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JOHANNES PAUL II.

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 23. Mai 1984

DE  - ES  - IT

1. Während des Heiligen Jahres habe ich die Behandlung des Themas „Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan“ unterbrochen. Ich möchte dieses Thema nun mit mehreren Überlegungen vor allem zur Lehre von „Humanae vitae“ abschließen, wobei ich einige Betrachtungen über das Hohelied der Liebe und das Buch Tobit vorausschicke. Mir scheint nämlich, dass meine Darlegungen in den kommenden Wochen gleichsam die Krönung dessen sind, was ich bereits ausgeführt habe.

Das Thema der ehelichen Liebe, die Mann und Frau vereint, verbindet gewissermaßen diesen Teil der Bibel mit der Gesamtüberlieferung der „großen Analogie“, die durch die Schriften der Propheten in das Neue Testament und insbesondere in den Epheserbrief (vgl. Eph 5,21–33) eingeflossen ist, dessen Erklärung ich zu Beginn des Heiligen Jahres unterbrochen habe.

Das Hohelied ist zum Gegenstand zahlloser exegetischer Studien, Kommentare und Hypothesen geworden. In Bezug auf seinen anscheinend profanen Inhalt waren die Einstellungen verschieden: Während man einerseits häufig von seiner Lektüre abriet, war es andererseits eine Quelle, aus der die größten mystischen Schriftsteller schöpften, und die Verse des Hohenliedes sind in die Liturgie der Kirche aufgenommen worden.[1]

Wohl nötigt uns die Textanalyse dieses Buches, seinen Inhalt außerhalb des Bereichs der großen prophetischen Analogie anzusiedeln; dennoch kann er unmöglich von der Wirklichkeit des Ursakraments getrennt werden. Man kann ihn nur im Zusammenhang der ersten Kapitel der Genesis als Zeugnis vom Anfang neu lesen, jenem Anfang, auf den Christus in dem entscheidenden Gespräch mit den Pharisäern Bezug genommen hat (vgl. Mt 19,4). [2]

Das Hohelied liegt mit Sicherheit auf der Linie jenes Sakraments, in dem durch die Sprache des Leibes das sichtbare Zeichen der Teilhabe von Mann und Frau am Bund der Gnade und Liebe gesetzt wird, den Gott dem Menschen anbietet. Das Hohelied zeigt den Reichtum dieser Sprache, deren ersten Ausdruck wir bereits in Gen 2,23–25 haben.

2. Bereits die ersten Verse des Hohenliedes führen uns unmittelbar in die Atmosphäre des ganzen Gedichts ein, in dem Braut und Bräutigam sich in dem von der Strahlkraft der Liebe gezeichneten Kreis zu bewegen scheinen. Die Worte der Brautleute, ihre Bewegungen und Gesten entsprechen den Regungen der Herzen. Nur im Licht dieser Regungen lässt sich die Sprache des Leibes begreifen, in der die Entdeckung des ersten Mannes jener Frau gegenüber sich verwirklicht, die „als eine Hilfe, die ihm entsprach“ (vgl. Gen 2,20 und 23) geschaffen und auch dem biblischen Text zufolge aus einer seiner „Rippen“ entnommen worden war. („Rippe“ könnte auch Herz bedeuten.)

Diese Entdeckung, bereits aufgrund des 2. Kapitels der Genesis analysiert, kleidet sich im Hohenlied in den ganzen Reichtum der Sprache menschlicher Liebe. Was im 2. Kapitel der Genesis (Verse 23–25) nur mit wenigen, einfachen und wesentlichen Worten ausgedrückt worden war, wird hier zu einem ausführlichen Dialog oder vielmehr zu einem Duett entwickelt, in dem sich die Worte des Bräutigams mit denen der Braut verflechten und einander ergänzen. Die ersten Worte des Mannes in der Genesis (2,23) beim Anblick der von Gott geschaffenen Frau drücken Staunen und Bewunderung, ja das Gefühl der Bezauberung aus. Und eine ähnliche Bezauberung, die Staunen und Bewunderung ist, durchströmt noch viel reicher die Verse des Hohenliedes vom Anfang bis zum Ende der Dichtung wie eine ruhige und gleichmäßige Woge.

3. Selbst eine allgemeine Analyse des Textes des Hohenliedes lässt uns in jener gegenseitigen Bezauberung die Sprache des Leibes wahrnehmen. Sowohl Ausgangs- wie Endpunkt dieser Bezauberung – des gegenseitigen Staunens und der Bewunderung – sind nämlich das Frausein der Braut und das Mannsein des Bräutigams in der unmittelbaren Erfahrung ihrer Sichtbarkeit. Die von beiden gesprochenen Liebesworte konzentrieren sich also auf den Leib, nicht nur, weil er an sich Quelle der gegenseitigen Bezauberung ist, sondern vor allem, weil auf ihm direkt und unmittelbar jene Anziehungskraft für die andere Person, für das andere weibliche oder männliche Ich beruht, die im Herzen Liebe hervorruft.

Zudem bewirkt die Liebe eine besondere Erfahrung des Schönen, die sich auf das Sichtbare konzentriert, aber zugleich die ganze Person einbezieht. Die Erfahrung des Schönen bringt das Gefallen aneinander hervor.

„Du schönste der Frauen…“ (Hld 1,8), sagt der Bräutigam, und darauf wie ein Echo die Worte der Braut: „Braun bin ich, doch schön, ihr Töchter Jerusalems“ (Hld 1,5). Die Worte des männlichen Entzückens kehren in allen fünf Gesängen des Gedichts wieder, und gleichsam ein Widerhall darauf sind die Worte der Braut.

4. Es handelt sich um bildliche Ausdrücke, die uns heute überraschen mögen. Viele von ihnen sind dem Leben der Hirten entnommen; andere scheinen auf den königlichen Stand des Bräutigams hinzudeuten. [3] Die Analyse dieser poetischen Sprache sei den Fachleuten überlassen. Schon die Verwendung der Bildsprache zeigt, wie sehr in unserem Fall die Sprache des Leibes in der ganzen sichtbaren Welt Rückhalt und Bestätigung sucht. Es handelt sich ohne Zweifel um eine Sprache, die zugleich mit dem Herzen und mit den Augen des Bräutigams – und zwar im Augenblick besonderer Hinwendung auf das ganze weibliche Ich der Braut – neu gelesen werden muss.

Dieses Ich spricht zu ihm durch jeden weiblichen Zug und ruft jenen Seelenzustand hervor, den wir als Bezauberung oder Entzücken bezeichnen können. Dieses weibliche Ich drückt sich gleichsam wortlos aus; doch die wortlos ausgedrückte Sprache des Leibes findet reichen Widerhall in den Worten des Bräutigams, in seiner poetischen, von Leidenschaft und Bildern erfüllten Sprache, die von der Erfahrung des Schönen, von einer Liebe des Wohlgefallens zeugen. Wenn die Bilder des Hohenliedes für dieses Schöne eine Analogie in den Dingen der sichtbaren Welt suchen (in dieser Welt, die die eigentliche Welt des Bräutigams ist), so scheinen sie gleichzeitig auf die Unzulänglichkeit jedes einzelnen dieser Bilder hinzuweisen. „Alles an dir ist schön, meine Freundin; kein Makel haftet dir an“ (Hld 4,7): Mit dieser Wendung beendet der Bräutigam sein Lied, wobei er alle Bilder beiseitelässt, um sich an jene Einzige zu wenden, durch deren Sprache des Leibes das eigentlich Weibliche und die ganze Persönlichkeit Ausdruck zu finden scheint.

Wir wollen die Analyse des Hohenliedes bei der nächsten Generalaudienz fortsetzen.

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Liebe Brüder und Schwestern!

Mit der heutigen Generalaudienz möchte ich wieder ein Thema aufgreifen, das ich zu Beginn des Heiligen Jahres unterbrochen habe. Es ist das Thema der menschlichen Liebe im Heilsplan Gottes. Ich beginne heute mit einigen Überlegungen über das „Hohelied der Liebe“. Dieses besingt in dichterischer Form die bräutliche Liebe zwischen Mann und Frau in ihrer tiefen, personalen Dimension. Die menschliche Liebe wird zum Gleichnis für den Liebesbund, den Gott dem Menschen in Christus geschenkt hat. In ihren Worten, Bewegungen und Gesten bekunden Braut und Bräutigam ihre Freude, Bewunderung und Zuneigung, die sie als Mann und Frau voreinander empfinden. In vielfältigen Bildern preisen sie die leibliche Schönheit und den Zauber**, der** von ihr ausgeht. Die Liebe befähigt zu einer besonderen Erfahrung des Schönen, die sich zwar auf das Sichtbare, Körperliche konzentriert, in der sich aber zugleich Mann und Frau in ihrem vollen personalen Menschsein begegnen.

Mit diesen einleitenden Überlegungen Grüße ich sehr herzlich alle heutigen Audienzteilnehmer aus den Ländern deutscher Sprache; besonders den großen Pilgerzug aus der Diözese Osnabrück unter der Leitung des Herrn Weihbischofs Kettmann; ebenso die Pilgergruppe der ”Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln“. Einen brüderlichen Willkommensgruß richte ich auch an die anwesenden evangelischen Pfarrer vom Pfarrseminar des Evangelischen Landeskirche Württemberg. Allen Pilgern und Besuchern erbitte ich den Geist der göttlichen Liebe, der in unsere Herzen ausgegossen ist und in dem wir Gott unseren Vater nennen dürfen. Zugleich erteile ich euch und allen euren Lieben daheim von Herzen meinen besonderen Apostolischen Segen.

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[1] „Das Hohelied muss daher einfach als das genommen werden, was es tatsächlich ist: ein menschliches Liebeslied.“ Dieser Satz von J. Winandy OSB bringt die Überzeugung einer immer größeren Zahl von Exegeten zum Ausdruck (J. Winandy, Le Cantique des cantiques. Poème d’amour mué en écrit de Sagesse, Maredsous 1960, S. 26).

M. Dubarle fügt hinzu: „Die katholische Exegese, die sich bisweilen auf den natürlichen Sinn der biblischen Texte für Abschnitte von großer dogmatischer Bedeutung berufen hat, sollte im Falle des Hohenliedes davon nicht leichtsinnig abrücken.“ Unter Bezugnahme auf den Satz von G. Gerleman fährt Dubarle fort: „Das Hohelied preist die Liebe des Mannes und der Frau, ohne damit irgendein mythologisches Element zu verbinden, sondern indem es diese Liebe einfach auf ihrer Ebene und in ihrer Besonderheit betrachtet. Mit eingeschlossen ist dabei – ohne didaktischen Nachdruck – das Äquivalent des jahwistischen Glaubens (denn die Sexualkräfte waren nicht unter den Schutz fremder Gottheiten gestellt und wurden auch nicht Jahwe selbst zugeschrieben, der diesen Bereich zu übersteigen schien). Die Dichtung stand also in stillschweigendem Einklang mit den Grundüberzeugungen des Glaubens Israels.

Dieselbe offene, objektive, nicht ausgesprochen religiöse Haltung gegenüber der leiblichen Schönheit und der geschlechtlichen Liebe findet sich beim Jahwisten. Diese verschiedenen Ähnlichkeiten zeigen, dass das kleine Buch in der Gesamtheit der biblischen Bücher nicht so isoliert ist, wie manchmal behauptet wurde“ (A.-M. Dubarle, Le Cantique des Cantiques dans l’exégèse récente, in: Aux grands carrefours de la Révélation et de l’exégèse de l’Ancien Testament, Recherches bibliques VIII, Louvain 1967, S. 149, 151).

[2] Das schließt natürlich nicht die Möglichkeit aus, über eine „vollere Bedeutung“ des Hohenliedes zu sprechen.

Vgl. z. B.: „Die Liebenden in der Ekstase der Liebe scheinen als einzige handelnde Personen das ganze Buch einzunehmen und zu erfüllen… Deshalb bestreitet Paulus nicht den tatsächlichen und unmittelbaren Sinn der Worte, die sich auf die menschliche Ehe beziehen, wenn er die Worte der Genesis liest: ‚Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein‘ (Eph 5,31); doch er fügt diesem ersten Sinn einen tieferen hinzu mit einer unmittelbaren Bezugnahme: ‚Dies ist ein großes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche‘ (Eph 5,32)…

Manche Leser des Hohenliedes sind leidenschaftlich darauf bedacht, aus seinen Worten unmittelbar eine körperfremde Liebe herauszulesen. Sie haben die Liebenden vergessen oder haben sie in Fiktionen, in intellektuelle Verschlüsselungen versteinert… haben die feinen allegorischen Entsprechungen in jedem Satz, Wort oder Bild vervielfältigt… Das ist nicht der richtige Weg. Wer nicht an die menschliche Liebe der Eheleute glaubt, wer um Verzeihung bitten muss für den Leib, hat nicht das Recht, sich zu Wort zu melden… Mit der Bestätigung der menschlichen Liebe hingegen lässt sich in ihr die Offenbarung Gottes entdecken“ (L. Alonso-Schökel, Cantico dei Cantici – Introduzione, in: La Bibbia, Parola di Dio scritta per noi. Testo ufficiale della CEI, Bd. Turin 1980, S. 425–427).

[3] Um die Aufnahme eines Liebesliedes in den biblischen Kanon zu erklären, haben bereits die jüdischen Exegeten der ersten Jahrhunderte n. Chr. im Hohenlied eine Allegorie der Liebe Jahwes zu Israel gesehen oder eine Allegorie der Geschichte des auserwählten Volkes, in dem diese Liebe offenbar wird; und das Mittelalter sah darin die Allegorie der göttlichen Weisheit und des Menschen, der sie sucht.

Die christliche Exegese dehnte seit den ersten Kirchenvätern diese Allegorie auf Christus und die Kirche aus (vgl. Hippolyt und Origenes) oder auf die Seele des einzelnen Christen (vgl. Gregor von Nyssa), oder auf Maria (vgl. Ambrosius), und auch auf ihre unbefleckte Empfängnis (vgl. Richard von St. Viktor). Der hl. Bernhard hat im Hohenlied einen Dialog des Wortes Gottes mit der Seele gesehen, und das führte zum Begriff der mystischen Hochzeit bei Johannes vom Kreuz.

Die einzige Ausnahme in dieser langen Tradition war im vierten Jahrhundert Theodor von Mopsuestia, der im Hohenlied ein Gedicht sah, das die menschliche Liebe Salomos zur Tochter des Pharao besingt.

Luther hingegen bezog die Allegorie auf Salomo und sein Königreich. In den letzten Jahrhunderten sind neue Hypothesen aufgetaucht. So hat man z. B. das Hohelied als ein Drama von der Treue einer Braut zu einem Hirten trotz aller Versuchungen gedeutet oder als eine Sammlung von Gesängen, die bei volkstümlichen oder mythisch-rituellen Hochzeitsfeiern vorgetragen wurden und sich auf den Adonis-Tammuz-Kult beziehen. Schließlich hat man im Hohenlied die Beschreibung eines Traumes sehen wollen, wobei man an die alten Vorstellungen von der Bedeutung der Träume wie auch an die Psychoanalyse erinnerte.

Im 20. Jahrhundert kehrte man zu den älteren allegorischen Traditionen zurück (vgl. Bea), indem man im Hohenlied wieder die Geschichte Israels sah (vgl. Jouon, Ricciotti) und einen entwickelten Midrasch (wie es Robert in seinem Kommentar nennt, der eine Summe der Interpretation des Hohenliedes darstellt).

Gleichzeitig jedoch hat man begonnen, das Buch in seiner offenkundigen Bedeutung als ein Preislied auf die natürliche menschliche Liebe zu lesen (vgl. Rowley, Young, Laurin). Der erste, der aufzeigte, auf welche Weise sich diese Bedeutung mit dem biblischen Text des 2. Kapitels der Genesis verbindet, war Karl Barth. Dubarle geht von der Voraussetzung aus, dass eine treue und glückliche menschliche Liebe dem Menschen die Merkmale der göttlichen Liebe offenbart, und Van den Oudenrijn sieht im Hohenlied den Antityp jener typischen Bedeutung, die im Epheserbrief 5,23 auftaucht. Murphy, der jede allegorische und metaphorische Deutung ausschließt, hebt hervor, dass die von Gott geschaffene und gesegnete menschliche Liebe sehr wohl Thema eines inspirierten biblischen Buches sein kann.

D. Lys stellt fest, dass der Inhalt des Hohenliedes zugleich sexuell und sakral ist. Wenn man vom zweiten Merkmal absieht, gelangt man dahin, das Hohelied als ein rein weltliches, erotisches Werk anzusehen, und wenn man das erste Merkmal leugnet, verfällt man in den Allegorismus. Nur wenn man diese beiden Aspekte zusammennimmt, ist es möglich, das Buch richtig zu lesen.

Neben den Werken der oben genannten Autoren – und besonders, was einen Entwurf der Geschichte der Exegese des Hohenliedes betrifft – vgl.:

• H. H. Rowley, The Interpretation of the Song of Songs, in: The Servant of the Lord and Other Essays on the Old Testament, London 1952, S. 191–233

• A.-M. Dubarle, Le Cantique des Cantiques dans l’exégèse de l’Ancien Testament, Recherches Bibliques VIII, Louvain 1967, S. 139–151

• D. Lys, Le plus beau chant de la création – Commentaire du Cantique des Cantiques, Lectio divina 51, Paris 1968, S. 31–35

• M. H. Pope, Song of Songs, The Anchor Bible, Garden City N.Y. 1977, S. 113–234