JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 25. Juni 1986
1. Wie bei der vorigen Katechese wollen wir auch heute eingehend aus den Überlegungen schöpfen, die das Zweite Vatikanische Konzil dem Thema der geschichtlichen Situation des heutigen Menschen gewidmet hat, der einerseits von Gott dazu berufen wurde, die Schöpfung zu beherrschen und sie sich untertan zu machen, und andererseits als Geschöpf selber der liebenden Gegenwart Gottes, des sorgentragenden Vaters und Schöpfers, unterworfen ist.
Mehr als früher ist der Mensch heute besonders empfänglich für die Größe und Eigenständigkeit seiner Aufgabe als Erforscher und Beherrscher der Kräfte der Natur.
Er muss jedoch feststellen, dass es eine schwerwiegende Behinderung in der Entwicklung und im Fortschritt der Welt gibt. Sie besteht in der Sünde und dem Widerstand, den sie mit sich bringt, also im sittlichen Übel. Von dieser Situation gibt die Konzilskonstitution Gaudium et spes umfassendes Zeugnis.
So stellt das Konzil folgende Überlegung an: „Obwohl in Gerechtigkeit von Gott begründet, hat der Mensch unter dem Einfluss des Bösen gleich von Anfang der Geschichte an durch Auflehnung gegen Gott und den Willen, sein Ziel außerhalb Gottes zu erreichen, seine Freiheit missbraucht“ (GS 13). Deshalb die unvermeidliche Folge, dass „der menschliche Fortschritt, der ein großes Gut für den Menschen ist, freilich auch eine große Versuchung mit sich bringt: Dadurch, dass die Wertordnung verzerrt und Böses mit Gutem vermengt wird, beachten die einzelnen Menschen und Gruppen nur das, was ihnen, nicht aber, was den anderen zukommt. Daher ist die Welt nicht mehr der Raum der wahren Brüderlichkeit, sondern die gesteigerte Macht der Menschheit bedroht bereits diese selbst mit Vernichtung“ (GS 37).
Mit Recht ist sich der moderne Mensch der eigenen Rolle bewusst, „wird aber mit den Worten ,Autonomie der zeitlichen Dinge‘ gemeint, dass die geschaffenen Dinge nicht von Gott abhängen und der Mensch sie ohne Bezug auf den Schöpfer gebrauchen könne, so spürt jeder, der Gott anerkennt, wie falsch eine solche Auffassung ist. Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts… Überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich“ (GS 36).
2. Wir erinnern vor allem an einen Text, der uns die andere Dimension der geschichtlichen Entwicklung der Welt erfassen lässt, die das Konzil stets im Auge hat. In der Konstitution heißt es: „Der Geist Gottes, dessen wunderbare Vorsehung den Lauf der Zeiten leitet und das Antlitz der Erde erneuert, steht dieser Entwicklung bei“ (GS 26). Das Böse überwinden bedeutet zugleich den sittlichen Fortschritt des Menschen wollen, der die Würde des Menschen wahrt, und eine Antwort geben auf die wesentlichen Forderungen nach einer immer menschlicheren Welt. In dieser Sicht findet das Reich Gottes, das sich in der Geschichte entfaltet, gewissermaßen seinen „Stoff“ und die Zeichen seiner wirksamen Gegenwart.
Mit großer Klarheit hat das Zweite Vatikanische Konzil die ethische Bedeutung der Entwicklung betont, indem es aufzeigte, dass das ethische Ideal einer menschlicheren Welt mit der Lehre des Evangeliums im Einklang steht. Wenn es auch die Entwicklung der Welt klar von der Heilsgeschichte unterscheidet, versucht es gleichzeitig, die Bindungen, die zwischen ihnen bestehen, in ihrer ganzen Fülle aufzudecken: „Obschon der irdische Fortschritt eindeutig vom Wachstum des Reiches Christi zu unterscheiden ist, so hat er doch große Bedeutung für das Reich Gottes, insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann. Alle guten Erträgnisse der Natur und unserer menschlichen Bemühungen, nämlich die Güter menschlicher Würde, brüderlicher Gemeinschaft und Freiheit, müssen im Geist des Herrn und gemäß seinem Gebot auf Erden gemehrt werden; dann werden wir sie wiederfinden, gereinigt von jedem Makel, lichtvoll und verklärt, dann nämlich, wenn Christus dem Vater ,ein ewiges, allumfassendes Reich übergeben wird: das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens‘. Hier auf Erden ist das Reich schon im Geheimnis da; beim Kommen des Herrn erreicht es seine Vollendung“ (GS 39).
3. Das Konzil spricht die Überzeugung der Gläubigen aus, wenn es verkündet, dass „die Kirche anerkennt… was an Gutem in der heutigen gesellschaftlichen Dynamik vorhanden ist, besonders die Entwicklung hin zur Einheit, den Prozess einer gesunden Sozialisation und Vergesellschaftung im bürgerlichen und wirtschaftlichen Bereich. Forderung von Einheit hängt ja mit der letzten Sendung der Kirche zusammen, da sie ,in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit‘ ist… Die Kraft nämlich, die die Kirche der menschlichen Gesellschaft von heute mitzuteilen vermag, ist jener Glaube und jene Liebe, die sich in Tat und Wahrheit des Lebens auswirken, nicht aber irgendeine äußere, mit rein menschlichen Mitteln ausgeübte Herrschaft“ (GS 42). Aus diesem Grund entsteht eine tiefe Bindung und sogar eine Grundidentität zwischen den wichtigsten Bereichen der Geschichte und Entwicklung der „Welt“ und der Heilsgeschichte. Der Heilsplan schlägt in den realeren Bestrebungen und Zielsetzungen der Menschen und der Menschheit Wurzeln. Auch die Erlösung ist ständig auf den Menschen und auf die Menschheit „in der Welt“ ausgerichtet. Im Bereich dieser Bestrebungen und Zielsetzungen des Menschen und der Menschheit begegnet die Kirche immer der „Welt“. In gleicher Weise geht die Heilsgeschichte in den Strom der Weltgeschichte über und betrachtet diesen gewissermaßen als ihren eigenen. Und umgekehrt: Die wahren Errungenschaften des Menschen und der Menschheit, echte Siege in der Geschichte der Welt, sind auch „Substrat“ des Reiches Gottes auf Erden (vgl. Kard. Karol Wojtyła, Alle fonti del rinnovamento. Studio sull’attuazione del Concilio Vaticano II – An den Quellen der Erneuerung. Studie über die Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils, LEV, Vatikanstadt, 1981, 150–160).
4. In diesem Zusammenhang lesen wir in der Konstitution Gaudium et spes: „So wie das menschliche Schaffen aus dem Menschen hervorgeht, so ist es auch auf den Menschen hingeordnet… Ein Wachstum dieser Art ist, richtig verstanden, mehr wert als zusammengeraffter äußerer Reichtum. Der Wert des Menschen liegt mehr in ihm selbst als in seinem Besitz. Ebenso ist alles, was die Menschen zur Erreichung einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Brüderlichkeit und einer humaneren Ordnung der gesellschaftlichen Verflechtungen tun, wertvoller als der technische Fortschritt… Richtschnur für das menschliche Schaffen ist daher, dass es gemäß dem Plan und dem Willen Gottes mit dem echten Wohl der Menschheit übereinstimme und dem Menschen als Einzelwesen und als Glied der Gesellschaft gestatte, seiner ganzen Berufung nachzukommen und sie zu erfüllen“ (GS 35; vgl. auch Nr. 59). Im gleichen Dokument heißt es weiter: „Die gesellschaftliche Ordnung muss sich ständig weiterentwickeln, muss in Wahrheit gegründet, in Gerechtigkeit aufgebaut und von Liebe beseelt werden und muss in Freiheit ein immer humaneres Gleichgewicht finden. Um dies zu verwirklichen, sind Gesinnungswandel und weitreichende Änderungen in der Gesellschaft selbst notwendig“ (GS 26).
5. Die Anpassung an die Führung und das Wirken des Geistes Gottes in der Entwicklung der Geschichte erfolgt durch den ständigen Anruf und die konsequente und treue Antwort auf die Stimme des Gewissens: „Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen. Je mehr also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto mehr lassen die Personen und Gruppen von der blinden Willkür ab und suchen, sich nach den objektiven Normen der Sittlichkeit zu richten“ (GS 16).
Das Konzil erinnert realistisch an das Vorhandensein des radikalsten Hindernisses für den wahren Fortschritt des Menschen und der Menschheit in der gegebenen Situation des Menschen: an das moralische Übel, an die Sünde, infolge derer „der Mensch in sich selbst zwiespältig ist. Deshalb stellt sich das ganze Leben der Menschen, das einzelne wie das kollektive, als Kampf dar, und zwar als ein dramatischer, zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis. Ja, der Mensch findet sich unfähig, durch sich selbst die Angriffe des Bösen wirksam zu bekämpfen, so dass ein jeder sich wie in Ketten gefesselt fühlt“ (GS 13). Dieser Kampf des Menschen ist „ein Kampf, der schon am Anfang der Welt begann und nach dem Wort des Herrn (vgl. Mt 24,13; 13,24–30.36–43) bis zum letzten Tag andauern wird. Der einzelne Mensch muss, in diesen Streit hineingezogen, beständig kämpfen um seine Entscheidung für das Gute, und nur mit großer Anstrengung kann er in sich mit Gottes Gnadenhilfe seine eigene innere Einheit erreichen“ (GS 37).
6. Abschließend können wir sagen: Auch wenn das Wachstum des Reiches Gottes nicht mit der Entwicklung der Welt gleichzusetzen ist, so ist doch das Reich Gottes in der Welt und zuallererst im Menschen da, der in der Welt lebt und arbeitet. Der Christ ist sich bewusst, dass er mit seinem Einsatz für den Fortschritt der Geschichte und mit der Gnadenhilfe Gottes zum Wachsen des Reiches bis hin zur geschichtlichen und endzeitlichen Erfüllung des Planes der göttlichen Vorsehung beiträgt.
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Liebe Brüder und Schwestern!
In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute befasst sich das II. Vatikanische Konzil eingehend mit der Lage des Menschen in der modernen Gesellschaft. Mehr als früher ist der Mensch sich heute der Größe und Eigenständigkeit seiner Aufgabe als Erforscher und Beherrscher der Natur und ihrer Kräfte bewusst. Zugleich erfährt er aber auch die großen Widerstände und Schwierigkeiten, die sich jedem wahren Fortschritt in der Welt entgegenstellen und die letztlich im sittlichen Übel, in der Sünde, ihre Wurzel haben.
Der menschliche Fortschritt birgt in sich auch eine große Versuchung, nämlich die des egoistischen, selbstgenügsamen Missbrauchs, der Gottvergessenheit bis hin zur eigenen Selbstzerstörung. Dennoch ist das Konzil davon überzeugt, dass der Geist Gottes, dessen wunderbare Vorsehung den Lauf der Zeiten leitet und das Antlitz der Erde erneuert, auch der Entwicklung in der modernen Welt beisteht (vgl. GS 26). Es legt besonderen Wert auf die ethische Bedeutung der Entwicklung, indem es aufzeigt, wie das ethische Ideal von einer immer „menschlicheren“ Welt mit der Lehre des Evangeliums durchaus im Einklang steht. Wenn sich auch die Entwicklung der Welt von der Heilsgeschichte unterscheidet, so bestehen doch gleichzeitig vielfältige Verbindungen zwischen ihnen. Die Kirche erkennt deshalb an, „was an Gutem in der heutigen gesellschaftlichen Dynamik vorhanden ist, besonders die Entwicklung hin zur Einheit, den Prozess einer gesunden Sozialisation und die Vergesellschaftung im bürgerlichen und wirtschaftlichen Bereich“ (GS 42). Die echten Errungenschaften des Menschen und der Menschheit sind auch das „Substrat“ des Reiches Gottes auf Erden. Wichtig ist vor allem, dass sich die Ordnung und Entwicklung der Dinge auf Wahrheit und Gerechtigkeit gründen und von Solidarität und Liebe beseelt sind. Deshalb ist der Mensch ständig aufgerufen, sich gegen das Böse und für das Gute einzusetzen. Das Reich Gottes ist in der Welt, zuallererst aber im Menschen selber.
Herzlich grüße ich mit dieser kurzen Betrachtung alle anweseden Pilger deutscher Sprache. Ich erbitte euch Gottes Licht und Führung, damit ihr euch eurer Verantwortung als Christen in der Welt von heute neu bewußt werdet und das Wirken der Kirche zum Wohl der Menschen durch Gebet, Wort und Tat nach Kräften unterstützt. Von Herzen erteile ich euch meinen besonderen Apostolischen Segen.
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