur noch ein Wir, das die ganze Menschheit umfasst. Deshalb nutze ich diese Gelegenheit des heutigen Welttags zu dem zweifachen Appell, gemeinsam den Weg zu einem immer umfassenderen Wir zu beschreiten, wobei ich mich zunächst an die katholischen Gläubigen und dann an alle Männer und Frauen in der Welt wende.

Eine immer katholischere Kirche

Für die Glieder der katholischen Kirche bedeutet dieser Appell konkret, sich darum zu bemühen, dem eigenen Katholisch-Sein immer mehr gerecht zu werden und das zu verwirklichen, was der heilige Paulus der Gemeinde von Ephesus empfohlen hatte: »Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung in eurer Berufung: ein Herr, ein Glaube, eine Taufe« (Eph 4,4-5).

Die Katholizität der Kirche, ihre Universalität, ist nämlich eine Realität, die zu allen Zeiten angenommen und gelebt werden will, so wie es dem Willen und der Gnade des Herrn entspricht, der versprochen hat, immer bei uns zu sein, bis zum Ende der Welt (vgl. Mt 28,20). Sein Geist befähigt uns, eine alle umfassende Gemeinschaft in der Vielfalt zu bilden und dabei die Unterschiede in Einklang zu bringen, was niemals zu einer entpersönlichenden Uniformität führen darf. In der Begegnung mit der Vielfalt der Fremden, der Migranten, der Flüchtlinge und im interkulturellen Dialog, der daraus entstehen kann, haben wir die Möglichkeit, als Kirche zu wachsen und uns gegenseitig zu bereichern. Tatsächlich ist jeder Getaufte, wo auch immer er oder sie sich befinden mag, mit vollem Recht Glied der örtlichen kirchlichen Gemeinschaft, Glied der einen Kirche, Bewohner des einen Hauses, Teil der einen Familie.

Die katholischen Gläubigen sind gerufen, sich ausgehend von ihrer jeweiligen Gemeinschaft dafür einzusetzen, dass die Kirche immer inklusiver wird und so dem Auftrag gerecht wird, den Jesus Christus den Aposteln anvertraut hat: »Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben« (Mt 10,7-8).

Heute ist die Kirche gerufen, hinauszugehen an die existenziellen Peripherien und sich um die zu kümmern, die verwundet sind, und die zu suchen, die sich verirrt haben. Das soll ohne Vorurteile oder Ängste und ohne Proselytismus geschehen, sondern mit der Bereitschaft, alle offen aufzunehmen. Unter den am Rande stehenden Menschen sind viele Migranten und Flüchtlinge, Vertriebene und Opfer von Menschenhandel, denen der Herr durch uns seine Liebe zeigen und sein Heil verkünden will. »Die gegenwärtigen Migrationsflüsse [stellen] einen neuen missionarischen „Horizont“ dar, eine hervorragende Gelegenheit, Jesus Christus und sein Evangelium zu verkündigen, ohne das eigene Umfeld zu verlassen, und den christlichen Glauben in Liebe und tiefer Achtung gegenüber den anderen religiösen Ausdrucksformen zu bezeugen. Die Begegnung mit Migranten und Flüchtlingen anderer Konfessionen und Religionen ist ein fruchtbarer Boden für die Entwicklung eines aufrichtigen und bereichernden ökumenischen und interreligiösen Dialogs« (Ansprache an die Nationaldirektoren für Migrantenpastoral, 22. September 2017).

Eine immer inklusivere Welt

An alle Männer und Frauen in der Welt appelliere ich, sich gemeinsam auf den Weg zu einem immer größeren Wir zu begeben und die Menschheitsfamilie wieder neu zusammenzubringen, um gemeinsam eine Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden aufzubauen und dafür zu sorgen, dass niemand außen vor bleibt.

Die Zukunft unserer Gesellschaften ist eine „bunte“ Zukunft, reich an Vielfalt und interkulturellen Beziehungen. Aus diesem Grund müssen wir heute lernen, in Harmonie und Frieden zusammenzuleben. Besonders lieb geworden ist mir die Szene, wie das Volk von Jerusalem an Pfingsten, dem „Tauftag“ der Kirche, unmittelbar nach der Herabkunft des Heiligen Geistes die Verkündigung der Heilsbotschaft vernimmt: »Parther, Meder, und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadokien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Kyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber – wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden« (Apg 2,9-11).

Dies ist das Ideal des neuen Jerusalem (vgl. Jes 60; Offb 21,3), wo alle Völker in Frieden und Harmonie vereint Gottes Güte und die Wunder der Schöpfung rühmen. Aber um dieses Ideal zu erreichen, müssen wir alle im Bewusstsein einer tiefen gegenseitigen Verbundenheit danach streben, die Mauern einzureißen, die uns trennen, und Brücken zu bauen, die eine Kultur der Begegnung fördern. In dieser Hinsicht geben uns die gegenwärtigen Migrationsbewegungen die Möglichkeit, unsere Ängste zu überwinden und uns von den vielen unterschiedlichen Gaben bereichern zu lassen. Dann können wir, wenn wir es denn wollen, die Grenzen in besondere Orte der Begegnung verwandeln, wo sich das Wunder eines immer umfassenderen Wir ereignen kann.

Ich bitte alle Männer und Frauen in der Welt, die Gaben, die der Herr uns anvertraut hat, gut einzusetzen, um seine Schöpfung zu bewahren und noch schöner zu machen. »Ein Mann von vornehmer Herkunft wollte in ein fernes Land reisen, um die Königswürde für sich zu erlangen und dann zurückzukehren. Er rief zehn seiner Diener zu sich, verteilte unter sie zehn Minen und sagte: Macht Geschäfte damit, bis ich wiederkomme« (Lk 19,12-13). Der Herr wird von uns Rechenschaft über unser Tunverlangen! Damit aber sichergestellt ist, dass unserem gemeinsamen Haus eine angemessene Sorge zuteilwird, müssen wir ein immer umfassenderes Wir werden und Mitverantwortung übernehmen – in der festen Überzeugung, dass alles, was man der Welt an Gutem tut, der gegenwärtigen und den zukünftigen Generationen zugutekommt. Es geht dabei um eine persönliche und kollektive Anstrengung zugunsten aller weiterhin notleidenden Brüder und Schwestern und um den Versuch, eine nachhaltigere, ausgewogenere und inklusivere Entwicklung zu erreichen. Dieses Engagement macht keinen Unterschied zwischen Einheimischen und Fremden, zwischen Einwohnern und Gästen, denn es geht um einen gemeinsamen Schatz, um den sich ausnahmslos alle kümmern und von dem ausnahmslos alle profitieren sollen.

Der Traum beginnt

Der Prophet Joël sagte die messianische Zukunft als eine Zeit der vom Heiligen Geist eingegebenen Träume und Visionen voraus: »Ich werde meinen Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben und eure jungen Männer haben Visionen« (3,1). Wir sollen gemeinsam träumen. Wir dürfen keine Angst haben zu träumen, gemeinsam zu träumen als eine einzige Menschheit, als Gefährten auf dem gleichen Weg, als Söhne und Töchter dieser einen Erde, die unser gemeinsames Haus ist und wo wir alle Schwestern und Brüder sind (vgl. Enzyklika Fratelli tutti, 8).

Gebet

Heiliger und geliebter Vater,
dein Sohn Jesus lehrte uns,
dass im Himmel große Freude herrscht,
wenn jemand, der verloren war,
wiedergefunden wird,
wenn jemand, der ausgeschlossen, abgelehnt oder verworfen wurde,
wieder in unser Wir aufgenommen wird,
das auf diese Weise größer und größer wird.

Wir bitten dich: Gewähre allen Jüngern Jesu
und allen Menschen guten Willens die Gnade,
deinen Willen in der Welt zu tun.
Segne jede Geste des Willkommens und der Hilfe,
welche einen jeden im Exil Lebenden
wieder in das Wir des gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens integriert,
damit unsere Erde so werden kann,
wie du sie geschaffen hast:
das gemeinsame Haus aller Brüder und Schwestern. Amen.

Rom, Sankt Johannes im Lateran, am 3. Mai 2021, Fest der Heiligen Apostel Philippus und Jakobus.
 

Franziskus



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